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Schaumgeboren

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17.06.2004
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Schaumgeboren

Ich sehe sie noch vor mir an jenem ersten Tag. Halbtot sah sie aus, wie sie da im Sand lag. So bleich und zart im Morgenlicht. Die Beine angewinkelt, die Arme um den nackten Oberkörper geschlungen. Wie ein Kind im Schlaf. Ihr Gesicht vom nassen Haar bedeckt, das dieselbe Farbe hatte wie der Seetang, der sie umgab. Als wäre sie eins von den vielen angeschwemmten Stückchen Meer, die der Sturm ans Ufer gespuckt hatte.

Lorraine. Die Namenlose. Die Unbenennbare.

Sie war ein Geschenk. Ein Geschenk des Ozeans an zwei einsame Inselbewohner, die ihm jeden Morgen unabläßlich und ehrfürchtig die Stirn bieten, um ihm das Lebensnotwendige abzuringen, in freundschaftlichem Kampf. Sie war die Antwort auf unsere, vor allem aber auf deine Einsamkeit, Bruder. Ein Geschenk des Himmels, der sich an stillen Tagen in den grauen Fluten spiegelt, als liege dort seine wahre Heimat.

Warum konntest du es nicht annehmen, so wie es war?

Du erkennst deinen Fehler jetzt, da es zu spät ist. Deine Tränen erzählen davon, wenn du von deinen Wanderungen durch die Dünen zurückkommst. Deine Seufzer sprechen davon, wenn du allein auf den Klippen sitzt und nach Westen starrst, als könne die untergehende Sonne dir Antwort auf deinen Schmerz geben. Und wenn die Wellen über den Sand laufen und wieder ins Meer zurück rollen, ist dir jedesmal, als flüsterten die Wasser ihren Namen, der nie ihr Name war.

Aber sie wird nicht wiederkommen, Bruder. Die See ist immun gegen deine salzigen Tränen. Der Wind lacht über deine Seufzer. Und Lorraine...Lorraine hat sich für eine andere Welt entschieden. Eine Welt, in der es keine Fesseln und keine Ketten für sie gibt. Und keine Namen.

Ob sie es manchmal bedauert, die Liebe gegen die Freiheit getauscht zu haben? Aber wie kann Liebe ohne Freiheit sein, Bruder? Hat sie es dich nicht immer wieder gefragt, mit ihren stummen Augen, in denen sich die Farben des Himmels spiegelten?

Die Zeit ist ein flüchtiges Geschenk. Aber die Zeit mit Lorraine war das kostbarste Geschenk, das uns je zuteil wurde. Wir mußten sie einfach lieben, dieses wunderbare große Kind mit den Meeraugen und dem Wellenlachen. Wenn sie sprach, die wenigen Worte, die du ihr in langen Nächten beibrachtest, klang ihre Stimme wie das Kratzen von Muscheln auf Kalkgestein. Wenn sie jedoch sang...oh, wenn sie sang! Hat je ein Mensch etwas Wundersameres gehört? Du hast versucht, sie Tag und Nacht an dich zu binden, hast sie gelehrt und gestriegelt. Aber nur, wenn sie in den frühen Morgenstunden auf die Klippen stieg und sang, ihre langen, murmelnden, melancholischen, wortlosen Weisen von dunklen Tiefen und geschmeidiger Liebkosung durch Wellen und Wind – nur dann war sie die, die sie ist, Bruder.

Meerkind. Wellengeborene. Schaumfolgerin. Unsere steinige Sprache kennt keine Worte für das, was sie ist. Und du, der du verzweifelt versucht hast, in sie zu dringen, ihren wahren Namen zu finden, hast verkannt, daß Lorraines Wesen nicht mit Worten zu benennen oder zu zähmen ist. Hättest du nur auf ihre traurigen Weisen gehört, vielleicht hättest auch du es in deiner Blindheit verstanden.

Man kann die See nicht in eine feste Form zwängen. Sie will fließen. Und so ist auch Lorraine dir wie Meerschaum zwischen den Fingern zerronnen, Bruder. Sie konnte nicht anders. Es ist ihre Natur. Irgendwann folgt auf jede Flut eine Ebbe, die eine neue Flut gebiert. Man kann sie nicht aufhalten, noch sie erzwingen.

Eines morgens ist sie gegangen. Mit der Flut hat sie sich davongestohlen. Mit nackten Sohlen hat sie den weichen Sand und die Wellen begrüßt, wie sie es jeden Morgen tat.

Ich sehe sie noch vor mir. Sie streifte das luftige Kleid ab, als hindere es sie am Atmen. Sie löste ihr Haar, legte deine goldene Kette ab. Und dann ging sie einfach los. Nach Westen. In die graue See hinein. In die Freiheit.

Nach Hause.


[Edit: Songtext von "Song to the Siren" entfernt]

 
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Edit: Songtext entfernt

 

Hi Megries, willkommen auf kurzgeschichten.de :)

Einen Text nach einem Lied zu schreiben, ist immer ein großer Reiz. Aber dann sollte man aufpassen, dass man sich weit genug vom Text des Liedes löst - das scheint dir hier gelungen zu sein. Allerdings: Der Liedtext am Anfang der Geschichte läd zum Ignorieren ein. Vielleicht solltest du den irgendwie auf zwei Zeilen kürzen.

Lorraine. Die Namenlose. Die Unbenennbare.
Sie hat ja doch nen Namen!

Ein Geschenk der See an zwei einsame Inselbewohner, die ihr jeden Morgen unabläßlich und ehrfürchtig die Stirn bieten,
du bist in der Vergangenheit, also "boten"

um ihr das Lebensnotwendige abzuringen, in freundschaftlichem Kampf.
Würd ich umdrehen

at sie es dich nicht immer wieder gefragt, mit ihren stummen Augen, in denen sich die Farben des Himmels spiegelten?
Kling mMn unrealistisch - der Bruder weiß, welche Farbe die Augen haben, deshalb wirkt der nachgestellte Satz irgendwie komisch.

Die Zeit ist ein flüchtiges Geschenk. Aber die Zeit mit Lorraine war das kostbarste Geschenk, das uns je zuteil wurde.
Wortdopplung

Wenn sie jedoch sang...oh, wenn sie sang!
Leertaste nach den drei Punkten


So, jetzt zum Gesamten - die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Du hast eine schöne, bildreiche Sprache, hin und wieder könnte durch die Aufzählung von Wortbildern beinahe etwas wie Monotonie aufkommen, aber du hörst jedes Mal rechtzeitig an der Grenze auf. Ein gelungener Einstand!

Der Text kann, meiner Meinung nach, auch ganz gut ohne Lyrics dazu stehen.

Gruß
vita
:bounce:

P.S.: Hör dir mal "Lagoon" von Nightwish (Century Child oder Bless the Child Maxi) an, das könnte dir gefallen :)

 

Jetzt habe ich gerade eine lange Antwort mit vielen Zitaten geschrieben, und dann kam ein Hinweis, daß ich zu viele Graphiken (?) verwendet hätte. Sind damit die paar Smilies gemeint gewesen (so viele waren es auch nicht, vielleicht fünf)?

Na gut, dann mache ich es jetzt häppchenweise.

Erstmal vielen Dank für deine schnelle Rückmeldung und die konstruktive Kritik, vita! Und natürlich fürs Willkommenheißen! :)

Freut mich, daß es dir gefallen hat. Du hast meine eigenen Zweifel und Fragen, was den Text betrifft, schon aufgegriffen. Ich habe mich natürlich gefragt, ob der doch sehr 'lyrische' Stil mit den vielen Wiederholungen und Bildern schon zu kitschig wirkt, oder ob er innerhalb des märchenhaften Rahmens gerechtfertigt ist. Es beruhigt mich, daß es dir gefallen hat und ich (gerade noch ;) ) die Kurve gekriegt habe.

Was die Lyrics am Anfang betrifft: Ich hätte gern nur ein, zwei Zeilen genommen, aber da ging in meinen Augen meist der inhaltliche Zusammenhang verloren. Ich dachte halt, es wäre eine ganz gute Einstimmung. Nun ja.

So, meine Antwort auf deine einzelnen Punkte folgt später. Schon blöd, daß das jetzt alles futsch ist mit den vielen schönen Formatierungen.

Gruß,
Megries

 
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Hallo Jynx!

Danke für dein Feedback und den Willkommensgruß!

Jynx schrieb:
Ich bin beim ersten Mal drüber gestolpert, warum die Prots der Undine die Stirn bieten. Bis mir klar wurde, dass sich das zweite 'sie' auf 'die See' bezieht. Vielleicht könnte man das kleine Stolpersteinchen beheben, in dem sie ein Geschenk des Meeres ist.

:susp: Äh, ist das bildlich gemeint??? Dann passt das Bild weiter oben mit dem Wasserkind irgendwie nicht dazu...
Auf jeden Fall eine schöne Geschichte zu einem tradierten Motiv, aus einer interessanten Perspektive erzählt.
LG, Jynx


Mit deinem ersten Hinweis hast du vollkommen recht. Mir gefällt zwar das lyrische 'See' besser, aber ich bin auch schon mal drüber gestolpert. Und das hält den Lesefluss wirklich auf, wenn man immer nochmal nachprüfen muß, worauf es sich bezieht.

Das 'in sie dringen' hätte ich vorhin fast noch rausgenommen, habe es dann aber doch dringelassen. Es geht nicht um sexuelles Eindringen, falls du darauf anspielst (außerdem habe ich mir die Nixe an Land auch mit Füßen usw. vorgestellt). Ich meinte mehr, daß er versucht hat, sie sozusagen zu ergründen, seinen eigenen Denkschemata einzuverleiben (dazu gehört auch dieses 'Benennen'), anstatt ihre 'Unkategorisierbarkeit' zu akzeptieren. Könnte man jetzt auch auf Beziehungen generell übertragen.

Oder was genau meinst du, was nicht paßt? Ich wollte das mit dem 'Nixe-Sein' auch irgendwie (aus Sicht der Männer) offen lassen. Sie sollte nicht auf den ersten Blick als Meerjungfrau erkenntlich sein. Ich dachte, so ist es irgendwie ein bißchen interessanter. Vielleicht hat der angesprochene Bruder es auch gar nicht so richtig wahrhaben wollen, daß sie etwas 'anderes' ist. Aber das habe ich bewußt schwammig gehalten.

Es ist jetzt leicht zu sagen, ich habe das und das mit der und der Absicht geschrieben oder weggelassen, weil ich gerade nicht zu viel konstruieren wollte. Aber ich glaube, daß manches wirklich offen bleiben sollte, weil man gerade bei phantastischen Texten auch alles zu Tode erklären kann. Findest du das Bild mit den beiden einsamen Männern unstimmig? Oder bist du nur neugierig? ;)

Lieben Gruß,
Megries

 

vita schrieb:
Sie hat ja doch nen Namen!

Jein. Der Name wird ihr von den Menschen verliehen, bzw von dem Bruder, der sie ganz in 'seine Welt' ziehen will. Wo stand das nochmal: Wenn man einer Sache einen Namen gibt, gehört sie einem? Ich habe mir lange überlegt, ob ich dieses Lorraine ganz weglassen soll. Aber dann hätte ich wieder Probleme mit dem ständigen 'sie' gehabt, und im Nachhinein gefällt mir der Widerspruch Name-Unbenennbar ganz gut. Das ist ja so eine Art roter Faden.

du bist in der Vergangenheit, also "boten"

Ich habe es eher so gesehen, daß der Sprecher/Erzähler in der Gegenwart spricht und die Fischer auch jetzt immer noch hinausfahren. Deshalb habe ich es ins Präsenz gesetzt. Leuchtet dir das ein? Vielleicht ist das falsch gedacht von mir, aber damals erschien es mir logisch.

Würd ich umdrehen

Ohne bestimmten Artikel bzw ganz ohne Artikel gefällt es mir besser. Klingt es so holprig?


Kling mMn unrealistisch - der Bruder weiß, welche Farbe die Augen haben, deshalb wirkt der nachgestellte Satz irgendwie komisch.

Haben ihre Augen denn EINE Farbe? Ich wollte andeuten, daß ihre Augen wie das Meer sind, das ja auch keine eigene Farbe hat, sondern nur die Farben seiner Umgebung spiegelt.


Wortdopplung

Komtm sehr häufig vor, ich weiß. Hm...


Leertaste nach den drei Punkten

Sicher? Wußte ich nicht bzw ist mir noch nie aufgefallen, wenn die drei Punkte innerhalb eines Satzes stehen. *grübel*


P.S.: Hör dir mal "Lagoon" von Nightwish (Century Child oder Bless the Child Maxi) an, das könnte dir gefallen :)

Werd' ich bei Gelegenheit tun. ;)

 

Jynx schrieb:
Ich bin beim ersten Mal drüber gestolpert, warum die Prots der Undine die Stirn bieten. Bis mir klar wurde, dass sich das zweite 'sie' auf 'die See' bezieht. Vielleicht könnte man das kleine Stolpersteinchen beheben, in dem sie ein Geschenk des Meeres ist.

LG, Jynx


Ich habe es jetzt in Ozean geändert. So besser?

 

Aloha!

Die Erzählung gefällt mir sehr gut ... melancholisch, unterhaltsam, nicht zu viel und nicht zu wenig. Warum die Zwei auf der Insel sind, dem Wesen aus der Tiefe der Ozeane begegnen usw. ist irrelevant. Ich bin normalerweise kein Freund zu kurz geretner Erzählungen, aber die hier ist gut. Nichts weiter zu mäkeln ... ;)


shade & sweet water
x

 

Hallo Megries,

eine wunderschöne, traurige Geschichte, die auf beliebte Klischees verzichtet, in sich stimmig und vor allem stimmungsvoll ist! Ich hatte sehr viel Freude beim Lesen.

:thumbsup:

Gruß,

Felsenkatze

 

Vielen Dank, Felsenkatze und Xadhoom! Freut mich, daß es euch gefallen hat.

 

Hallo Megries

eine wunder-, wunderschöne Geschichte, so traurig/melancholisch/voller Sehnsucht.

Du beschreibst die Nixe sehr schön, stellst durch diese Beschreibungen (Haare wie Seetang und Augen wie das Meer) auch ihre starke Verbindung zum Ozean her, der für mich eines der besten Symbole für die Freiheit ist.

Eine Erklärung, warum die Männer auf der Insel sind, ist meiner Meinung nach nicht notwendig, es würde ja an der Situation nichts ändern und ein wenig soll ja auch der Phantasie des Lesers überlassen bleiben.

Du erkennst deinen Fehler jetzt, da es zu spät ist. Deine Tränen erzählen davon, wenn du von deinen Wanderungen durch die Dünen zurückkommst. Deine Seufzer sprechen davon, wenn du allein auf den Klippen sitzt und nach Westen starrst, als könne die untergehende Sonne dir Antwort auf deinen Schmerz geben. Und wenn die Wellen über den Sand laufen und wieder ins Meer zurück rollen, ist dir jedesmal, als flüsterten die Wasser ihren Namen, der nie ihr Name war.
ja, da kann man schon mit dem armen Bruder mitleiden, ich spüre die unendlich Sehnsucht, die er verspürt...
einfach herrlich

und jetzt noch zwei Stellen, die mich etwas stören

Die See ist immun gegen deine salzigen Tränen
immun finde ich passt nicht so gut, vor allem, weil im nächsten Satz der Wind lacht, also aktiv handelt.
Wie wär's mit "Die See ignoriert deine salzigen Tränen" (natürlich nur ein Vorschlag *g)

Als wäre sie eins von den vielen angeschwemmten Stückchen Meer, die der Sturm ans Ufer gespuckt hatte.
"gespuckt" passt da absolut nicht rein, wie wär's mit "getragen"

Bis auf die beiden Stellen find ich deine Geschichte aber wirklich klasse

Liebe Grüße, Lanna

 

Hallo Lanna,

vielen Dank für deinen Kommentar! Ich freue mich wirklich über das positive Feedback, weil es einigen Mut gekostet hat, etwas so Lyrisches und Emotionales zu veröffentlichen.

Ich denke auch, daß jeder ruhig seine eigenen Assoziationen zu bestimmten Bildern haben soll. Es ist aber interessant zu hören, wie manche Dinge aufgenommen werden und jeder seine eigene Interpretation hat.

Das "gespuckt" gefällt mir eigentlich ziemlich gut. Das Wort paßt zu dem Bild, das ich im Kopf hatte: Das Meer, das Dinge ausspuckt und wieder verschlingt. Und ob ein Sturm Dinge ans Ufer 'trägt'...weiß nicht. Irgendwie gefällt mir diese Metapher einfach. Ich weiß nicht, ob ich mich davon trennen könnte.

Was das "immun" betrifft. Da ging es mir darum, daß die See ja selbst aus Salzwasser besteht, die salzigen Tränen sie also in Folge dessen nicht 'beeinträchtigen/beeindrucken' KÖNNEN. Würde sie die Trägen ignorieren, wäre das eher ein gewolltes Wegschauen. Hier soll aber nicht angedeutet werden, daß das Meer ihn grausam ignoriert, sondern eher, daß es 'ihm' gar nicht auffällt, oder meinetwegen auch, daß 'es' gleichgültig ist (wie die Natur generell). Als Vergleich: Lava ist 'immun' gegen ein brennendes Streichholz. Ein Tauber ist immun gegen Schreie.

Aber danke fürs Kritisieren. Ich will ja wissen, was Leute stört oder worüber man stolpert. :)

Lieben Gruß,
Megries

 

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