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Sichtweisen
Teil 1
Es war dieses warme Gefühl der Nähe, das er hasste. So unendlich viel kälter als diese alte Nähe und doch nötig, um nicht zu erfrieren. Ein Kick, die Droge, nach der er süchtig war, obwohl sie ihm nur Leid zufügte. Weil er immer und immer wieder aufs Neue realisieren musste, dass sie nur mit ihm spielte. Er hätte ihr nicht die Freundschaft schenken dürfen, an dem Tag, an dem sie aufhörte, ihm ihre Liebe zu schenken. Jetzt kam er nicht mehr davon weg. Sie hingegen genoss das Gefühl, einen guten Freund zu haben, der ihr ihre Entscheidung verziehen hatte. Das schmerzhafteste war die Selbstbeherrschung, der Zwang, sich nicht zu rühren, sich nichts anmerken zu lassen, weil sonst alles ganz schnell vorbei sein könnte. Weil er sonst erfroren wäre, ganz alleine dort draußen.
Heute sollte sich alles entscheiden. Heute war er bereit, alles zu riskieren, alles zu verlieren. Er stand allein vor dem Eingang und starrte ziellos in die Dunkelheit. Der Rauch der Zigarette schien in der Kälte zu gefrieren. Als würde er gleich, festgefroren zu einer kunstvoll geschwungenen Skulptur, zu Boden fallen und wie Glas zerschellen. Es war dazu bestimmt, schief zu gehen, das wusste er. Dann drückte er die Zigarette aus und ging hinein.
Sie redeten, lange, wie immer, vom Alkohol beflügelt. Er spürte, wie die Nähe angenehmer wurde und genoss es. Sie ließen nicht mehr von einander, verloren sie sich kurz, fanden sie schnell wieder zusammen. All die anderen waren nur Kulisse, ein dichter Wald von Gesichtern, die sie anstarrten, doch die beiden sahen nicht zurück. Er merkte, wie alle Zweifel, alle Sorgen von ihm abfielen, die Unsicherheit, die Tränen, die Qualen, alles, was ihn hatte leiden lassen, entwich seiner Seele. Sie versanken, tänzelnd und leicht, in unbekümmerten Träumen, die so schon so oft geträumt und nur vergessen hatten. Alles war wieder so wie früher.
Teil 2
Und stetig stieg sein Verlangen. Er brauchte die kleinen Begegnungen jeden Tag, versuchte, sie herauszuzögern und es gelang ihm, sie zu steigern, sie zu intensivieren. Doch um seine Lust zu stillen, die jeden Tag zu wachsen schien, brauchte es mehr als flüchtige Gespräche. Sie war weit weg, viel zu weit, aber in seinen Träumen kann man das Unmögliche schaffen und ein bisschen schien es ihm, als wäre alles nur ein Traum.
Heute sollte sich alles entscheiden. Heute war er bereit, alles zu riskieren, alles zu verlieren. Er saß vor dem Eingang und beobachtete einen Rauchenden, der Qualm war in der kalten Luft viel deutlicher zu sehen und drehte und verformte sich, ehe sich die winzigen Teilchen in der Nacht verloren. Dann wurde die Zigarette ausgedrückt und der Mann ging hinein, er jedoch saß noch eine ganze Weile dort draußen, vor Nervosität, vor Angst. Es war dazu bestimmt, schief zu gehen, das wusste er. Dann nahm er sich ein Herz und ging hinein.
Es war schön, sie lachen zu sehen, und es tat erneut weh, als sie ging. Sie verlor sich überall, in all den Blicken, die sie bewunderten, die ihr folgten und schließlich verharrte sie bei dem, der auch seit damals nicht einen einzigen Tag von ihr hatte lassen können. Die beiden versanken in einer Vielzahl von Worten, deren Inhalt ziellos durch die Nacht schwappte, doch waren ihre Gedanken nicht mehr mit Worten zu sagen, nur noch mit dem Herzen. Ihm wurde kalt. Er holte seinen Mantel und fand sie nicht mehr vor, als er wieder kam. Nur noch wenige Menschen waren da, der Raum wirkte klein und verlassen. Ein paar Sekunden starrte er in die Leere, dann ging er.