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Machtspielchen
Sehnsüchtig wartete Jan auf das Erschallen der Pausenklingel. Der Unterricht wurde für ihn allmählich zu einer unerträglichen Last. Unentwegt starteten Geschwader von Papierfliegern zum Sturzflug auf seine Bank, und Salven von angefeuchteten Papierkügelchen fanden klebend ein Ziel in seinen struppigen Haaren. Dennoch empfand er dies als eine noch geringere Strafe, als jene, allein an seiner Bank inmitten des tobenden Klassenzimmers zu sitzen, und ohnmächtig auf Rettung durch die Hofpause zu hoffen. So konnten sie ihn von allen Seiten aus piesacken, wann immer ihnen langweilig wurde.
Seitdem der Neue in die Klasse gekommen war, und sich neben Jan gesetzt hatte, hatte sich vieles verändert.
Dieser war sitzengeblieben, und im Vergleich zu ihm und anderen viel größer und kräftiger. Nur schien er unendlich faul zu sein. Deshalb ärgerten es ihn um so mehr, von seinem Banknachbar nicht abschreiben zu können. Aus seiner Sicht schrieb Jan entweder zu undeutlich, musste immer im falschen Moment seinen Rücken vor ihm aufbauen, oder weigerte sich strikt, sein Arbeitsheft mit ihm zu teilen. Und weil ihm der Unterricht ohnehin zu abwechslungslos erschien, versuchte er etwas Schärfe hinein zu bringen. Als Drahtzieher stiftete er die anderen dazu an, seinen undankbaren Sitznachbarn mit allen Mitteln einzuschüchtern. Umgekehrt hatten diese Angst vor seiner Größe und Stärke, und handelten also bereitwillig nach seiner Aufforderung. Es kam dann die Zeit, nachdem der Neue sich an eine freie Bank gesetzt hatte, in der Jan an den Schulstunden keinen Spaß mehr fand. Die Anderen begannen, ihn zu kränken. Zuerst waren diese Schmähungen für ihn noch erträglich gewesen. "Muttersöhnchen" und "Schafskopf" riefen sie ihm da in den Rücken, und gaben ihm allerlei andere Tiernamen. Später schubsten sie ihn, und er bezog immer wieder Prügel. Wenn Jan auf seinem Stuhl kippelte, traten sie ihm das Beim weg, so dass er stürzte. Für jede denkbare Gelegenheit fanden sie Wege, ihn zu belästigen. Sie sorgten sogar dafür, dass die Mitschüler sich von ihm absonderten, indem sie ihnen andernfalls Schläge androhten. Jan selbst verlor dadurch seine Freunde, und seine Klassenkameraden mieden ihn, aus Furcht vor den anderen. Die gesamte Klasse verschwor sich gegen ihn.
Mittlerweile hatte er sich mit seiner Situation abgefunden. Sie kam ihm aussichtslos vor. Zunächst hatte er noch versucht, sich gegen seine Peiniger zu wehren, er prügelte sich sogar mit ihnen. Nur konnte er nicht verstehen, weshalb sie ihn eigentlich verabscheuten und quälten. Doch eines, daß begriff er recht schnell. Sowie er einer Lehrerin petzte, wurde alles noch viel schlimmer. Früher hatten sie ihn daraufhin in den Keller eingesperrt, und das Licht von außen gelöscht. Seine Rufe blieben ungehört, den ganzen Morgen lang. Erst als ein Mädchen aus der Klasse sich ein Herz fasste, und ihm die Tür aufsperren ließ, konnte er befreit werden.
Dieses Mädchen war die einzige Person, die sich mit Jan unterhielt. Genau wie allen anderen wurde auch ihr deutlich gemacht, ihn zu ignorieren. Aber sie war anders als die anderen. Sie ließ sich nicht unterdrücken. Sie begleitete ihn sogar von da an jeden Tag auf den Weg zur Schule. Er fragte sich oft, warum sie diese Bürde auf sich nahm, riskierte sie doch dadurch, von den anderen bedroht zu werden. In seiner Einfalt gelangte er jedesmal nur zu zwei möglichen Antworten : Trotz oder aber aufrichtige Zuneigung musste sie dazu bewegt haben, sich mit ihm einzulassen. Ihn ereilten Schuldgefühle. Am liebsten wäre es ihm gewesen, sie würde ihn unbeachtet lassen. Aber das konnte er sich selten eingestehen.
So entwickelte sich zwischen den beiden eine enge Freundschaft. Im Klassenraum aber war er stets auf sich allein gestellt, konnte und wollte nicht auf ihre Hilfe zählen, und falls doch, hätten sie ihn mit Sicherheit einen Schwächling genannt, der sich hinter einem Mädchen verstecke, und anschließend noch mehr gehasst. Wie er glaubte, führte kein Weg daran vorbei, es wie ein Mann zu ertragen - immerhin machten das ihm seine Eltern klar. Seine einziger Lichtblick war also der Beginn der Pause.
Das Schrillen der Klingel weckten in ihm wieder jene Lebensgeister, die er vor einigen Augenblicken noch in seinem Inneren vergraben hatte. Der Glanz kehrte in seine ehemals trübsinnigen Augen wieder, und die Aussicht auf eine ruhige, wenngleich kurze Zeit spannte sich wie ein weißes Tuch in ihm auf. In seinem freudigen Überschwang stürzte er beim Aufstehen beinahe den Tisch um.
Der Schulhof war für ihn eine Oase in einer öden, lebensfeindlichen Wüste. Das Gras wuchs überall in den saftigsten Grüntönen. Dort gab es zwar keine Palmen, aber riesige Buchen, deren gewaltiges Blattwerk gerade jetzt im Hochsommer angenehme Schatten auf den holprigen Boden sprenkelte, und deren weiche Rinde Platz für die geheimsten und unschuldigsten Liebesbekundungen bot. Hier konnte man sich in vielen Ecken unbeschwert zurückziehen, um allein oder in kleinen Grüppchen sein Pausenbrot zu verzehren. Der Hof versprach reichlich Möglichkeiten, sich der Obhut der Lehrer zu entziehen.
Jan sah wenig Sinn darin, sich zu verstecken. Sie hätten ihn sowieso entdeckt, und ihn dann ohne viel Aufsehen verprügeln können. Viel lieber nahm er deshalb am Fußballspiel der anderen teil. Beim Bolzen konnte er alle seine Sorgen abschütteln. Er war bedeutend schneller als sie, und am geschickten Führen des Balles konnte er selten von ihnen gehindert werden. Ungewöhnlich war, dass sie ihn jede Pause mitspielen ließen. Keiner wollte auf sein Können verzichten. Der Neue betrachtete das Ganze mit Argwohn. Aber letztlich konnte er sich nicht mit seinem Bestreben durchsetzen, ihn auszuschließen. Beim Fußballspiel folgte man anderen Regeln, als sonst in der Schule. Dementsprechend sah Jan das Fußballspielen gerne als eine Art Genugtuung an, und genoß es um so mehr, je stärker er den Leiden im Klassenraum ausgesetzt war.
Kaum daß er am Ball war, verfügte er nämlich über eine untrügliche Macht. Plötzlich zog er nicht mehr verhaßte, sondern bewundernde Blicke auf sich. Er spürte diese Gewalt. Wie die anderen fast schon flehentlich in ihren Blicken und Gesten den Ball von ihm forderten, und es in seinen Händen - vielmehr Füßen - lag, wem er dieses scheinbar weltbewegende, runde Ding zuschob, und wem nicht. Im Zuge dessen gewährte er wiederum anderen jene Macht, und steigerte so sein Machtgefühl zusätzlich. Er wußte also mit der Macht zu spielen.
Obwohl der Neue die Klasse bald wieder verlassen musste, weil seine Eltern wegzogen, hatten die anderen weiterhin ihren Spaß daran, ihn zu ärgern. Jan aber merkte zunehmend, dass sie dies aus geringerer Motivation taten, und sah eine gute Gelegenheit für sich, den Spieß umzudrehen und Rache zu nehmen. Dem Mädchen entging nicht, wie er sich zu verändern schien. In ihren Augen stülpte sich seine Entwicklung wie ein tiefschwarzer Schatten über ihre aufkeimende Zuneigung zu ihm, und drohte sie zu ersticken. Sie mochte in doch so sehr, als er noch Opfer, nicht Täter gewesen war.
Das Fußballspielen erweckte in ihm nach einiger Zeit ein neues Selbstbewußtsein. Es kam der Zeitpunkt, da er es satt hatte, ständig von den anderen geärgert zu werden. Also begegnete er ihnen von da an mit Ignoranz und Hohn. Er stellte sogar fest, dass sie von ihm abließen, sobald er ihnen androhte, am nächsten Tag nicht mitzuspielen. Mit dieser Drohung schien Jan sie beeinflussen zu können. Dann begann er, selbst die Fäden in die Hand zu nehmen, und erteilte den anderen seinerseits Anweisung, unliebsame Mitschüler zu unterdrücken. Die Macht verdarb ihn.
Eines Tages vor Schulbeginn wartete er wie gewöhnlich auf sie. Doch sie ließ sich nicht blicken, und das beunruhigte ihn sehr. Sonst war immer sie diejenige gewesen, die sich gedulden musste. Aber heute erschien sie einfach nicht. Er war ihr bereits auf halbem Wege, den sie immer gemeinsam zur Schule nahmen, entgegen gelaufen, als er abseits des Waldweges etwas sonderbares erblickte. Vor seinen Augen lachte ihm ein Fußball mitten ins Gesicht, welcher sich unter dem niedrigem Gezweig einer Lärche verborgen hielt. Aus irgendeinem Grund konnte er ihm nicht widerstehen. Er starrte den Ball an, und setzte seinen Ranzen ab. Dabei verlor er ihn nie aus den Augen. Es war nicht auszuschließen, dass dieser ihm entkommen könne. Zu einem kurzen Vergnügen wollte er ihn schließlich aufheben.
Doch Jan musste verraten worden sein. In dem Augenblick, da er den Ball ergriff, sprangen sie aus ihren Versteck. Er konnte sich nicht wehren, als sie ihn auf den feuchten Waldboden drückten, und durchprügelten. Sie übersäten ihn mit Dreck. Sie traten den Ball mehrmals mit voller Wucht gegen seinen Körper. So wollten sie ihm seine eigene Arroganz schmecken lassen. Irgendwann ließen sie dann von ihm ab. Er versuchte sich zu besinnen. Noch nie wurde er derart zusammengeschlagen. Er schlug die Augen wieder auf. Vor ihm kniete sie und weinte. Während er sich aufraffte, erschien ihm alles völlig klar. Nun wußte er, wer ihn verraten hatte.
Sie liefen eine Weile.
"Geht es dir wieder besser ?", fragte sie endlich, indem sie ihre Stimme in einen sanften Ton von Besorgnis und Anteilnahme eintauchte. "Es geht schon wieder", antwortete Jan, und blies dabei seinen Trübsal in einen langen Seufzer an seine Füße. "Wie bist du so schnell hierher gekommen ?", sagte er eher halblaut vor sich hin, anstatt ihr es ins Gesicht zu fragen. Er erwartete ohnehin eine Lüge als Antwort von ihr, und wollte sie nicht durch seinen Blickkontakt noch mehr verunsichern. "Ich hatte mir Sorgen gemacht. Du standest vorhin nicht am Treffpunkt."
Schweigend gingen sie den restlichen Weg zur Schule. Die eigene Scham schien ihnen unüberwindbar, und so bemühten sie sich, das Geschehene zu verdrängen. Er ließ sich nichts von seinen furchtbaren Verdacht anmerken. Die Stille aber, die gerade von ihm ausging, bestätigte sie in ihrer heimlichen Hoffnung, dass er wieder so sein werden würde wie früher.