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Schaumgeboren
Ich sehe sie noch vor mir an jenem ersten Tag. Halbtot sah sie aus, wie sie da im Sand lag. So bleich und zart im Morgenlicht. Die Beine angewinkelt, die Arme um den nackten Oberkörper geschlungen. Wie ein Kind im Schlaf. Ihr Gesicht vom nassen Haar bedeckt, das dieselbe Farbe hatte wie der Seetang, der sie umgab. Als wäre sie eins von den vielen angeschwemmten Stückchen Meer, die der Sturm ans Ufer gespuckt hatte.
Lorraine. Die Namenlose. Die Unbenennbare.
Sie war ein Geschenk. Ein Geschenk des Ozeans an zwei einsame Inselbewohner, die ihm jeden Morgen unabläßlich und ehrfürchtig die Stirn bieten, um ihm das Lebensnotwendige abzuringen, in freundschaftlichem Kampf. Sie war die Antwort auf unsere, vor allem aber auf deine Einsamkeit, Bruder. Ein Geschenk des Himmels, der sich an stillen Tagen in den grauen Fluten spiegelt, als liege dort seine wahre Heimat.
Warum konntest du es nicht annehmen, so wie es war?
Du erkennst deinen Fehler jetzt, da es zu spät ist. Deine Tränen erzählen davon, wenn du von deinen Wanderungen durch die Dünen zurückkommst. Deine Seufzer sprechen davon, wenn du allein auf den Klippen sitzt und nach Westen starrst, als könne die untergehende Sonne dir Antwort auf deinen Schmerz geben. Und wenn die Wellen über den Sand laufen und wieder ins Meer zurück rollen, ist dir jedesmal, als flüsterten die Wasser ihren Namen, der nie ihr Name war.
Aber sie wird nicht wiederkommen, Bruder. Die See ist immun gegen deine salzigen Tränen. Der Wind lacht über deine Seufzer. Und Lorraine...Lorraine hat sich für eine andere Welt entschieden. Eine Welt, in der es keine Fesseln und keine Ketten für sie gibt. Und keine Namen.
Ob sie es manchmal bedauert, die Liebe gegen die Freiheit getauscht zu haben? Aber wie kann Liebe ohne Freiheit sein, Bruder? Hat sie es dich nicht immer wieder gefragt, mit ihren stummen Augen, in denen sich die Farben des Himmels spiegelten?
Die Zeit ist ein flüchtiges Geschenk. Aber die Zeit mit Lorraine war das kostbarste Geschenk, das uns je zuteil wurde. Wir mußten sie einfach lieben, dieses wunderbare große Kind mit den Meeraugen und dem Wellenlachen. Wenn sie sprach, die wenigen Worte, die du ihr in langen Nächten beibrachtest, klang ihre Stimme wie das Kratzen von Muscheln auf Kalkgestein. Wenn sie jedoch sang...oh, wenn sie sang! Hat je ein Mensch etwas Wundersameres gehört? Du hast versucht, sie Tag und Nacht an dich zu binden, hast sie gelehrt und gestriegelt. Aber nur, wenn sie in den frühen Morgenstunden auf die Klippen stieg und sang, ihre langen, murmelnden, melancholischen, wortlosen Weisen von dunklen Tiefen und geschmeidiger Liebkosung durch Wellen und Wind – nur dann war sie die, die sie ist, Bruder.
Meerkind. Wellengeborene. Schaumfolgerin. Unsere steinige Sprache kennt keine Worte für das, was sie ist. Und du, der du verzweifelt versucht hast, in sie zu dringen, ihren wahren Namen zu finden, hast verkannt, daß Lorraines Wesen nicht mit Worten zu benennen oder zu zähmen ist. Hättest du nur auf ihre traurigen Weisen gehört, vielleicht hättest auch du es in deiner Blindheit verstanden.
Man kann die See nicht in eine feste Form zwängen. Sie will fließen. Und so ist auch Lorraine dir wie Meerschaum zwischen den Fingern zerronnen, Bruder. Sie konnte nicht anders. Es ist ihre Natur. Irgendwann folgt auf jede Flut eine Ebbe, die eine neue Flut gebiert. Man kann sie nicht aufhalten, noch sie erzwingen.
Eines morgens ist sie gegangen. Mit der Flut hat sie sich davongestohlen. Mit nackten Sohlen hat sie den weichen Sand und die Wellen begrüßt, wie sie es jeden Morgen tat.
Ich sehe sie noch vor mir. Sie streifte das luftige Kleid ab, als hindere es sie am Atmen. Sie löste ihr Haar, legte deine goldene Kette ab. Und dann ging sie einfach los. Nach Westen. In die graue See hinein. In die Freiheit.
Nach Hause.
[Edit: Songtext von "Song to the Siren" entfernt]