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Rana Plaza

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15.06.2016
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Rana Plaza

Der Raum – eine Halle von insgesamt sechs. Fünfhundert Nähmaschinen rattern. Im Hintergrund stampfen zwei Generatoren, dass der Betonfußboden bebt und die Arbeitsplatten vibrieren. Die Luft ist gesättigt von Schweiß und Maschinenöl, kein Hauch dringt von den Fenstern bis in die Mitte des Raumes, wo Tasrima sitzt, die Hände vor sich auf der Maschine, den Kopf gesenkt.

Tasrima näht. Ein winziges Dreieck aus Polyamid, das sie umsäumt. An den Ecken befestigt sie dünne, elastische Bändchen, deren Enden zum Schluss mit ein paar Kettstichen an einem Strass besetzten Plättchen angefügt werden. „G-String“ hat es der Instruktor genannt. Unterwäsche sei es, haben die anderen Frauen gesagt. Das hat sie, das Dorfmädchen, ihnen zunächst nicht recht glauben wollen. Aber sie muss es ja nicht tragen. Sie näht es nur. Und heute noch schneller als sonst.

Tasrima näht. Das bisschen Stoff unter ihren Händen ist glatt und weich. Das Plättchen mit den Glassteinchen würde sie gerne einmal ins Sonnenlicht halten, nur um zu sehen, wie es dann glitzert. Aber Tageslicht reicht von den Fenstern nicht bis zu ihrem Platz, geschweige denn ein Sonnenstrahl. Sie hat nicht mehr viel Sonne gesehen, seit sie mit Bhutum, ihrem Mann, vor wenigen Monaten nach Sabhar gezogen ist, der Arbeit wegen, die es im Dorf für beide nicht gegeben hat. Morgens dämmert es gerade erst, wenn Tasrima das Gebäude mit den Nähhallen betritt, abends glüht es im Westen bereits rot, wenn sie es verlässt. Nur gestern, da ist es anders gewesen, da haben sie die Arbeit schon am frühen Nachmittag beenden müssen. Die Polizei hat das Hochhaus räumen lassen, weil sich an den Wänden Risse gezeigt haben. Aber Tasrima hat da nicht an die Plättchen gedacht und hätte sich ohnehin nicht getraut, eines davon mit nach draußen zu nehmen. Jetzt streicht sie nur sanft, bedauernd mit dem Daumen darüber. Dann greift sie nach dem nächsten Stoffstückchen und drei Bändchen.

Tasrima näht. Der dünne Stoff windet sich unter dem Nähfuss. Die Nadel stößt zu, zieht sich zurück, stößt wieder zu. Immer und immer wieder das Harte ins Weiche. Tasrima denkt an Bhutum, der jetzt irgendwo in Sabhar hilft, Häuser zu bauen. Hochhäuser wie das, in dem sie jetzt sitzt und an ihn denkt. Sie senkt den Kopf noch tiefer, zieht schnell einen Zipfel des Saris vor ihr Gesicht. Der Aufseher soll sie nicht lächeln sehen. Denn wer lächelt, denkt nicht an die Arbeit. Und wer nicht an die Arbeit denkt, macht Fehler. Und Fehler dürfen sie heute nicht machen. Der Ausfall gestern ist zu lang gewesen. Das haben sich die Näherinnen vor Beginn der Arbeit heute anhören müssen. Dass sich die Firma mehr Ausfall nicht leisten kann. Dass es weniger Geld gibt, wenn die Arbeit nicht nachgeholt wird. Und für die, die das Gebäude nicht betreten wollen, werde es gar kein Geld geben. Und keine Arbeit mehr, nirgendwo in Sabhar.

Tasrima näht. Sie ist hineingegangen, obwohl das gespenstisch leere Erdgeschoss ihr zunächst Angst gemacht hat. In den Geschäften dort hat niemand gearbeitet. Aber sie ist nicht allein gewesen. Dreitausend Näherinnen haben sich durch das Treppenhaus in die höheren Etagen gezwängt, sie vor sich hergeschoben an den unverputzten Wänden vorbei. Keine Zeit, die Risse darin anzusehen. Den Finger in die fingerbreiten Ritzen zu stecken. Und in der Halle ist alles wie sonst gewesen. Das gleißende Neonlicht, das die Metallteile an den Maschinen funkeln lässt. Das Scharren und das Gemurmel, wenn fünfhundert Frauen sich setzen, sich begrüßen, das Nähgut zurechtlegen. Vielleicht am Anfang ein wenig verhaltener als an früheren Tagen. Aber jetzt, nach fast drei Stunden, hört Tasrima schon wieder das eine oder andere Scherzwort durch den Raum fliegen, ärgerlich unterbrochen von der Stimme des Aufsehers.

Tasrima näht. Es ist ein so winziges Teil, federleicht, sie kann es fast vollständig mit der Hand umschließen, es in der Faust verstecken. Obwohl sie fast zweitausend Stück am Tag davon herstellt, kann sie sich immer noch nicht recht vorstellen, wozu so viele davon gebraucht werden. Sie hat Bhutum davon erzählt, eines Abends, beim Schlafengehen. Mit Daumen und Zeigefingern hat sie die Größe des Dreiecks geformt, sich die Hände vor die Scham gehalten. Hat die Bändchen beschrieben und das Plättchen, das eng am Steißbein anliegen dürfte. Und Bhutum hat fasziniert zugehört, hat zuerst mit dem Finger, dann mit der Zunge den Verlauf der Bändchen nachgezeichnet auf ihrer nackten Haut. Hat mit seinen abgearbeiteten Händen sanft die Pobacken gestreichelt, die das seltsame Kleidungsstück, das seine Frau da zu nähen hat, nicht verhüllen, sondern hervorheben würde. In dieser Nacht sind die beiden jungen Eheleute zum ersten Mal seit Wochen nicht zu erschöpft gewesen, sich der Lust aneinander hinzugeben. Aber am nächsten Morgen hat wieder die Müdigkeit in ihren Gesichtern gesessen und die Angst, Tasrima könnte schwanger sein. Seither hat sie nicht mehr über ihre Arbeit gesprochen.

Tasrima näht. Ihr Fuß liegt auf dem Pedal, das die Drehzahl erhöht. Sie greift nach dem nächsten Plättchen, um damit drei Bänder zusammenzuschließen. Die Generatoren stampfen. Die Neonröhren zittern, werfen flackernde Schatten. Staub rieselt von der Decke. Tasrima schaut irritiert hoch, drückt mit dem Fuß nach unten, als die Wände zu schwanken beginnen, der Boden unter ihr nachgibt. Ihr erschrockener Ruf mischt sich mit den Schreien aus Tausenden von Kehlen.

Als sie sie nach zehn Tagen Suche aus den Trümmern ziehen, hält sie noch immer das Plättchen in der zerquetschten Hand. Ein Sonnenstrahl fällt durch das geborstene Dach. Nichts glitzert.

 

Hallo Ella,

also das ist ein sehr gelungener Text, den du da vorgelegt hast. Tasrima kann ich mir sehr gut vorstellen und du schaffst es, dass ich mit ihr fühle. Das staunende Unverstehen westlicher Dessous-Moden, die Drohungen des Aufsehers, die kindliche Naivität, die Tasrima eigen ist, all das gibt mir das Gefühl, dass du dich gut in Fremdes einfühlen kannst (Ich gehe davon aus, dass du weder Arbeiterin noch Aufseherin in einer solchen Näherei warst).

Mit der Faszination und der Neugier Tasrimas hast du einen guten Faden gesponnen, der die Geschichte bis zum Ende stark zusammenhält.

Toller erster Text, den ich hier von dir lese.

Grüße
Carlo

 

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