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Schreie in meinem Kopf

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30.08.2003
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Schreie in meinem Kopf

Ich höre meine Haut schreien.

Davon wache ich auf aus meinen Traum, in dem ich ein stolzer schwarzer Rabe war, der hoch über der Erde dahinflog, nichts als den endlosen Himmel um sich herum. Der sich mit starken Schwingenschlägen hinauf in die Luft schraubte, um dann in einem rasanten Gleitflug über das Land unter ihm hinwegzuschweben. Und als er dann erneut an Höhe gewonnen hatte, schrie er es aus ganzer Kehle hinaus in die Welt: ICH BIN FREI!

Von diesem Schrei erwache ich. Etwas schlafestrunken dauert es einige Augenblicke, bis ich gewahr werde, dass es nicht jener Rabe gewesen war, der schrie, sondern meine Haut. Im blassen Schimmer des Vollmonds, der durch die halbzugezogenen Vorhänge in mein Zimmer fällt, drehe ich mich auf die Seite und schiebe den rechten Ärmel meines Pyjamas hoch.
Reih in Reih, so blicken mich meine Narben an, akkurat gerade Linien, und ich wundere mich darüber, dass sie noch weißer leuchten als mein Arm, der ohnehin schon weiß ist. Weißes Fleisch. Weißes, schreiendes Fleisch. So liegt er da auf dem ebenfalls weißen Bettlaken, einzig jene Narbe von letztem Sylvester schimmert rosafarben. Damals wollte ich sterben, hatte tief ins Fleisch geschnitten und im Schmerz gelacht vor Glück – wenn ich dann nicht urplötzlich Angst bekommen hätte, wäre die ganze Misere längst beendet. Einmal mehr versagt, wie ich jeden einzelnen Tag versage - so hatte ich mir nur eine weitere schlaflose Nacht beschert, in der mein Körper gegen den Tod ankämpfte, der damals ebenso schnell in mich hineinkroch, wie das Blut aus meinem Arm floss. Ich hatte den Kampf gewonnen, mit Schüttelfrost und Panikattacken, aber ich lebe.
Die Erinnerung an damals zieht innerhalb einer Zehntelsekunde durch meinen Kopf, während ich aus dem Zimmer nebenan meine Mutter lallen höre, und ich sehe sie vor mir wie sie weinselig auf dem Boden sitzt, aus ihren Kopfhörern rauschen französische Chansons... und immernoch starre ich meinen Arm an.

BEFREIE MICH

Dort unten verläuft jener blaue Strich, über den ich schon so oft mit der Klinge hinweggeglitten bin. Am deutlichsten ist der direkt am Handgelenk zu erkennen, dort bei der großen rosafarbenen Narbe, aber in Richtung Unterarm verschwindet er in der Tiefe. Wie schnell das Blut wohl fließt? Ich weiß es nicht, aber ich stelle mir vor, ein Blutkörperchen zu sein, wie ich so durch die Adern hindurchsause, gefangen in diesem Labyrinth aus Fleisch – und ich schreie.

BEFREIE MICH, ICH WILL FREI SEIN

Wieder einmal reißt mich ein Schrei zurück in die Wirklichkeit, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich geschrien habe. Hoffentlich haben meine Eltern nichts gehört. Ich muss leise sein, sage ich mir, und fahre mit dem Fingernagel meines Zeigefingers sorgsam den blauen Strich nach.

... und wieder bin ich das Blutkörperchen, ich rase durch einen dunklen Tunnel und sehne mich nach nichts mehr als nach der Freiheit... ich rufe danach so laut ich kann, immer wieder, BEFREIE MICH, und dann... dann geschieht das Wunder – etwas Hartes versperrt mir kurze Zeit den Weg, und dann blicke ich hinauf und sehe den Mond gleich einer silbernen Scheibe am Himmel stehen, ich spüre diesen herrlichen Luftzug, diese Frische und Freiheit... ich stürme voran und fliege hoch in die Luft...

Einen Moment lang hänge ich diesem berauschenden Gedanken nach, dann wandert mein Blick vom Mond draußen, wie er da so einsam und weise hängt, zurück zu meinem Arm. Etwas stimmt nicht, genau, die Haut umschließt ihn so unberührt und unversehrt! Diese Schreie! Sie dröhnen in meinem ganzen Kopf, ich spüre sie in jeder Faser meines Körpers, sie sind laut und leise zugleich und hallen nach...

BEFREIE MICH

Ein Gedankenfetzen von einem hoch am blauen Himmel gleitenden Raben schießt mir durch den Kopf, und ich denke, dass ich so gerne jener Vogel sein würde – aber mit einem bitteren, kurzen Lachen sage ich mir, dass ich niemals so frei sein kann. Was habe ich denn hier. Schule, Leistungsdruck, immer die Beste sein, dann Studium, nebenbei Geld verdienen, Kinder in die Welt setzen, so werden wie meine Mutter und dann irgendwann tatterig und verwelkt abkratzen, unspektakulär, niemals frei gewesen und immer nur den Regeln gehorcht, sogar den Todeszeitpunkt von oben diktieren lassen. Wie erbärmlich.
Wäre ich jener Rabe, ich flöge höher und höher hinauf in den Sternenhimmel, die klare Nachtluft um mich herum, solange bis meine Schwingen kaum noch genügend Widerstand finden, und dann würde ich vom Mond zur schlafenden Erde blicken, mit dicht an meinen Körper gepressten Schwingen auf die Schwärze dort unten zuschießen und im rasanten Sturzflug schreien, so laut ich kann - ICH BIN FREI – und bevor ich auf der Schnellstraße zerschelle und von einem Lastwagen zerquetscht werde, ein letztes Mal zum Mond blicken.

Als mich eine Träne sacht an der Wange kitzelt und ich einige Male blinzle, wird mir klar, dass jene Schreie nicht nur von meinem Arm stammen, sondern auch von meiner Seele.
Irgendwie wundere ich mich, dass ich sie wirklich höre – so deutlich, als kämen sie aus meinen Boxen, doch diese stehen schweigend und still auf dem Tisch.

BEFREIE MICH, BITTE, ICH WILL FREI SEIN

Diese Schreie. Sie machen mich wahnsinnig. Ich setze mich auf, schiebe die Bettdecke beiseite und schüttele meinen Kopf, aber das bringt nichts, ich höre sie immernoch.

BITTE BITTE, BEFREIE MICH

Mein weißer Arm starrt mich an, ich starre zurück

ICH WILL FREI SEIN

Die Welt um mich verschwimmt, ich nehme nur noch meinen vernarbten Arm, der doch so schrecklich unberührt daliegt, wahr

BEFREIE MICH

und dann halte ich es nicht mehr aus. Mit etwas wackeligen Beinen stehe ich auf, ich muss mich kurz an meinem Kleiderschrank festhalten, weil die Schreie so laut sind, dass mir schwindlig ist, und dann gehe ich zu meinem Schreibtisch, die oberste Schublade ist es

ICH WILL FREI SEIN, BITTE

ich ziehe sie auf, hebe mit der einen Hand den Notizblock und das Geodreieck hoch und ziehe mit der anderen vorsichtig die kleine Pappschachtel aus ihrem sorgsam gehüteten Versteck.

BITTE BEFREIE MICH

Mit meinem Schatz in der rechten Hand taste ich mich vorsichtig zum Bett zurück, ja nirgendwo gegenstoßen, ja keinen Krach machen, setze mich auf die Bettkante

BEFREIE MICH

und ziehe das Handtuch unter dem Bett hervor, was extra für solche Zwecke dort versteckt liegt. Ich breite es über meinen Knien aus, nehme eines der schmalen weißen Paperbriefchen aus dem Karton, lege selbigen unter das Bett und klappe dann

LASS MICH FREI

die weiße Lasche zurück – und da liegt sie in ihrem Papierbettchen, so unschuldig, so friedlich, so glücksverheißend. Meine Klinge.
Mittlerweile sind die Schreie in meinem Kopf fast unerträglich geworden, so erwartungsvoll und drängend klingen sie – ich lasse das Paper fallen und stoße die Klinge hastig in meinen Arm, ein paar Zentimeter unterhalb des Handgelenks.

Diese Ruhe.
Wärme durchströmt mich.
Ein Gefühl von Frieden breitet sich in mir aus.

Ich drücke ein wenig fester zu, beobachte erleichtert die ersten dunkelroten Tropfen, wie sie sich ihren Weg in die Freiheit suchen, dann ziehe ich die Klinge gegen den leichten Widerstand des Fleischs in Richtung Ellbogen – nicht weit, nur einige Zentimeter.
Von einer unendlichen Last befreit, halte ich die Klinge hoch, kann sie im Gegenlicht des Mondes deutlich als schwarzen, scharfen Umriss erkennen. Ein einzelner Tropfen Blut sammelt sich unten am Rand, wird größer, wächst, und perlt schließlich befreit ab, stürzt hinab – dieser Anblick des großen runden Mondes mit dem Schemen der schwarzen Klinge und einem einzelnen, fallenden Blutstropfen davor, dieser Anblick brennt sich in mein Herz hinein.

Noch einmal stoße ich die Klinge ins Fleisch, ich weiß dass sich meine Gesichtsmuskeln zu einem breiten Lächeln verzogen haben, denn ich fühle nichts als Glück – ich laufe über vor Glück! Euphorisch drücke ich fester zu, ich zittere, aber meine Hand bleibt ganz ruhig – ich ziehe noch eine etwa sechs Zentimeter lange Spur entlang, dann schließe ich meine Augen und genieße einfach dieses wunderbare Glücksgefühl, dass in meinem ganzen Körßer fließt, dass in meinen Fingerspitzen kribbelt und was mich am liebsten laut singen ließe.
ICH BIN FREI

...

Nach einigen Herzschlägen blicke ich wieder hinaus zum Mond, der mich so unbeteiligt anschaut und meine Tat doch mit seinem silbernen Licht verziert, und dann wieder auf meinen Arm. Das ehemals hellblaue Handtuch ist dunkel geworden dort unten, und vorallem nass, es fühlt sich eklig an auf meinen Knien, diese warme Nässe, und ich hebe es auf, rolle es ein und schiebe es unters Bett, zu den anderen Klingen.

Mir ist so befreit zumute... herrlich.

Hier sitzen bleiben kann ich nicht, sonst saue ich alles voll, also stehe ich wieder auf – die Farbe der Poster an meinen Wänden leuchtet so intensiv, und jetzt bemerke ich auch den leichten Geruch nach Kaffee, der von der längst leergetrunkenen Tasse auf meinem Schreibtisch ausgeht. Vorsichtig, damit es nicht knarrt, öffne ich das Fenster und ziehe mich hinauf auf die Fensterbank, ich muss aufpassen, sonst schneide ich mich wieder versehentlich in die Finger, ich mag das nicht so, dann klebt die Klinge so arg beim Weiterschneiden – ich sitze.
Hallo Mond, sage ich leise... du bist so schön. So perfekt, wie du da oben stehst... darf ich zu dir kommen?
Aber sicher doch, Mädchen...

Die laue Nachtluft riecht gut, nach Klarheit, frisch irgendwie.

Ich greife hinter mich, taste etwas herum und dann habe ich gefunden, was ich suche, ich klappe die Schachtel auf, hole das Feuerzeug hervor und zünde mir eine Zigarette an.
Während ich den ersten tiefen Zug nehme, fällt mein Blick auf die Packungsaufschrift – Raucher sterben früher – und irgendwie muss ich lächeln. Diese Welt...

Hm, ich muss aufpassen, jetzt ist es auf die Packung getropft – ich fluche leise und versuche sie an meinem Schlafanzugbein abzuwischen. Ich halte meinen Arm so, dass die Handfläche tiefer liegt als der Ellbogen, und denke, dass das schön aussieht – die Blutlache, die sich in der leicht gekrümmten Hand bildet, und wie sich darin das blassblaue Licht des Mondes sowie das schwache rotorange Leuchten der Zigarette widerspiegeln...

Damit nichts auf den Teppichboden läuft, drehe ich mich um 90 Gad um und lasse meine Beine aus dem Fenster baumeln, da unten sehe ich die kleinen Autos, die selbst in der Nacht noch hektisch fahren müssen, aber weil wir im zwölften Stock wohnen, höre ich sie wenigstens nicht ganz so laut. Den Arm strecke ich aus und beobachte fasziniert die einzelnen kleinen Blutbäche, die dort hinabperlen... mit der anderen Hand halte ich die Kippe fest.
Als sie aufgeraucht ist, drücke ich sie aus, schließe meine Augen und lasse mich mit einem Gefühl tiefsten inneren Friedens nach vorne fallen.

 

ja, so hatte ich dich auch verstanden und wollte dir dabei zustimmen ;)

 

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