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Nicht ins Gesicht

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08.11.2001
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Nicht ins Gesicht

Nicht ins Gesicht

Miriam sieht zu Boden. Die brennenden Finger noch quer über ihrem Gesicht. Wenn sie ihn jetzt ansieht, wird er noch einmal zuschlagen. Wenn sie es nicht tut, auch.
Einen Moment denkt sie an das, was sie Sarah am letzten Montag erzählt hat. Zum aller ersten Mal überhaupt.

Darüber wie Klaus am Wochenende ist. Wenn sein Verein verloren hat. Seine Stammkneipe eine neue Sorte Bier. Der verdammte Arsch im Mercedes ihn geschnitten hat, oder die Lottozahlen ihn schon wieder nicht reich gemacht haben.
Bei jedem einzelnen Wort in Sarahs Küche konnte sie spüren, wie die Tür sich Millimeter für Millimeter aufschob. Die Tür zur Hölle. Und sie war auf dem Weg dorthin. Unaufhaltsam.
Sarah sah sie an. Zuerst. Dann nicht mehr. Zum Schluss starrte sie nur noch auf die verblichenen Blümchen auf der Kaffeekanne. Gelegentlich schenkte sie nach, und schwieg.
Erst Minuten nachdem Miriam geendet hatte, konnte Sarah die Worte hervorbringen, die in ihrem Kopf im Kreis rasten.
"Warum verlässt du ihn nicht?"

Miriam zuckte die Schultern. Wie bei allen Fragen ohne Bedeutung.
"Warum bist du nicht schon vor Jahren gegangen?" Sarah ignorierte das scharfe Luftholen.
"Ich meine, es kam alles Stück für Stück. Da gab es keinen Punkt, an dem man seine Sachen packt. Irgendwie nie."
Sarah schenkte die fast vollen Tassen nach. Nur um Zeit zu gewinnen. Miriam kannte das nur zu gut. Wenn sie genügend Zeit gewinnen konnte, schlief er manchmal ein und vergaß.
"Im Ernst. Kein einziger Punkt, an dem ich gedacht hätte, dass es vorbei ist."
"Und was war", Sarah stockte, "mit den gebrochenen Rippen? Jedes einzelne Mal? Den Quetschungen? Den blauen Flecken? Nicht mal, als das mit dem Baby passiert ist?"
"Die Fehlgeburt?" Miriam zuckte zusammen. "Wie hätte ich ihn da verlassen können? Wo ich doch gerade unser Kind verloren hatte?"
"Er hat dir in den Bauch getreten, verdammt!"
"Na und?" In ihrem eigenen Kopf ergab das alles Sinn. Schemenhaft, aber es ergab Sinn. Sarah schien es dennoch nicht zu begreifen. Sie hätte es ihr nie erzählen dürfen.
Sie nahm einen Schluck Kaffee. Die verbrannte Zunge geschah ihr recht. Das war der Vorgeschmack auf die Hölle. Die Hölle der Verräter.
"Ich hätte es doch merken müssen." Miriam konnte nicht mitansehen, wie Sarah sich quälte. "Wir kennen uns schon über zwanzig Jahre! und nie hab ich was gemerkt. Nicht bei der Arbeit, nicht bei Euch zuhause. Warum hab ich es nicht gesehen?"
Miriam betete vor, was sie im Stillen schon tausend Mal gebetet hatte. "Er schlägt nie ins Gesicht."
"Aber ich hätte es wissen müssen."
"Wozu?"
"Um dir zu helfen!"
"Du hättest nichts tun können. Es geht weiter. Ganz gleichmäßig und ohne anzuhalten. Wie das Band in der Fabrik. Nur dass ich im wahren Leben keine Schrauben sortiere." Sie lachte bitter auf. Das wahre Leben.
"Wie kannst du nur so reden?"
"Wie denn?" Miriam war ehrlich erstaunt. Es war doch Sarah, die nichts verstand.
"So... ich weiß nicht... ergeben."
"Gewohnheit", die Ruhe, mit der sie es aussprach, erstaunte sie selbst.
"Ich hätt's dir gar nicht erst sagen sollen. Meine Güte ist das schon spät. Ich muss los, sonst werd ich mit dem Essen nicht mehr fertig, bis er heimkommt."
"Aber...", Sarahs Versuch verebbte fruchtlos, während Miriam aufstand.
"Ich muss los, wirklich."
"Du solltest ihn verlassen", rief Sarah ihr nach.
"Ja, verstehst du denn nicht? Er ist mein Mann." Damit hatte sie am Montag Sarahs Küche verlassen.

Auf dem Heimweg hatte sie ihr Mantra gemurmelt. "Er schlägt nicht ins Gesicht."
Sie war fest überzeugt. Würde er ins Gesicht schlagen, dann würde sie gehen. Könnte es nicht länger ertragen. Dann würde man die Spuren sehen und sie würde Erklärungen finden müssen.
Aber nach zwanzig Jahren Ehe zu gehen, diese Vorstellung erschreckte sie. Jung geheiratet, glückliches Traumpaar, beinahe ein Kind, und nach und nach der Alltag. Danach die Wochenenden. Sie erinnerte sich an all ihre vergangen Mantras.
Er schlägt mich nicht, aber ich bekomme keine blauen Flecken, aber morgen früh tut's nicht mehr weh, aber es ist nie was Schlimmes passiert, aber er hat mir noch nie was gebrochen.
Er schlägt nicht ins Gesicht.

Klaus schnaubt vor Wut und reißt sie aus ihren Gedanken. "Jetzt antworte!"
Miriam zuckt nur gelangweilt mit den Achseln. Wie bei jeder Frage ohne Bedeutung. Was ändert es schon, wenn sie antwortet.
Nicht einmal an die Frage kann sie sich erinnern. Worauf soll sie antworten? Was will er jetzt von ihr?
Hat er herausgefunden, dass sie ihn verraten hat? Hintergangen, betrogen, ausgeliefert? Wie kann er wissen, dass sie Sarah eingeweiht hat? Oder hat sie heute das Essen versalzen? Die Autoschlüssel verschlampt? Keine Batterien für die Fernbedienung besorgt? Es ist ohne Bedeutung.

Die flache Hand zieht neue Striemen auf ihre Wange.
Er schlägt nicht mit der Faust. Nicht ins Gesicht. Nicht mit der Faust ins Gesicht. Nicht mit der Faust ins Gesicht.
"Ich hab Sarah alles erzählt!" Gellender Triumph spricht aus ihren Worten. Jetzt ist es im Grunde auch egal, ob er es weiß. Sie hat die Tür geöffnet und die Hölle der Verräter aus freien Stücken betreten. Ihre Strafe steht geschrieben. In Stein gemeißelt. Jetzt kann es auch jeder wissen. Denn er schlägt ins Gesicht.
"Sie will, dass ich dich verlasse!"
Das kalte Blitzen in seinen Augen fängt Feuer. "Schlampe! Eher mach ich dich kalt!"
Er wird sein Versprechen wahrmachen. Wie alles, was er verspricht. Und sie hat es verdient. Aus freien Stücken ist sie durch die Tür getreten. Seine Schläge treffen hart und rhythmisch, ohne dass sie noch ausweicht. Es hat keinen weiteren Sinn. Still und leblos sinkt sie schließlich am Kühlschrank hinab.

Jetzt, fährt es ihr durch den Kopf, wird der eine Moment kommen, in dem ich verstehe. Hinter all dem hier steckt ein Sinn. Und in dieser einen Sekunde, zwischen der Welt und der Unterwelt kann sie ihre eine Frage stellen. Zwischen Küchenboden und ewiger Verdammnis.
"Warum?" Ihr Kopf steht in Flammen. Ruhiges, flackerndes Feuer, das ihren Verstand aufzehrt, bis alles vorbei ist.

Düüülüüü - düüdü
Düüülüüü - düüdü.
Bitte warten Sie!
Düüülüüü - düüdü.
Bitte warten Sie!

Miriam versucht zu blinzeln. Düüülüüü.
Sie will es nicht glauben. Eine Warteschleife. Jetzt und hier. Von der Ironie des Schicksals hat sie genug gehört. Das hier ist blanker Sarkasmus.

Bitte warten Sie!

Sie glaubt beinahe, Sarahs Stimme zu hören. Aber nur beinahe.

"W-A-R-U-M?" versucht sie herauszupressen, während sie fühlt, wie ihre blutige Zunge anschwillt.

Düüülüüü - düüdü.

Jetzt werden ihre letzten Atemzüge in einer Warteschleife des Schicksals einfach verhauchen. Unbemerkt. Krampfhaft versucht sie, sich aufzurichten. Aber sie hat sich nicht unter Kontrolle.
Eine Sekunde streift etwas über ihr Gesicht, wie Flügel. Dann wird ihr Atem leichter und sie beginnt zu schweben.
Düüülüüü - düüdü. Der Ton dringt tiefer in ihr schwindendes Bewusstsein.

Es wird noch einen Moment dauern.
Bitte warten Sie!
Ihr Anruf ist uns wichtig!
Sie werden umgehend mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden.
Zur Zeit sind alle Leitungen belegt.
Man wird sich sofort um sie kümmern.

"Warum?" Nur gehaucht, aber diesmal verlässt der Ton ihre Lippen.
"Sie lebt!" Sarahs Stimme überschlägt sich fast, dicht neben ihrem Kopf. "Ganz ruhig, Süße! Du bist im Krankenwagen und Klaus ist verhaftet!"
Noch immer das unwirkliche Düüülüüü. Aber auch tatsächlich Sarahs Stimme.
"Warum?", fragt sie noch einmal.
"Klaus hat dich zusammengeschlagen!"
Das weiß sie doch. Miriam will heftig den Kopf schütteln. Erfolglos. Das hat sie doch gar nicht gemeint.
Ein Mann in weißem Kittel beugt sich über sie. "Sie sollten nicht sprechen, Frau Clemens. Sie haben eine Kieferfraktur." Dann schiebt er die Sauerstoffmaske noch einmal zurecht.
Aber Miriam wehrt ab.
"Warum?"
"Weil er dich zusammengeschlagen hat."
"Nein", bringt sie unter Schmerzen hervor.
"Warum ist er verhaftet?"

 

hallo arc en ciel,

hab' gerade deine geschichte gelesen und wundere mich immer wieder wie gut du dich in die prot. rein versetzen kannst! wenn ich deine geschichten lese, sehe ich die bilder immer vor mir, echt!

großes lob!

viele grüße,

*ferni* :read:

 

Hm, ohne jetzt die Kritiken gelesen zu haben tippe ich mal, das eigentlich schon alles gesagt ist. Trotzdem möchte ich auch meinen Senf dazu geben: Du hast dich wirklich richtig gut eingefühlt in die Situation.
Besonders authentisch finde ich, wie du die Scham von Miriam beschreibst, ihre Unfähigkeit, zu handeln, und ihr ständiges bestreben, "nicht ins Gesicht" geschlagen zu werden. Um nichts erklären zu müssen. Warscheinlich ist das Gesicht auch die selbst gesetzte letzte Grenze. Davor gab es bestimmt viele kleine Grenzen, die inzwischen gefallen sind. Niemals Schlagen, ach, war doch nur eine kleine Ohrfeige, niemals fest schlagen, naja, was ist schon fest, keine ernsten verletzungen, naja, es war ein versehen, das wollte er bestimmt nicht. Hauptsache die Anderen bekommen nichts mit, hauptsache es entsteht kein Erklärungszwang, hauptsache man wird nicht bemitleidet. Hauptsache man muss sich nicht für seine eigene Schwäche schämen Nun ist auch diese letzte Grenze überschritten, und dein Ende deutet an, dass Miriam dies wieder einmal hinnehmen wird, wenn auch mit einem Unterschied: sie hat eine Mitwisserin. Vielleicht liegt hier ein kleines Fünkchen Hoffnung.
So, lange Rede, kurzer Sinn, dein Text hat mich sehr bewegt!
Gruß Susleyka

 

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