Ring des Bernhard
Ring des Bernhard
1)
My Love is like a red red Rose, That’s newly sprung in June; My love is like the Melodie, That’s sweetly play’d in tune.
Herr Bernhard nahm den Blumenstrauß vom Schreibtisch, atmete ihren Duft tief ein und drehte sich so elegant wie möglich zum großen Spiegel im Entree.
So fair art thou, my bonnie lass, So deep in Love am I; And I will love thee still, my dear, Till all the Seas gone dry.
Dass er schließlich den Mut aufgebracht hatte, Fräulein Simon zu einem Rendevouz für den heutigen Abend einzuladen, machte ihn fast ein bisschen stolz.
Er grüßte sein Spiegelbild mit einer galanten Verneigung.
Till all the Seas gone dry, my dear, And the rocks melt in the Sun: And I will love thee still, my dear,
While the Sands of Life shall run.
Er war doch nicht nur ein langweiliger Bank-Direktor, der außer Akten und Bankkurse nichts im Sinn hatte, oder für Anderes einen Sinn hatte. Abenteuer, Romantik und Poesie waren seine wahre Berufung, sein wahres Wesen. Und Leidenschaft.
And fare thee well, my only Love, And fare thee well, a while! And I will come again, my Love,
Tho’ it were ten thousand mile.
Herr Bernhard verabschiedete sich vom Büro, schloss die Tür hinter sich und ging singend den Flur zum Aufzug herunter.
2)
Als Herr Bernhard langsam die Augen aufschlug, brummte sein Schädel gewaltig.
Was war denn passiert? Wo war er denn überhaupt?
Er blinzelte gegen das grelle Licht.
Dann wurden ihm schlagartig die Ketten bewusst.
„Herr Bernhard! Bleiben Sie sitzen und hören Sie gut zu! Wir wollen doch nicht, dass Fräulein Simon etwas Ungutes passiert, wenn Sie verstehen, was ich meine...
Herr Bernhard erstarrte. Was? Wie? Warum? Fräulein Simon...
Das grelle Licht blendete und machte es unmöglich, irgendwas zu erkennen, die metallenen Ketten an seinen Handgelenken hielten ihn an den Stuhl gefesselt, so viel konnte er erkennen.
Was ist los!?
„Herr Bernhard, jetzt sitzen Sie ganz still und hören aufmerksam zu, was ich Ihnen zu sagen habe, verstanden?“
Herr Bernhard blinzelte gegen das grelle Licht. Ein gequälter Laut entkam seiner trockenen Kehle.
„Sehr gut, Herr Bernhard, so ist gut! Ich sehe schon, wir zwei werden uns prächtig verstehen. Schließlich wollen wir ja beide auch dasselbe, nicht wahr? Die Unversehrtheit von Fräulein Simon, in der Tat, ihr Wohl und Glück. Stimmt's, Herr Bernhard?
Ein Ruck ging durch Herrn Bernhard, dann gab er erneut ein geqälten Laut von sich.
„Also, Herr Bernhard, es geht um Folgendes:“
Herr Berhard hörte wie im Trance die Worte aus dem grellen Licht hervorströmen, 'seine Bankfiliale', 'Tresor', 'Holzkästchen', 'Briefumschlag' etc. Zwar verstand er was die Worte bedeuteten, trotzdem war es, als ob er nicht wirklich verstand, was gesagt wurde.
„... und dann können Sie anschliessend heute Abend mit Fräulein Simon einen wunderschönen Abend verbringen. Das ist doch einfach, nicht wahr? Das kriegen Sie doch hin, Herr Bernhard, oder?“
Herr Bernhard gab erneut einen Laut von sich, diesmal ein leises Flüstern.
„Sehr schön, Herr Bernhard, ich wusste ich kann auf Sie zählen. Und Frau Simon kann auf Sie zählen“.
3)
Im Foyer begrüßte ihn Frau Weber wie üblich freundlich, aber doch verwundert über seine Rückkehr.
„Hallo Herr Direktor, haben Sie etwas vergessen? Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie doch keine Überstunden abfeiern möchten!“
„Ja, Sie haben Recht, das sollte ich wahrlich tun, aber als Direktor kann man sich eben nicht immer die Arbeitszeit aussuchen, wissen Sie? Eine kleine... eh.. Sache muss ich noch erledigen.“
Herr Bernhard scannte seine Karte ein – damit war seine Anwesenheit auch auf dem Zentralserver gespeichert –, setzte seinen Weg Richtung Fahrstuhl fort und versuchte unauffällig zu wirken.
Der Tresorraum war für gewöhnlich nicht sein Tätigkeitsbereich, imgrunde hatte er dort nichts zu tun, und es würde bei einer Untersuchung zweifellos auffallen, dass er Freitag Nachmittag zurückgekommen und in den Tresor gegangen war. Was hatte er da zu suchen? Er müsste bei der Wahrheit bleiben, Erpressung, Morddrohung und 'vielleicht Schlimmeres'. Da hatte er keine Wahl.
Im Vorraum saß Wachmann Heinz und guckte abwechselnd Fußball und Bilder der Überwachungskameras auf den vielen Monitoren.
„Guten Tag, Herr Direktor, das ist ja eine Überraschung.“
Die Formalitäten wurden zügig erledigt. Herr Bernhard versuchte möglichst wenig zum Wachmann Heinz zu sagen, was gar nicht so schwer war, da dieser ihm in einem fort vom aktuellen Fußballspiel, von der Tabelle und dem neuen Torrekord irgendeines Spielers erzählte. Er war offentsichtlich bemüht, den Direktor einen besonderen Service zu bieten.
Im Tresorraum schloß Wachmann Heinz den besagten Safe auf und verließ den Raum.
Einen Moment lang stand Herr Bernhard vor dem Safe.
Dann öffnete er langsam den Safe und zog die lange Schublade heraus. Ja, alles wie von der Stimme hinter dem grellen Licht beschrieben: Ein hölzernes Kästchen und darunter ein Briefumschlag. Herr Bernhard holte vorsichtig beides heraus und legte sie auf der Tisch.
Sollte er hineinschauen? Zwar hatte die Stimme gesagt, dass er sich nicht um den Inhalt des Kästchens kümmern sollte, aber direkt untersagt hatte sie ihm auch nichts.
Herr Bernhard nahm den Brief vom Tisch. Ein altes Wachssiegel, wie sie in alter Zeit verwendet wurden, hielt den Umschlag immernoch zusammen. Allerdings war mit einem Brieföffner, Messer oder ähnlichem der Umschlag an der oberen Seite geöffnet worden, sodass er den Inhalt leicht herausholen konnte.
Ein Stück Pergamentpapier mit der Aufschrift 'Ring des Gyges'1.
Ein Schauder ging durch Herr Bernhard. Das konnte nicht wahr sein!?
Herr Bernhard schaute zur Tür. Ja, er war allein. Dann auf das kleine Kästchen. Fein geschnitzte Ornamente schmückten den Deckel. Es müsste sehr alt sein. Dann hob er den Deckel ab.
Im Inneren war ein kleiner goldener Ring mit einem lila Edelstein im Holzboden eingesteckt. Leichte Verfärbungen des Metalls ließ Herr Bernhard erneut den Eindruck gewinnen, dass es sich um ein sehr altes Artefakt handeln musste.
Ring des Gyges?
Herr Bernhard blickte fasziniert auf den lila Stein. Das Licht funkelte im Inneren des Steins und schien darin in Bewegung zu kommen, ein Eigenleben zu entwickeln.
Er schaute das seltsame Lichtspiel. Wie wunderschön! Behutsam nahm er den Ring aus dem kleinen Kästchen und hielt ihn gegen das Licht. Die Lichtstrahlen drehten sich in einem Strudel um die eigene Achse, tausende Farbtöne reflektierten in den Raum zurück.
Ein Momentlang betrachtete Herr Bernhard das Lichtspektakel. Dann setzte er den Ring auf seinem Finger.
Ring des Bernhard!
Im Raum nebenan sah Wachmann Heinz, wie der Direktor in einen Zeitraum von 20, vielleicht 30 Sekunden vom Monitor spurlos verschwand. Eine Erklärung dafür sollte er nie finden.
4)
An dem Abend hielt Herr Bernhard um die Hand seines geliebten Fräulein Simon und bot ihr einen wunderschönen Ring als Zeichen seiner Liebe an.
Ob Fräulein Simon sein Antrag annahm, ist nicht bekannt.
1Ring des Gyges: In der Politeia erzählt Platons Bruder Glaukon eine Version des auch anderweitig überlieferten berühmten Mythos von der Machtergreifung des lydischen Königs Gyges, des Begründers der Mermnaden-Dynastie.[16] Gyges war ursprünglich ein einfacher Hirte. Er fand in einer Erdspalte einen Leichnam, der an der Hand einen goldenen Ring trug. Diesen eignete sich Gyges an. Er fand heraus, dass er sich mittels des Rings unsichtbar machen konnte. Die damit erlangte magische Macht nutzte er, um eine Stellung am Hof des Königs zu erlangen und dessen Frau zum Ehebruch zu verführen. Schließlich tötete er den König und riss die Herrschaft an sich. Mit dieser Erzählung will Glaukon seine Überzeugung illustrieren, dass Macht generell korrumpiere und niemand sich der Versuchung entziehen könne, wenn sich eine Gelegenheit zum Machtmissbrauch biete. (Wikipedia)
- Quellenangaben
- Robert Burns: A Red Red Rose