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Mäuschen
Mäuschen... so hat er sie immer genannt.
„Mäuschen, bist du schon so besoffen, dass du es nicht mehr schaffst, das Frühstück zu machen?“
Sogar am letzten Tag war Mama noch sein Mäuschen.
„Du kannst nicht gehen, Mäuschen, was wärst du denn ohne mich? Eine Schnapsdrossel, die nichts anderes gelernt hat, als sich durchzubumsen!“
Dann hat er sie gepackt. Wie einen leeren Sack hat er sie geschüttelt und sie dann am Arm aus der Haustür gezerrt. Sie hat sich nicht gewehrt. Er hat ihr nicht geholfen, als sie auf dem gefrorenen Weg ausgerutscht ist. Er ist reingegangen, hat sie liegen lassen. Sie muss gefroren haben. Es war kalt. Ungewöhnlich kalt für Oktober. Trotzdem ist er reingegangen, hat die Tür abgeschlossen und ihr Essen gegessen. Er saß am Tisch, als sei nichts. Er muss gewusst haben, dass sie friert. Sie hatte nur die dünne Schürze über ihrem Pulli. Die, die er ihr mal geschenkt hat. Aber das war ihm egal. Vielleicht hat er nur gar nicht daran gedacht. Sie hat ja nichts gesagt. Sie hat nie etwas gesagt. Vielleicht war ihm auch nur wichtig, woher er eine Schachtel Kippen bekommt. Oder etwas anderes...
Wir haben uns nicht getraut, aufzuschließen. Nur unsere Bettdecken haben wir aus dem Fenster geworfen, damit sie es wenigstens nicht ganz so kalt hat, im Garten. Er hat erst wieder an sie gedacht, als ihn sein Hunger geweckt hat. Er hat nach ihr gebrüllt.
„Mäuschen!“
Erst danach ist ihm eingefallen, dass er sie im Garten gelassen hat. Aber als er rausging war sie weg. Er hat nach ihr geschrieen, hat getobt. Dann hat er sein Auto genommen und ist sie suchen gefahren. Er hat sie auch gefunden. Aber sie ist da geblieben, wo sie war. Er hat gebettelt, sie angerufen und in das Telefon gesäuselt. Es hat nichts genützt.
Drei Jahre ist das jetzt her. Solange schon spricht keiner mehr von Mama. Ich habe nichts von ihr. Kein Erinnerungsstück an sie. Außer ihren Namen. Jetzt bin ich sein Mäuschen.