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Schwerelos
SCHWERELOS
Sieben Meter trennten ihn von der rettenden Luke. Sieben beschissene Meter. Und mit jedem weiteren Atemzug vergrößerte sich der Abstand. Und je größer der Abstand wurde, um so mehr verbrauchte er kostbaren Sauerstoff. Blöde Situation für einen, der sämtliche Rekorde in der Raumfahrt gebrochen und von den zehn wichtigsten Industrienationen die höchste Auszeichnung des jeweiligen Landes verliehen bekommen hatte. Edward Stanford III. hatte sich hoffnungslos in dem Gewirr aus dünnen Kabeln und dicken Schläuchen verfangen. Er trieb hilflos seitlich der ‚Gwenda‘, ein Prototyp der neuen, für die nahe Zukunft geplante Shuttle-Klasse, die in wenigen Minuten Menschen von einem Punkt am Arsch der Welt zum nächsten befördern konnten. Hersteller Boing hatte die Europäer ausgestochen. Ein Shuttle, so effektiv wie nie zuvor. Kostengünstig. Dreißig Jahre Mindestgarantie. Und der Clou: Senkrechtes Lande- und Startmanöver. Überall. An jedem beliebigen Ort, wenn natürlich nur auf einer planen Fläche von dreihundert Quadratmetern. Ohne störende Hindernisse wie Wolkenkratzer, Regenwald oder Reservate. Die ‚Gwenda‘ war etwa zweihundertzwanzig Meter lang und fünfundsiebzig Meter breit. Sie konnte bei voller Auslastung eintausend Bruttotonnen in kürzester Zeit über tausende Kilometer hinweg transportieren, oder eintausendfünfhundert Menschen bequem einen überwältigenden Ausblick bieten, während diese mal eben von Australien nach Europa oder Amerika flogen. All diese phantastisch klingenden Angaben seitens des Herstellers interessierten Edward Stanford III. in seiner jetzigen Situation herzlich wenig.
Zehn Meter ohne Aussicht, das Abdriften zu stoppen. „Verdammt!“, fluchte er in das integrierte Helm-Mikrofon. „Hallo?“
„Wir hören Sie, Edward. Bewahren Sie Ruhe!“
„Ich bin ruhig!“, brüllte Stanford III. Stetiges Davonschweben in die Unendlichkeiten des Weltraums ließen ihn noch nie gelassener werden. Selbst beim letzten Versuch eines neuen Überschallrekords in zwanzig Kilometern Höhe war er nervöser gewesen. Da gab es so viele Sachen, die schiefgehen konnten. Hier und jetzt gab es genau zwei Möglichkeiten: Leben oder Tod. „Also, wie sieht es aus?“
„Wir arbeiten daran, Edward.“
Toll, dachte er wütend. Solche Antworten, das wusste er aus jahrelanger Erfahrung, bedeuteten, dass da unten keiner einen reiflich überlegten Plan hatte, ihn aus seinem Dilemma zu befreien. Wie konnte dies auch nur passieren? „Ist schon merkwürdig, oder? Ich meine, da gehe ich raus, um diesen Adapter auszuwechseln, und was passiert? Eine Explosion. Und alle tot. Außer ich. Das ist doch merkwürdig, oder?“
„Ja, Edward. Das haben Sie schon gesagt.“
„Scheiße! Ich habe verdammt nochmal das Recht dazu, euch das um die Ohren zu hauen!“ Stanford III. drehte seinen Kopf etwas nach links. „Es tut sich immer noch nichts. Was ist los?“ Vierzehn Meter, stellte er belustigt fest. „Ich kann die ‚Gwenda‘ kaum noch sehen!“
„Was? Stanford? Was...“
Seufzend atmete er einmal tief durch. „Es war ein Witz, Leute.“ Er betrachtete den einen dicken Schlauch, der direkt zur Luke führte. „Automatik funktioniert immer noch nicht“, sagte er. „Verbleibender Sauerstoff... Nun, es wird knapp werden, Jungs.“ Eigentlich war es sinnlos. Nie und nimmer würde ein herkömmliches Shuttle mit einer Rettungscrew schnell genug hier oben sein. Wenn überhaupt, so kalkulierte Stanford III. nüchtern, dann musste das mit der Automatik klappen. Sonst hieß es unweigerlich Auf Wiedersehen. Der Schlauch, der von seinem Raumanzug hin zur automatischen Winde führte, straffte sich. Zweiundzwanzig Meter. Gott sei Dank hatte er rechtzeitig den Schlauch bei sich eingehakt. Wenn nicht, wären alle Versuche, ihn irgendwie zu retten, völlig für den Arsch. „Also was ist jetzt? Habt ihr Kontakt zum Bordcomputer herstellen können?“
„Einen Moment, Edward...“
„Ach, Scheiße!“, fluchte Stanford III.
Alles lag daran, ob irgendein technisches Genie unten auf der Erde im Kontrollraum es schaffen würde, an all den ausgefallenen Systemen vorbei eine Verbindung mit dieser verfluchten Winde herzustellen. Wenn dies gelang, dann... Aber bis jetzt sah es so aus, dass er entweder elendig erstickte, zweiundzwanzig Meter neben der ‚Gwenda‘, oder der Schlauch riss und er erstickte ein paar hundert Meter weiter entfernt. Scheiße, dachte er zerknirscht. Kommt beides auf das selbe hinaus. „Mir fällt gerade ein, dass ich mein Testament nicht umgeschrieben habe.“
„Edward?“
„Ja, verdammt. Wenn ich heute sterbe, bekommt mein ganzes Geld Thelma. Diese elende Hexe!“ Thelma war seine erste Frau gewesen. Und sie hatte sich in seinem Ruhm sehr wohl gefühlt. So wohl, dass sie es nicht für nötig gehalten hatte, ihren Liebhaber vor ihm geheimzuhalten. Was für eine Demütigung war das für ihn, den berühmtesten Menschen des Planeten gewesen. „Kann ich das jetzt noch machen?“, fragte er interessiert. Er rechnete nicht mit einer Antwort.
„Das können Sie, Edward.“
„Bitte?“
„Ihr Testament, Edward...“
Er runzelte die Stirn. „Das klingt zynisch, Leute.“
„Verzeihung!“
„Was solls. Also gut. Ihr nehmt doch alles auf?“
„Ja.“
„Okay.“ Trotz seiner misslichen Lage versuchte er eine würdige Haltung hinzubekommen. „Blöde Kabel! Blöde Explosion!“ Er atmete tief durch. „Ich, Edward Stanford III., vermache mein gesamtes Vermögen meiner geliebten Frau Joanna Stanford. Ich bin angesichts meiner durchaus hoffnungslosen Situation im vollen Besitz meines Geistes. Und ich hoffe, dass Thelma mit ihrem beknackten Oxford-Professor glücklich sein wird. Ihr vermache ich das Geschirr, welches sie noch nie leiden konnte. Das blaue, mit den komischen Mustern, was wir von ihren Eltern geschenkt bekommen haben. Möge Thelma in Frieden ruhen. 20. Januar 2037, Edward Stanford III. Habt ihr alles?“
„Sollen wir das so übernehmen?“
„Klar!“, sagte er. Jetzt hatte er alles geregelt. Jetzt fehlte noch das I-Tüpfelchen: Das Funktionieren der automatischen Winde, die ihn zurück an Bord bringen würde. „Das wäre echt toll“, murmelte Stanford III. „Sagt mal... Ich meine, ich stecke hier in einem Knäuel aus Drähten und Schläuchen fest. Kann mich kaum bewegen. Wenn das mit der Winde klappt, wie soll...“
„Edward?“
„Ja?“
„Das ist nicht das Problem.“
„Aha? Mal angenommen, die Winde zieht mich wieder rein... Wie geht es dann weiter?“
„Neben der Winde ist eine weitere Automatik eingebaut. Eine Art... Schweizer Taschenmesser, verstehen Sie?“
Kurz blickte Stanford III. auf die Anzeige. „Toll, ich bin beeindruckt. Also wenn in zwanzig Minuten die Winde funktioniert, dann werde ich im modernsten Shuttle der Welt durch ein Taschenmesser von den verfluchten Kabeln getrennt?“
„Ja.“
„Großartig!“ Wirklich großartig! Stanford III. sah zu dem Schlauch, der ihn noch davon abhielt, ins All abzudriften. Schöne Scheiße! Bei der Explosion innerhalb der ‚Gwenda‘ hatte sich ein Teil der Außenwand gelöst. Genau an der Stelle, wo er den Adapter austauschen wollte. Das hatte er nun davon. Kabel und Schläuche umgaben ihn wie Schlangen, bei jeder Bewegung sich mehr und mehr zusammenziehend. „Fünfzehn Minuten!“
„Wir arbeiten daran, Edward.“
„Das finde ich wirklich toll!“
Fünfzehn Minuten später zeigte die Anzeige mit aller Deutlichkeit an, dass der Sauerstoff sich dem Ende neigte. Edward Stanford III. schwebte noch immer zweiundzwanzig Meter neben der ‚Gwenda‘. Er hörte ein Geräusch hinten im Anzug. Der Sauerstoff im Hauptbehälter war alle. Der kleine Behälter vor ihm auf der Brust begann zu blinken. Jetzt hatte er vielleicht noch drei, vier Minuten. „Also, das wars wohl!“, brummte er mürrisch. Gleichzeitig versuchte er, sich selbst in den letzten Atemzügen seine Lebens das zu bewahren, für das ihn die Mehrzahl da unten auf dem Planeten liebten: Seinen Humor. „Ich hab noch drei Minuten. Irgendwelche Sonderwünsche?“
„Halten Sie durch, Edward!“
„Ach, hört doch mit dem Scheiß auf!“
„Wir haben es gleich.“
Stanford III. verzog das Gesicht. „Was bedeutet gleich?“ Und dann wurde er zurück zur ‚Gwenda‘ gezogen. „Wow!“ Zwanzig Meter... Siebzehn... Vierzehn... Zehn... Sieben... „Oh nein!“
„Edward?“
„Das glaubt ihr nicht!“, fluchte Stanford III. Vier Meter vor dem Ziel war der Schlauch gerissen. Er wurde durch die Flugbewegung des Shuttles nach hinten gewirbelt. „Scheiße!“
„Edward? Stanford?“
Nur wenige Sekunden waren verstrichen, aber die ‚Gwenda‘ war deutlich kleiner geworden. „Der Schlauch ist gerissen. Scheiße!“
„Das Shuttle...“
„Habt ihr nicht gehört? Der Schlauch ist gerissen!“ Stanford III. drehte sich asymetrisch um seine eigene Achse, trieb in den Raum hinaus. „Habt ihr das mit dem Testament?“
„Edward, was...“
Edward Stanford III. antwortete nicht mehr.
„Edward!“
Jetzt, wo sein Ende immer näher rückte, zog Stanford III. Bilanz aus seinem Leben. Jahrgangsbester. Militärakademie. Verdienstvoller Veteran des Nordkorea-Konflikts. Testpilot. Special Team Air Force. NASA. „Das wars wohl“, murmelte er mit seinem letzten Atemzug. Bevor der Sauerstoffmangel ihn in eine gnädige Ohnmacht schickte, blickte er noch einmal zu den Sternen. Da wollte er immer hin. Davon hatte er stets geträumt. Dass er nun nicht lebend sein Ziel erreichte... „Scheiße!“ Edward Stanford III. schloß die Augen und starb mit der zufriedenen Gewissheit, dass der Oxford-Professor, der in diesem Moment wahrscheinlich seine Ex-Frau Thelma beglückte, einen kleineren Schwanz hatte als er. Wenigstens das.
ENDE
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26.02.2003