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Novelle Sommeralbtraum

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08.01.2024
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Sommeralbtraum

Dienstag, 25. Juli

»Das ist es? Sie schlagen sich?«
»Ja! Ist das nicht irre?«
»Das ist bescheuert!«
»Aber nein, das ist wie in dem Film, du weißt schon, wo Brad Pitt Edward Norton ist!«
»Das ist bescheuert!« Sarah gefiel es nicht, sie wandte sich bereits zum Gehen. Die anderen folgten ihr. Sie waren zu dritt gekommen: Sarah, Lisa und Mel. Mel schien begeistert, ihre Augen funkelten und sie hüpfte beim Sprechen. Aber Sarah hatte entschieden und Lisa ohnehin keine eigene Meinung.
Ich fand es einerseits widerwärtig, andererseits faszinierte es mich. Eben hatte Ronny, ein kleiner, dicklicher Junge aus der Parallelklasse Richard Branden zum Weinen gebracht. Hallo? Richard Branden! Schülersprecher unserer Schule seit ich denken kann. Zunächst hatte Richard klar die Oberhand behalten. Er hatte Ronny ausgelacht, ihn geschupst und in den Hintern getreten. Aber dann war Ronny urplötzlich ausgerastet. Laut schreiend war er auf Richard zugestürmt, hatte ihn umgeworfen und sich dann, nach kurzem Gerangel, auf seine Brust gesetzt. Mit den Knien hielt er Richards Arme fixiert. Unter den Anfeuerungen der Umstehenden begann Ronny damit, Richard ins Gesicht zu schlagen. Zunächst waren das harmlose Ohrfeigen, die vermutlich mehr Richards Stolz verletzten, als dass sie ihm tatsächlich weh taten. Aber aufgestachelt durch das Gejohle der anderen, sollte sich das rasch steigern. Zuletzt schlug Ronny, zwar noch immer mit der flachen Hand, jedoch mit voller Kraft zu. Über Richards feuerrote Wangen liefen Tränen und ein letzter, irgendwie verunglückter Schlag traf seine Nase, was sie tatsächlich bluten ließ. Drei Mal klopfte Richard Branden mit der flachen Hand auf den Boden. Als Zeichen, dass er aufgab.
Schon klar, dass Sarah das nicht sonders gefallen hatte. Richard war einer von ihnen. Einer der Reichen und Schönen. Ronny hingegen – wahrscheinlich kannte sie noch nicht einmal seinen Namen – nur ein kleiner, fetter Niemand.
Während Ronny und Richard, begleitet von Schulterklopfen und ungläubigem Kopfschütteln, von der Menge verschluckt wurden, beobachtete ich, wie die drei Mädchen Richtung Ausgang stolzierten. In sieben Schuljahren hatte Sarah Dickerson vermutlich keine zehn Worte mit mir gewechselt; und mit Sicherheit kein einziges freundliches.
Die drei erreichten eben die Tür, als Liam, Sarahs Freund oder Exfreund, so genau kannte niemand den aktuellen Stand, laut vernehmen ließ: »Kirk, was meinst du, wollen wir als nächste?«
»Spinnst du!«, entfuhr es Ned, Liams bestem Freund und Schatten. Sarah blieb jäh stehen und fuhr herum. Der Schrecken stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Spinnst du!, dachte auch ich. Niemand, absolut niemand legte sich freiwillig mit Kirk McDance an. Der Typ tickte nicht richtig! Kirk war ein waschechter Irrer! Bereits zweimal sitzengeblieben und folglich zwei volle Jahre älter und zudem zwei Kopf größer als die meisten. McDance prügelte sich andauernd und verlor nie! So hieß es zumindest; obgleich auch er einmal mit leuchtend violettem Veilchen zur Schule gekommen war und ihm seither ein Schneidezahn fehlte.
»Bist du verrückt geworden?«, blaffte Sarah Liam an; in Windeseile war sie zurückgekehrt, Mel und Lisa im Schlepptau.
»Mach dir keine Sorgen, SQu, ist doch nur Spaß«, erwiderte Liam lachend.
Ich hasste es, wenn er sie SQu nannte! Sie war keine verdammte SQu – aber wen interessierte das schon?
»Nicht McDance«, fügte Liam etwas lauter hinzu, »wir machen nur Spaß.«
Kirk McDance saß etwas abseits und rauchte. Zunächst hatte es den Anschein, als hätte er Liam nicht gehört. Dann stand er schwerfällig auf, warf die Zigarette weg, kratzte sich beiläufig am Schädel und meinte: »Sicher, lass uns etwas Spaß haben.«
»Liam!«, kreischte Sarah hysterisch, aber er küsste sie auf die Stirn und schob sie beiseite. Jetzt baute Ned sich vor Liam auf und ich konnte ihn flüstern hören: »Das ist keine gute Idee, Liam. Eine ganz beschissene ist das, Buddy!« Aber Liam tätschelte ihm wortlos die Wange und drängte sich vorbei.
Inzwischen hatte Kirk die Mitte der alten, ausrangierten Sporthalle erreicht, wo rund vierzig aufgebrachte Schüler und Schülerinnen einen großen Kreis bildeten.
Liam Basile maß 1,82m, hatte breite Schultern und war Capitan des Footballteams. Neben McDance wirkte er geradezu schwächlich. Sarah verbarg ihr Gesicht in den Händen, als McDance einen großen Schritt auf Liam zu machte. Dann krachte es.
»Was ist hier los?«, brüllte unser Schuldirektor, unmittelbar neben ihm stand der Hausmeister. Sie hatten die Seitentür mit lautem Krachen aufgestoßen, dass es den Anschein erweckte, sie hätten sie eingetreten. Ein Reflex ließ Kirk McDance sogleich in der Menge untertauchen. Weder der Rektor, noch der Hausmeister waren gut auf ihn zu sprechen und weiterer Ärger das Letzte, was er gebrauchen konnte. Auch Liam zog den Kopf ein, auch er wollte einer unnötigen Konfrontation mit den beiden aus dem Weg gehen. Im letzten Augenblick, kurz bevor sich die beiden aus dem Staub machten, packte Liam Kirk am Arm und zischte: »Das ist noch nicht vorbei, McDance!«
Ich stand keine drei Meter entfernt und konnte mit ansehen, wie Kirk Liam kurz mit undurchschaubarer Miene fixierte, »Okay« sagte, ehe er sich losriss und endgültig verschwand. Gebannt beobachtete ich die Geschehnisse, bis auch Liam durch die Umkleiden verschwunden war. Erst dann besann ich mich und konnte gerade noch rechtzeitig unerkannt entkommen.

***​

Am nächsten Morgen verbreitete sich die Nachricht noch vor der ersten Pause. Der Kampf sollte schon heute Abend nachgeholt werden, drüben in Barnetbees Chocolate Wonder.


Mittwoch, 26. Juli, morgens

Wäre das Ganze ein Film, würde mir vermutlich die Rolle der verkannten Schönheit samt Brille und komischer Frisur zufallen. Vielleicht aber auch nicht, denn ich trug weder eine Brille, noch hatte ich eine komische Frisur und war ohnedies kein überdurchschnittlich intelligenter Außenseiterfreak oder dergleichen. Das Einzige, was mich für die Rolle prädestiniert hätte, war der Umstand, dass ich unsterblich in Liam Basile verknallt war. Das traf jedoch auf nahezu alle Mädchen unserer Schule zu.
Liam war –, ich meine, er war –, Liam war ganz einfach wunderbar! Liam Basile hätte auf alle Fälle die Rolle des Jungen, in den alle verliebt wären. Und jetzt wollte Kirk McDance ihm das Gesicht zerschlagen. Nein, schlimmer noch, Liam wollte, dass McDance ihm das Gesicht zerschlägt. War er verrückt geworden? In weniger als sechs Monaten würde die Highschool zu Ende sein und Liam nach Princeton gehen. Was wollte er damit beweisen? Seine Familie hatte Geld, er war intelligent, sah gut aus und würde auf eine Eliteuniversität gehen! Was wollte er noch?
Liam würde nach Princeton gehen und ich ihn vermutlich niemals wieder sehen. Ich selbst würde auf eines der staatlichen Colleges gehen, hatte mich noch nicht entschieden, war aber auch egal. War ohnehin alles egal. Aber auch Sarah würde ihn dann sobald nicht mehr zu Gesicht bekommen und das war das einzig Gute daran!
Jedem, der es hören wollte oder auch nicht, erzählte sie in aller Ausführlichkeit, dass sie zunächst für ein Jahr nach Europa gehen und dann an der University of Cambridge eine klassische Schauspielausbildung absolvieren würde. Dann hätte dieses kindische Theater mit den beiden endlich ein Ende. Hoffentlich!
SQu! SQu hier und SQu da! Einmal alle fünf Jahre fand im County die Wahl zu SuperQueen satt. Die lokale Misswahl der Misswahlen sozusagen. Und Sarah Dickerson hatte diese mit sieben in der Kategorie bis zehn Jahre gewonnen. Zumindest glaubten das alle. In Wahrheit hatte Sarahs Cousine Clara gewonnen, nur hatte die sich kurz vor der Siegerehrung vor Aufregung die Seele aus dem Leib gekotzt. Und das kleine Miststück Sarah war kurzerhand für sie nach vorn geeilt. Zugegeben, die beiden hatten sich seinerzeit recht ähnlich gesehen und die Jury kurzzeitig verwirrt gewirkt. Bis zum heutigen Tag ist es mir dennoch ein Rätsel geblieben, wie sie damit hatte durchkommen können. Clara war nur für den einen Sommer hier gewesen und das Ganze ihr sicher viel zu peinlich, als dass sie etwas gesagt hätte. Und außer mir hatte es offensichtlich niemand mitbekommen. SQu? Pah! SQu am Arsch!

Sicher, Sarah war hübsch. Sehr sogar. Aber das war ich auch. Vielleicht hatte sie einen größeren Busen und es ganz sicher besser verstanden, mit dem Hintern zu wackeln. Dafür war ich nett, hilfsbereit und zuvorkommend. Hatte ich sie damals etwa verpfiffen?
»Betherly?«
Aber nett und zuvorkommend zu sein zählt scheinbar nicht viel.
»Miss Forester, haben Sie die Frage verstanden?«
»Was? Ähm –, ja, sicher!«
»Und?«
Ms. Woods sah mich mit ihrem fragendwissenden Blick an und ich starrte dumm glotzend zurück. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie von mir wollte.
»Und«, fragte sie erneut, »ja oder nein?«
»Ähm, ja«, antwortete ich vorsichtig mit fragendem Blick und der leisen Hoffnung, dass sie sich damit zufrieden geben würde. Und das tat sie. Mehr noch, Ms. Woods lächelte sogar und schrieb meinen Namen neben den von Wendy Forester und David Lance an die Tafel.
Fuck! Das Integrationsprojekt! Das hatte ich glatt vergessen.

»Aua!«
»Hast du den Verstand verloren?«, zischte Natalie, meine Sitznachbarin und beste Freundin. Sie hatte mir gegen das Schienbein getreten, nun starrte sie mich entsetzt an. »Willst du unbedingt vergewaltigt und umgebracht werden?« Ihre Augen funkelten zornig, sie schien das tatsächlich ernst zu meinen.
»Gut, somit fehlt nurmehr einer oder eine. Wer meldet sich freiwillig?«, ließ Ms. Woods hören.
Ich setzte meinen flehentlichsten Blick auf und flüsterte: »Bitte!«
»Nein«, entgegnete Natalie kopfschüttelnd, »dass kannst du vergessen!«
»Bitte!«
»Vergiss es, ich bin doch nicht bescheuert!«
»Bitte, bitte, bitte!«
Natalies Unterlippe begann zu beben und ihre Pupillen hüpften nervös hin und her. Dann ließ sie den Kopf theatralisch aufs Schreibpult sinken und hob den Arm.

***​

Nach dem Klingeln der letzten Stunde drückte ich mich ein Ewigkeit bei den Fahrrädern herum. Liams Rad stand noch abgeschlossen im Ständer, aber er kam nicht. Und was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: Geh bitte nicht zu Barnetbees, mir gefällt dein Gesicht genau so, wie es jetzt aussieht? Oder besser noch: Schick das Miststück Sarah endlich in die Wüste und geh mit mir?
Sicher! Wach auf Mädchen. Geh nach Hause und kümmere dich um deinen eigenen Mist!
Den restlichen Nachmittag über lief ich ziellos umher. Hätte ich nicht mein ganzes bisheriges Leben hier verbracht, hätte ich mich sicher verlaufen. So aber verirrten sich lediglich meine Gedanken.
Als es dämmerte, beschloss ich nach Hause zu gehen; und zu Hause zu bleiben. Was ging es mich an? Wenn er sich unbedingt umbringen wollte – bitte! Ganz sicher würde ich ihm nicht auch noch dabei zusehen.


Mittwoch, 26. Juli, abends

Barnetbees Chocolate Wonder stand seit dem Brand vor vier Jahren leer, beziehungsweise diente die alte Süßigkeitenfabrik seitdem als Treffpunkt für allerlei zwielichtige Zeitgenossen. Tagsüber warfen Kinder Scheiben ein und veranstalteten Mutproben, nach Einbruch der Dunkelheit wagten sich jedoch nur mehr wenige hierher. Nachts gehörte Barnetbees dem Auswurf der Gesellschaft: Obdachlose, Junkies, Prostituierte und schlimmeres. Tagsüber konnte man ihre Spuren finden und Witze darüber machen. Ihnen tatsächlich begegnen wollte niemand. Zumindest niemand, den ich kannte.
Kurze Zeit nach dem Brand war auch ich mit Freunden öfter hier gewesen, jetzt erkannte ich das Gelände kaum wieder. Damals war Barnetbees ein echt cooler Treffpunkt gewesen. Hier hatte ich meinen ersten Joint geraucht, noch heute erinnere ich mich gern an die Zeit zurück.
Jetzt allerdings machte mir der Ort Angst. Was um alles in der Welt hatte ich hier verloren?
Unschlüssig blieb ich stehen. Ich wusste ja noch nicht einmal, wo genau der Kampf stattfinden sollte. Und begegnet war mir bisher auch noch niemand. Ebenso wenig wusste ich, wann genau sie sich treffen wollten, denn ´am Abend` ist eine verdammt ungenaue Zeitangabe.
Ich wandte mich um und blickte zurück zum Loch im Zaun. Mach kehrt, Mädchen, sieh zu, dass du von hier verschwindest!
Von einem auf den anderen Fuß tappend verweilte ich an Ort und Stelle, als plötzlich Stimmen zu hören waren.
»Los, rüber zum Kesselhaus, da kriegen wir ihn!«
»Marc, du bleibst hier! Falls er durch den Zaun abhauen will.«
Augenblicklich versteckte ich mich hinter einem Stapel Holzpaletten und hoffte, dass sie mich nicht bemerkt hatten.
Dem Anschein nach hatte ich Glück, sie liefen weiter, nur einer blieb stehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als der Verbliebene – Marc? – in meine Richtung sah und die Stirn kräuselte. Er zögerte, blickte sich nach allen Seiten um, dann kam er langsam auf mich zu.
Fuck, fuck, fuck! Was sollte ich jetzt machen?
Meine Hände zitterten wie blöd. Unfähig mich zu bewegen kauerte ich auf dem Boden hinterm Holzstapel. Nur mehr drei Schritte und er würde mich entdecken.
Tu doch etwas!
Noch zwei.
Verdammt, tu irgend etwas!
Noch einer.
Endlich tat ich etwas: Ich kniff die Augen fest zu, legte die Hände über den Kopf und machte mich ganz klein.
»Marc!«, ertönte von weitem eine Stimme. Ich blickte auf und da stand er. Direkt über mir und sah mich an. Nur für eine Sekunde.
»Marc, der Arsch will durch den Zaun!«
Dann wandte er sich um und rannte los. Ich stand auf und schaute ihm durch einen Spalt im Palettenstapel nach. Mit schnellen, weit ausladenden Schritten lief er hinüber zum Zaun, wenig vor ihm rannte ein anderer. Ein paar Meter vor dem Loch holte er ihn ein und brachte ihn mit einem gezielten Tritt zu Fall. Kurz darauf trafen auch die anderen ein. Sie packten den am Boden liegenden Jungen und zerrten ihn ein gutes Stück vom Zaun weg. Er wehrte sich kaum und als sie ihn, nicht mehr all zu weit von mir entfernt, erneut zu Boden stießen, konnte ich sein Gesicht erkennen.
Kirk McDance.
Von den anderen, insgesamt waren es vier, kannte ich keinen. Mit Ausnahme von Marc und der sah ein ums andere Mal verstohlen zu mir rüber. Natürlich kannte ich auch ihn nicht, nur seinen Namen. Und seine Augen – seit er mich eben angesehen hatte.
»Was soll das werden, McDance? Dachtest du etwa, damit wäre es erledigt?«
McDance lag bäuchlings auf dem verwitterten Betonboden, stützte sich auf seine Ellbogen und schaute zu dem Jungen auf, der ihn angesprochen hatte. Tränen liefen über seine Wangen, sein Kinn zitterte und seine Augen sprachen eine unverkennbare Sprache. Kirk McDance hatte Angst. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Kirk McDance lag weinend am Boden und machte sich vor Angst schier in die Hose. Und dabei wirkten die Jungs, die ihn umzingelten, allesamt jünger als er. Ein bis zwei Jahre, schätzte ich, etwa mein Alter.
»McDance!« Ein anderer Junge mit langem, schlohweißem Haar sprach Kirk an. Er stand am weitesten von mir entfernt, in McDance’s Rücken. Kirk zögerte und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Kurz ließ er den Kopf hängen und als er ihn wieder hob, konnte man von seinem Blick ablesen, was nun gleich geschehen würde. Kirk McDance drehte sich zu dem Jungen um und der trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Das widerwärtige Geräusch werde ich mein Leben lang nicht vergessen können. Kirk wurde herumgerissen und landete auf dem Rücken. Er stieß einen kurzen, gepressten Laut aus, seine Augenlider flatterten, er schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Mir wurde speiübel.
»Komm schon, McDance, so schlimm war das nicht.« Der Junge mit den weißen Haaren beugte sich zu ihm hinunter und packte ihn am Kinn. »Du hast zwei Tage!«
Lächelnd betrachtete er Kirk’s blutüberströmtes Gesicht, mit dem Resultat seines Trittes scheinbar sehr zufrieden. Kirk’s linkes Auge war bereits komplett zugeschwollen, die Nase erweckte den Eindruck, als wäre sie plötzlich knochenlos. Dann ließ er ihn los, wischte demonstrativ seine Finger an Kirks Jacke ab und richtete sich auf. »Brich ihm den Arm, Marc«, sagte er emotionslos, während er ein Stück zur Seite ging, in seinen Taschen kramte und eine Zigarette samt Feuerzeug zu Tage förderte. Augenblick erwachte McDance zum Leben. Er schrie und wehrte sich nach Kräften, aber zwei der Jungs stürzten sich auf ihn und hielten ihn unten.
Marc sah sich um, ging ein paar Schritte abseits und kehrte mit einem großen Ziegelstein wieder. Alles Zappeln und Schreien half nicht. Marc platzierte den Ziegelstein unter Kirks Ellbogen und die beiden anderen hielten ihn darauf fixiert. Dann richtete Marc sich auf und hob den rechten Fuß. Noch einmal sah er kurz zu mir rüber, dann trat er zu.
Ich presste beide Hände auf meinen Mund; zu spät. Ein heller, quiekender Laut entrang sich meiner Kehle, weithin hörbar schallte er über den Platz. Alle Augenpaare waren sogleich auf den Palettenstapel gerichtet, hinter dem ich mich versteckt hielt. Vor Entsetzten biss ich mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte.
Marc reagierte sofort. Augenblicklich stürmte er los und war Sekunden später bei mir. Er hielt den Zeigefinger vor seine Lippen, wieder sah er mich an. Leuchtend blaue Augen. Flüchtig berührte er mich sogar an der Schulter und ich schreckte zurück. Da wandte er sich abermals um und ging.
»Nichts, nur so ein dummes Katzenfieh!«, rief er hinüber und als er bei den anderen eintraf, schien niemand an seinen Worten zu zweifeln.
»Zwei Tage, McDance!«, sagte der Weißhaarige noch einmal, dann ließen sie ihn liegen und verschwanden.

Als sie außer Sicht- und Hörweite waren, stand ich auf und lief wie selbstverständlich zu Kirk hinüber. Natürlich gehört es zu meinem Selbstverständnis, Menschen, die in Not geraten waren, zu helfen. Aber am Boden lag noch immer Kirk McDance. Und nur weil sie ihm eben in den Arsch getreten hatten, machte ihn das kein Stück sympathischer.
Bei ihm angelangt musste ich gegen den zunehmenden Drang ankämpfen, augenblicklich kehrt zu machen und davonzulaufen. Kirk bemerkte mich, schreckte zusammen und sah zu mir auf. Aber das war nicht mehr der harte Kerl, den ich zu kennen glaubte. Aus seinem Blick war alles Harte oder Coole verschwunden. Mich sah ein Junge an, der verletzt worden war und Hilfe bedurfte. Als er mich erkannte, verschwand dieser Junge sofort. Aber nur kurz. Ich versuchte zu lächeln und streckte ihm beide Hände entgegen. McDance wirkte verwirrt, ließ sich jedoch von mir aufhelfen.
Er sah fürchterlich aus! Sein Gesicht war noch stärker angeschwollen, die Nase doppelt so groß und seine Zahnlücke umfasste nun eineinhalb Zähne. Unschlüssig darüber, was ich nun machen sollte, vernahm ich plötzlich rasch näher kommende Stimmen und Schritte. Ich fuhr herum und entdeckte Liam und einige andere Jungs meiner Schule. Kirk, der sich eben noch von mir hatte stützen lassen, tat zwei Schritte von mir weg und seine Miene versteinerte.
»Da ist er!«, rief Liam von Weitem und als er mich erkannte: »Was hat die hier ver… « Doch er verstummte mitten im Satz, als er Kirk’s geschundenes Gesicht bemerkte.
Ohne darüber nachzudenken stellte ich mich vor Kirk, der mich sogleich beiseite stieß und einen Schritt auf Liam zu machte. Liam interpretierte die Situation vollkommen falsch. Das Entsetzen, Kirk’s Zustands wegen, stand ihm und den anderen deutlich in die Gesichter geschrieben. Sie begriffen sehr wohl, dass hier etwas vorgefallen war, das ihre albernen Fightclubspielchen um Längen übertraf. Es machte ihnen unverkennbar Angst, aber Liam war kein Feigling. Offenkundig glaubte er, mich beschützen zu müssen. Auch er setzte sich in Bewegung, ging jedoch nicht auf Kirk los. Er schob sich an ihm vorbei, ergriff meinen Arm und zog mich von ihm weg. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, wollte er wissen und sah mich besorgt an.
»Sicher«, entgegnete ich verdutzt, »mir geht es gut.«
Einen Augenblick lang sah er mich an, dann wandte er sich um und brüllte: »Was soll der Scheiß, McDance!« Er packte ihn am Kragen und Kirk holte trotz seines lädierten Armes zum Schlag aus. Wieder vernachlässigte ich das Denken, ließ alle Vernunft sausen und warf mich zwischen die beiden. »Es reicht!«, brüllte ich so laut ich nur konnte. Und zu meiner Verwunderung hörten sie auf mich. Vielleicht war Liam erleichtert, seiner heroischen Geste keine Taten folgen lassen zu müssen, und Kirk hatte wahrhaftig schon genug abbekommen.
»Es reicht«, sagte ich noch einmal, diesmal ohne zu schreien und konnte sie ohne großen Kraftaufwand voneinander trennen. Kirk hielt Liam mit seinem einen intakten Auge fixiert und Liam sah mich verwundert an.
»Geht nach Hause!«, sagte ich und wunderte mich über die Bestimmtheit, die meinen Worten beiklang. Und nach kurzem Zögern bewegten sie sich tatsächlich. Zunächst Kirk, dann Liam und die anderen. Es dauerte unendlich lange, bis sie endlich weg waren. Keiner ließ den anderen aus den Augen, aber letztlich stand ich allein im Hof von Barnetbees und mit einem Mal wurde mir kalt. Plötzlich war ich unendlich müde und mein Kopf vollkommen leer. Ich wollte nur noch nach Hause und schlafen.
Am Zaun angelangt zwängte ich mich durch das Loch und erstarrte mitten in der Bewegung, als unmittelbar neben mir eine Gestalt aus der Dunkelheit trat. Kirk. Er öffnete den Mund, sagte jedoch kein Wort. Dann hob er zögerlich die Hand wie zum Gruß. Ich verstand und nickte. Er ließ die Hand wieder fallen, senkte den Blick und verschwand.


Donnerstag, 27. Juli

Am nächsten Tag geschah etwas sehr Eigenartiges. Zunächst schien alles wie immer, bis zur ersten Pause war das einzig Ungewöhnliche, der leere Platz neben mir, da Natalie sich krankgemeldet hatte. Auf meinem Weg vom Klassenzimmer zum Pausenhof sollte sich das jedoch schlagartig ändern. Mitschüler, mit denen ich nichts zu tun hatte, starrten mich unverfroren an. Sie blieben meinetwegen stehen oder drehten sich nach mir um. Sie tuschelten, wenn ich vorüberging, oder machten andere auf mich aufmerksam. Wirklich skurril wurde es jedoch erst, als Liam samt Gefolge schnurstracks auf mich zugesteuert kam. Er legte einen Arm um mich und zog mich beiseite. »Was war das gestern mit dir und McDance?«, wollte er wissen. »Wer hat ihn so zugerichtet und was hattest du da verloren?«
Liam hielt mich im Arm wie –, wie man seine Freundin im Arm hält. Seine Fragen kamen präzise und scharf wie bei einem Verhör. Für Umstehende war die Botschaft eindeutig. Liam nahm mich beiseite, wie man jemanden beiseite nimmt, den man ausquetschen will. Aber das stimmte nicht. Liams Körpersprache mochte unmissverständlich sein, aber er hielt mich nicht wirklich fest. Hätte ich gewollt, hätte ich mich jederzeit aus seiner Umarmung lösen können; was ich natürlich nicht tat. Auch seine Augen sprachen eine vollkommen andere Sprache. Sein Gesicht mochte sagen: Raus mit der Sprache, Mädchen! Aber seine Augen schienen noch immer besorgt. Genau wie gestern Abend.
Als er seinen Arm von mir nahm und sie mich allein stehen ließen, wusste ich nicht einmal mehr, was genau ich geantwortet hatte. Irgendetwas von wegen zufällig und was geht dich das an. Von da an beschäftigte mich nur mehr eine einzige Frage: Warum hatte Liams Umarmung mein Herz nicht augenblicklich implodieren lassen? Ich meine, er hatte mich im Arm gehalten, regelrecht zärtlich! Ich war ihm so nahe gewesen, ich hatte seine Wärme spüren, seinen Duft einatmen können. Und dennoch ärgerte mich mehr, was er sich herausgenommen hatte, als dass ich vor Glück dahingeschmolzen wäre. War es nicht genau das, was ich mir immer erträumt hatte? Was war geschehen? Was war mit mir los, dass ich nicht augenblicklich vor Glückseligkeit gestorben war? Die Frage beschäftigte mich den gesamten Vormittag über, fand jedoch erst am Nachmittag ihre Antwort.

Auf meinem Weg nach Hause machte ich einen Umweg durch die Innenstadt. Ich musste dringend mit Natalie sprechen und wollte ohnehin erfahren, was ihr fehlte.
Natalie fehlte überhaupt nichts, sie hatte einfach keinen Bock auf Schule. Nachdem ich ihr im Schnellverfahren vom Vormittag erzählt hatte, fragte sie lediglich: »Warum?«
»Na, keine Ahnung. Das ist es ja gerade, was ich dir zu erklären versuche. Ich kapier es ja selbst nicht, warum mich Liam plötzlich kalt lässt.«
»Nein, das meine ich nicht. Warum hat er dich nach McDance gefragt?«
Oh, ich hatte ihr ja noch gar nichts von letzter Nacht erzählt.
Drei Minuten später starrte mich Natalie mit großen Augen an. »Du hast was?«
»Na ja, ich weiß auch nicht. Ich wollte ja gar nicht hin, aber –«
»Du bist verrückt geworden.«
»Und dann waren da plötzlich diese Jungs und ich musste mich ganz schnell verstecken.«
»Sie ist verrückt geworden.«
»Und dann kam Marc zu mir rüber und –«
»Wer?«
»Na, Marc! Er kam zu mir rüber und hat mich angesehen. Nur angesehen. Und später kam er wieder und hat –« Da endlich begriff ich es. Ich verstummte mitten im Satz und verstand, warum mir Liam plötzlich egal war.
»Ich verstehe nur Bahnhof!«, meinte Natalie und jetzt war ich es, die sie mit entgeistertem Blick anstarrte. Und dann begann ich einfach zu lächeln. Es ging nicht anders.
»Sie ist verrückt geworden!«

Eine halbe Stunde später hatte ich Natalie alles der Reihe nach erzählt und alle ihre Fragen beantwortet.
»Wow!« war alles, was ihr dann noch einfiel.


Freitag, 28. Juli

Am nächsten Morgen, dem letzten Schultag vor den Ferien, saß Natalie wieder wie gewohnt neben mir. Der Vormittag verlief weitgehend ereignislos, für die letzten beiden Stunden war ein Treffen aller Schüler und Lehrer anberaumt, die am Integrationsprojekt teilnehmen würden.
Natalie und ich schlenderten Richtung Aula. Wir hatten es nicht eilig mit den anderen zusammenzutreffen. Natalie nahm es mir noch immer übel, dass ich sie dazu genötigt hatte, sich freiwillig zu melden. Fortwährend schimpfend lief sie neben mir her, in Händen das Blatt Papier, welches Ms. Woods uns eben ausgehändigt hatte.
»Das glaubst du nicht!«, meinte sie plötzlich, blieb abrupt stehen und starrte den Zettel an, auf dem alle teilnehmenden Schüler und Lehrer aufgelistet waren.
»Was?«
»Liam Basile!«
»Was!« Ich entriss ihr das Stück Papier und begann zu lesen. »Wo?«
»Ganz unten, er muss sich auf den letzten Drücker gemeldet haben.«
Tatsächlich! Laut las ich vor: »Liam Basile, Ned Fishburne, Steven Harris, Melanie Gomez, Lisa Milligan und«, ich schluckte, »Sarah Dickerson.«
Das war eine Katastrophe!

Egal wie langsam wir uns bewegten, schlussendlich saßen wir in einer der zuhinterst gelegenen Reihen der Aula.
Das Integrationsprojekt fand jedes Jahr statt und alle zwei bis drei Jahre nahm unsere Schule daran teil. Bisher hatte ich mich erfolgreich davon fern gehalten und das aus gutem Grund. Eineinhalb Wochen verbrachten die teilnehmenden Schüler zusammen mit den so genannten ´Problemexistenzen`. Was für ein bescheuertes Wort! Die Reiseziele an sich waren durchaus reizvoll. Zumeist handelte es sich um ausgesprochen schöne Flecken, die eine angenehme Atmosphäre boten und dem Gelingen des Projekts förderlich sein sollten. Obendrein mussten die Schüler weder für den Aufenthalt noch für die An- und Abreise bezahlen. Alle Kosten wurden von der veranstaltenden Organisation getragen. Beängstigend waren jedoch die Pexis, wie die Problemexistenzen wenig schmeichelhaft von den meisten genannt wurden.
Darunter waren magersüchtige Mädchen, die seit der Trennung ihrer Eltern mehr auskotzten als sie zu sich nahmen. Stotternde Jungs, die mit fünfzehn noch regelmäßig in ihre Betten machten und alles mitgehen ließen, was nicht niet- und nagelfest war. Und das waren die harmlosen, die bemitleidenswerten Zeitgenossen. Daneben gab es notorische Schläger, wenig glaubwürdige Ex-Drogenabhängige, sogar verurteilte Mörder sollen schon dabei gewesen sein. Vollkommen gestörte Typen und Tussen, neben denen McDance wie ein Waisenknabe aussah. Zugegeben, ich kannte nur die Erzählungen und der Mensch neigt bekanntlich zur Übertreibung. Sollte jedoch nur die Hälfte von dem, was erzählt wurde, stimmen, durfte man sich wahrhaft glücklich schätzen, wenn man ohne seelischen Knacks und in einem Stück zurückkehrte.

»Wo sind die?«
»Keine Ahnung, ich sehe sie auch nirgends.«
Direktor O´Grady lobte eben die hervorragende Quote, die beim letzten Mal erzielt worden war, als Liam, Sarah und die anderen den Saal betraten. Natalie machte mich auf sie aufmerksam, was natürlich vollkommen unnötig war. Liam blieb am Eingang stehen, die anderen begaben sich zu freien Plätzen. Er überflog die Reihen, offensichtlich suchte er etwas. Oder jemanden.
»Schau dir das an«, flüsterte Natalie und deutete mit dem Finger auf Sarah, die stehend neben einer Stuhlreihe verharrte und Liam fixierte. Als ich wieder zu Liam rübersah, trafen sich unsere Blicke. Er hob die Hand und grüßte mich lächelnd. Automatisch tat ich es ihm gleich und mein Gesicht verzog sich zu einem affigen Grinsen.
»Wenn Blicke töten könnten«, bemerkte Natalie treffend, denn nun starrte Sarah mich derart feindselig an, dass es mir eiskalt über den Rücken lief.
Direktor O´Grady bat um Aufmerksamkeit und erhielt sie, als klar wurde, dass er nun den diesjährigen Zielort der Projekttage traditionsgemäß im allerletzten Moment verkünden würde. Demonstrativ wartete er, bis vollkommene Stille herrschte und selbst dann hüllte er sich noch für etliche Sekunden in Schweigen. Offensichtlich genoss er den seltenen Augenblick, ehe er endlich den Mund auftat und sagte: »Isla Clarión!«
»Isla was?« Natalie hatte offensichtlich noch nie von dem Ort gehört. Ein Raunen zog durch die versammelte Schülerschar, scheinbar konnte niemand viel damit anfangen.
»Isla Clarión! Das klingt nach einem verdammt abgeschiedenen Ort, an dem jahrzehntelang miese Experimente mit verschleppten Menschen gemacht wurden! Was spricht denn plötzlich gegen Barbados? Oder Hawaii?« Natalie klang wenig begeistert und auch bei mir löste der Inselname nicht unbedingt Vorfreude aus. Glücklicherweise folgte unmittelbar darauf der ebenso traditionelle Diavortrag, der O´Gradys eigenhändig geschossene Fotos zeigte, da er jeden ausgewählten Ort höchstselbst zuvor bereiste und fotografierte.
Eine Viertelstunde später waren wir allesamt schlauer, wenn auch wenig euphorischer. Isla Clarión war demnach die zweitgrößte und westlichste der zu Mexiko gehörenden Revillagigedo-Inseln. Sie lag gut 200 Seemeilen vor der mexikanischen Küste, war 8,5 km lang, 3,7 km breit und von vulkanischem Ursprung. Abgesehen von einer kleinen Marinestation mit neun Mann Besatzung war die Insel vollkommen unbewohnt. Und abgesehen von etlichen Kilometern zerklüfteter Felsenküste und jeder Menge Seevogelscheiße gab es dort buchstäblich nichts. Da man dies herrliche Fleckchen Erde nur auf dem Seeweg erreichen konnte, würden wir zunächst Mazatlán an der mexikanischen Küste anfliegen und die Reststrecke bis Clarión mit dem Schiff zurückzulegen.
Das klang wahrhaftig – beschissen!

Auf dem Nachhauseweg versicherte mir Natalie, dass sie sich auf alle Fälle krankmelden würde. Und sie legte mir dringend nahe, dasselbe zu tun. Für Natalie war das nichts Besonderes. Wann immer ihr etwas gegen den Strich ging, was nicht selten vorkam, spielte sie kurzer Hand krank. Natalie war keine schlechte Schülerin und solange ihre Zensuren okay waren, schien dieses Verhalten ihren Eltern egal zu sein. Während der letzen Wochen hatte sie es jedoch damit übertrieben und sich mit ihrer gestrigen Aktion fürs Wochenende Hausarrest eingefangen. Normalerweise blieb sie mehrere Tage zu Hause und so, wie sie gestern ihrer Mutter vorgejammert hatte, hätte sie mindesten eine volle Woche im Bett liegen müssen. Schließlich waren Natalies Eltern keine Idioten. Sie tolerierten ihre Spielchen, wollten sich aber auch nicht für dumm verkaufen lassen. Natalie war das egal. Am Montag würden die Ferien beginnen und spätesten in einer Woche wäre Gras über die Sache gewachsen.
Mir viel das Lernen nicht annähernd so leicht wie Natalie. Daher konnte ich es mir nicht erlauben, regelmäßig vom Unterricht fern zu bleiben. Abgesehen davon hielt ich wenig von Natalies Schwänzereien. Was machte sie groß, wenn sie zu Hause blieb? Fernsehglotzen und schlafen. Dazu war mir meine Zeit zu schade. Diesmal war ich jedoch vollkommen ihrer Meinung!


Samstag, 29. Juli

Normalerweise komme ich bestens allein zurecht. Ich weiß mich zu beschäftigen, doch diesen Samstag wurden mir die Stunden lang. Natürlich hätte ich zu Natalie gehen können, aber wir hatten bereits stundenlang telefoniert und nun fiel mir nichts mehr ein, worüber wir noch hätten reden können. Abgesehen davon herrschte extrem dicke Luft im Hause Potter, das musste ich nicht unbedingt hautnah miterleben. Nach dem Abendbrot beschloss ich ein wenig spazieren zu gehen, rein zufällig schlenderte ich Richtung Westen. Zwanzig Minuten später fand ich mich am Ufer des Buffalo Bayou River wieder, auf der anderen Seite erstreckte sich Barnetbees.
Was glaubte ich, dort vorzufinden? Oder besser gefragt: Wen glaubte ich, dort anzutreffen?
Zur Fußgängerbrücke waren es nur mehr knapp drei Minuten, bereits nach zweien klingelte mein Handy. Natürlich war es Natalie, sie war außer sich. Während des Abendessens hatte das Gespräch der Familie Potter angesichts des baldigen Termins zwangsläufig zum Thema Integrationsprojekt gefunden. Unklugerweise hatte Natalie sich dazu hinreißen lassen, ihren Unmut über den diesjährigen Aufenthaltsort überschwänglich kund zu tun. Ihre Mutter hatte sie einen Moment lang schweigend angesehen und dann die Bombe platzen lassen. Nein, nein, nein, Natalie, davor wirst du dich diesmal nicht drücken! Falls du erneut vorhaben solltest, liegen zu bleiben und krank zu spielen, kannst du das gleich wieder vergessen. Du wirst dort hinfahren. Du wirst teilnehmen! Selbst wenn du jetzt vor Zorn tatsächlich krank werden solltest, werde ich dich höchstpersönlich ins Flugzeug setzen!
»Die meint das verdammt ernst, Beth!« Natalie schluchzte, offenbar hatte sie geweint. »Wo bist du? Kannst du herkommen?«
Mit dem Telefon am Ohr stand ich mittlerweile auf der Brücke. In der Nähe des Loches im Zaun standen zwei junge Frauen und stritten sich. Auf der Schotterpiste davor joggte ein Mann mit seinem Hund. »Gib mir eine halbe Stunde, ich muss nur eben noch beim Abspülen helfen.«

Ich erzählte Natalie nichts von meinem Ausflug – ich verstand ja selbst kaum, was ich mir davon versprochen hatte. Eine geschlagene Stunde brachten wir damit zu, Natalies Mom zu verfluchen. Wir wünschten ihr nichts wirklich böses, zumindest tat ich das nicht. Ich hielt Natalies Mom für eine tolle Frau. Ich mochte sie wirklich, aber da sie ihre Tochter zu der Reise zwang und dadurch auch mich, viel es mir momentan schwer, ein gutes Wort für sie zu finden. Im Grunde verstand ich sie und war vollkommen ihrer Meinung. Es war wirklich an der Zeit, dass Natalie sich unliebsamen Dingen stellte. Nur warum musste sie ausgerechnet jetzt damit anfangen, ihrer Tochter diese Tugend näher zu bringen, wo ich davon betroffen war?
Für mich klang Isla Clarión auch nicht besonders verlockend und die vielen Horrorgeschichten, die über das Integrationsprojekt erzählt wurden, machten mir tatsächlich Angst. Zugleich reizte es mich schon lange herauszufinden, was tatsächlich dahintersteckte. Der wahre Grund, warum ich dennoch in Natalies Hasstiraden einstieg, war, dass ich einfach nicht von hier fort wollte.
Nach Ablauf dieser Stunde wandten wir uns Wichtigerem zu. Wir inspizierten Natalies Kleiderschrank und diskutierten, was sie mitnehmen sollte.

***​

Der Sonntag war eine einzige Katastrophe. Nachdem wir erfolglos versucht hatten, Natalies Mom davon zu überzeugen, dass Natalie unbedingt mit zu mir kommen musste, um mir beim Packen zu helfen, hatte Natalie sich so sehr mit ihr gestritten, dass ich nicht einmal mehr zu ihr kommen durfte. Zudem hatte sie ihr das Handy weggenommen.
Bis zum Mittag hatte ich gepackt und alle notwenigen Vorbereitungen erledigt. Von da an starrte ich Löcher in die Luft. Stunde um Stunde widerstand ich der Versuchung, erneut zu Barnetbees zu laufen. Was jedoch angesichts der Tatsache, dass es den gesamten Tag über wie aus Eimern goss, nicht zwangsläufig meiner Willensstärke anzurechnen war.
Nach dem Abendbrot riet mir meine Mutter, bald schon schlafen zu gehen, was mir des frühen Fluges wegen nur vernünftig erschien. Um 6.36 Uhr würden wir vom George Bush International abheben, bereits um 4.00 Uhr sollte wir uns am Flughafen einfinden.
Zwar war ich dem Rat meiner Mutter gefolgt und bereits vor neun Uhr Abend zu Bett gegangen, dennoch spiegelten meine offenen Augen selbst weit nach zwei Uhr nachts noch immer die grün leuchtenden Ziffern meines Weckers wider.


Montag, 31. Juli, sehr früh am Morgen

Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein. Denn als der Wecker zu Fiepen begann, riss er mich aus dem Tiefschlaf. Verstört benötigte ich etliche Sekunden, ehe ich zu mir fand. Und erst als mein Vater, der sich angeboten hatte, mich und Natalie des Gepäcks wegen zum Flughafen zu fahren, leise an meine Tür klopfte, quälte ich mich aus dem Bett.
Dreißig Minuten später standen wir vor Natalies Tür und als sie zu uns ins Auto stieg, bemerkte sie wenig charmant: »Wow, du siehst ja mal scheiße aus.«
»Danke, dir auch einen schönen, guten Morgen! Vielleicht erinnerst du dich, dass ich nur deinetwegen hier sitze.«
»Was? Wer von uns hatte keine Ahnung und sich geistesabwesend freiwillig gemeldet? Das warst ja wohl du!«
»Ja, aber würdest du nicht andauernd –« Mein Vater fuhr ruckelnd an und stellte das Radio laut; ein klares Zeichen dafür, dass es eindeutig zu früh war, unser Gezeter zu ertragen.
Am Flughafen verabschiedete er uns wortkarg. Wahrscheinlich wollte er einfach nur rasch zurück in sein Bett.
Ms. Woods hieß uns willkommen und hakte uns auf ihrer Liste ab. Etwa die Hälfte der Schüler waren bereits anwesend. Alles in allem würden es 46 Teilnehmer sein, aber weder von Liam oder Sarah, noch von den Pexis, die wir heute erstmals treffen sollten, war etwas zu sehen.
Als wenig später die Check-in-Schalter öffneten, fehlten nur noch zwei Schüler unserer Schule. Liam und die anderen hatten sich in ein Café gesetzt. Natürlich kümmerte es sie wenig, die überzogenen Preise für Cappuccino und Croissant zu bezahlen. Seltsamerweise störte es mich nun doch, dass er mich nicht gegrüßt und auch sonst kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Aber auch im Umgang mit Sarah erschien er mir recht unterkühlt.
Natalie und ich beeilten uns ins Flugzeug zu kommen. Allmählich überwog die Aufregung, schließlich war Fliegen für uns nichts Alltägliches. Kurz stritten wir uns, wer am Fenster sitzen durfte, einigten uns jedoch rasch, dass Natalie zunächst am Gang sitzen sollte, wir uns aber abwechseln würden. Auch andere Schüler drängten euphorisch ins Flugzeug und bei all dem Geschrei und Chaos, stellte sich nun doch eine gewisse Vorfreude ein. Selbst der mangelnde Schlaf spielte keine Rolle mehr.
Liam kam lange nach Sarah ins Flugzeug. Die komplette Clique hatte weit hinten platzgenommen. Als er an unserer Sitzreihe vorbeiging, nickte und lächelte er mir doch noch kurz zu, was Natalie mit: »Na also, geht doch«, viel zu laut und vollkommen unpassend kommentierte.
Erst als die Letzten von uns platzgenommen hatten, entdeckten Natalie und ich die ersten fremden Gesichter. Wir saßen etwa in der Mitte der Maschine und hatten dadurch den Zustieg gut im Blick. Die komplette vordre Hälfte war leer geblieben, offensichtlich waren die Plätze für die Pexis reserviert worden. Zuerst stiegen zwei Erwachsene zu, die mehr nach Vollzugsbeamten, denn nach Lehrkräften oder Sotzialpädagogen aussahen. Dann entdeckten wir die ersten Jugendlichen und ihr Anblick war – enttäuschend. Keine zerrissenen Klamotten, keine Irokesenfrisuren, nicht einmal gefärbte Haare. Keine Narben in den Gesichtern, keine Tätowierungen. Im Grunde sahen sie nicht anders aus als wir. Insgeheim musste ich schmunzeln. Was hatte ich erwartet? Dass man sie in orangen Overalls und Fußketten hereinführen würde? Dass sie uns mit finstern, drohenden Blicken anstarren und vor uns ausspucken würden? Letzten Endes waren es Teenager wie wir, die irgendwie auf die schiefe Bahn geraten waren und nun einen Weg zurück suchten. Natürlich würden sie sich benehmen und bemühen. Schließlich hatten auch sie sich freiwillig gemeldet und sicher weit mehr zu verlieren als wir.
Bei genauerer Betrachtung kamen mir einige von ihnen dann doch eigenartig vor. Irgendwie wollten sie nicht recht in ihre Klamotten passen und schienen sich auch nicht besonders wohl damit zu fühlen. Wahrscheinlich hatte man sie eigens für diese Aktion eingekleidet und – Moment mal, den kenne ich doch. Ein Junge mit langen, schlohweißen Haaren verstaute eben sein Handgepäck. Und als ich noch darüber nachgrübelte, ob er wirklich derselbe war, der neulich Nacht McDance ins Gesicht getreten hatte, tauchte Marc hinter ihm auf.
»Das gibt es nicht!« Sofort rutschte ich im Sitz nach unten und versteckte mich.
»Was?« Natalie drehte sich zu mir und sah mich fragend an: »Was machst du denn? Was gibt es nicht?«
»Da ist Marc«, flüsterte ich.
»Welcher Marc?«
»Scht! Nicht so laut!«
»Ach du Scheiße! Du meinst doch nicht etwa den von Barnetbees?« Ein Glück sprach sie jetzt leiser, aber dass sie sich weiterhin den Hals nach ihnen verrenkte, war nicht gut.
»Welcher ist es? Etwa der mit den weißen Haaren? Der ist schon schnuckelig aber –«
»Nein, der ist es nicht! Der dahinter, im hellen Hemd.«
»Da ist keiner mit hellem Hemd.«
Vorsichtig lugte ich über die Lehne des Vordersitzes und tatsächlich konnte ich ihn nirgends mehr ausmachen. Der weißhaarige Junge nahm eben am Gang Platz. Wer neben ihm saß, konnte ich nicht erkennen.
»Er muss sich hingesetzt haben«, bemerkte ich ungemein scharfsinnig.
»Na und jetzt?«, fragte Natalie.
»Was und jetzt?«
»Na was willst du jetzt machen?«
»Was soll ich denn machen?«
»Weiß ich doch nicht!«
Ja, was sollte ich jetzt machen? Dieser Trip gestaltete sich mehr und mehr zu einem – Glücksfall!
»Ich habs! Du gehst zur Toilette.«
»Nein! Warum sollte ich das machen?«
»Na dann geh ich eben!« Natalie stand auf, blieb dann jedoch im Gang stehen und setzte sich wieder.
»Was ist?«
»Die Toiletten sind hinten.«

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir bitten Sie um ihre Aufmerksamkeit für einige wichtige Sicherheitshinweise.

»Beth!«

Schliessen Sie nun Ihren Sicherheitsgurt und ziehen sie diesen fest. Da jederzeit Turbulenzen auftreten können, sind Sie verpflichtet, sich anzuschnallen, sobald Sie Ihren Sitzplatz eingenommen haben.

»Beth!«
»Was?«

Bitte vergewissern Sie sich, dass schweres Handgepäck sicher unter Ihrem Vordersitz verstaut ist.

»Ich glaub, mir wird schlecht!«
»Was? Warum dass denn?«

Unser Flugzeug hat vier Notausgänge. Diese sind mit dem Wort "Exit" gekennzeichnet.

»Ich glaube, ich hab Flugangst.«

Sollte der Druck in der Kabine sinken, fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke.

Ich beugte mich nach vorn und suchte im Netz unter dem Klapptisch nach den braunen Tüten.

Unter jedem Sitz befindet sich eine Schwimmweste. Auf Anweisung der Besatzung ziehen sie die Schwimmweste über den Kopf.

Ich fand eine und hielt sie Natalie irgendwie vors Gesicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug.

Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und nahm rasch Fahrt auf. Wir wurden in unsere Sitze gepresst und Natalie verlor jegliche Farbe. Kreidebleich saß sie stocksteif neben mir und hielt die Papiertüte mit beiden Händen umklammert.
Ich fand es herrlich. Das Tosen um uns wurde lauter und lauter. Ein letztes Rumpeln, dann hoben wir ab. Fasziniert schaute ich aus dem Fenster, auf dem Wasserperlen waagerecht nach hinten zuckten, neben mir würgte Natalie mit dem Gesicht in der Tüte. Immer rascher entfernten wir uns vom Erdboden, allmählich stabilisierte sich die Maschine. Das Schaukeln verschwand fast vollständig und das Rauschen trat zunehmend in den Hintergrund. Eine Minute später empfand ich den Flug als vollkommen angenehm und auch Natalie schien sich nun besser damit arrangiert zu haben. Die Häuser und Straßen unter uns glichen nur mehr stilisierten Skizzen, schon stiegen wir über die Wolkendecke. Es war wunderschön hier oben. Irgendwie friedlich und beruhigend. Eine Weile guckte ich noch nach draußen, dann fielen mir die Augen zu.


Montag, 31. Juli, früher Nachmittag

Ein Schaukeln weckte mich, es war stockdunkel. Neben mir schlief Natalie, eingewickelt in eine dunkelgraue Decke. Ich gähnte und versuchte mich im Sitzen zu strecken, mein linkes Bein war eingeschlafen. Warum war es so dunkel? Ich schaute nach draußen, der Anblick verwirrte mich vollends. Absolute Finsternis wurde jäh von grellen Lichtblitzen zerrissen, dann sackte das Flugzeug plötzlich nach unten weg.
Was zum Teufel war hier los? Ein ohrenbetäubender Knall erschreckte mich zu Tode, dann schrieen rundum die Menschen und auf einmal lag Rauch in der Luft.
»Oh Gott, wir werden alle sterben!«, schrie Natalie und in der nächsten Sekunde baumelten tatsächlich Atemmasken von der Decke. Verstört beobachtete ich, wie kaum jemand nach den Masken griff und auch ich blieb vollkommen tatenlos. Dann schien es, als hätte der Pilot die Maschine wieder im Griff, als ginge es wieder nach oben. Die Deckenbeleuchtung flackerte und ein Knackgeräusch unterbrach den Beginn einer Lautsprecherdurchsage. Meine Augen tränten wie verrückt und meine Lungen begannen zu brennen. Plötzlich wurde mir schwindelig. Irgendwer packte mich von hinten, hantierte verschwommen vor meinen Augen, zog an meinen Haaren. Ich versuchte mich zu wehren, dann kippte das Flugzeug zur Seite und mein Kopf knallte hart gegen das unnachgiebige Glas der Fensterluke.

***​

»Beth!«
»Lass sie schlafen, das ist besser.«
»Aber sie muss doch –«
»Lass sie, vertrau mir.«

Das nächste Mal erwachte ich unter freiem Himmel. Über mir funkelten Sterne, ein lauer Wind strich mir übers Gesicht und die Luft schmeckte salzig. Hinter meiner Stirn pulsierte ein dumpfer Schmerz. Mir war etwas übel. Links neben mir schlief Natalie, sie hielt meine Hand. Zu meiner Rechten lag ein Junge, er wandte mir den Rücken zu und schnarchte leise. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich sofort, dass es Liam war. Dass er hier an meiner Seite schlief, stellte ich genauso nüchtern und gelassen fest, wie ich akzeptierte, dass wir abgestürzt sein mussten. Das Pochen in meinem Kopf nahm zu. Schubweise hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ansonsten fühlte ich mich unverletzt. Eigentlich hatte ich Tausend Fragen: Wo sind wir? Wie geht es den beiden? Sind sie verletzt? Wo sind all die anderen? Was ist passiert? Aber kleinste Bewegungen befeuerten meine Kopfschmerzen. Selbst das Denken tat weh. Ich fühlte mich kraftlos und war unendlich müde. Wenig später schlief ich wieder ein.


Dienstag, 01. August, vormittags

»Beth, na endlich! Wie fühlst du dich?«
»Ich habe Durst.«
»Das habe ich auch. Wie geht es deinem Kopf? Lass mal sehen.«
»Besser. Wo sind wir hier? Wo ist Liam?«
»Woher weißt du –, er wollte sich umschauen, wir haben keine Ahnung, wo wir hier sind.«
Ich legte meinen Kopf auf ihren Schoß, Natalie betrachtete mich mit sorgenvoller Miene. »Beth, wir sind abgestürzt«, sagte sie vorsichtig, als wäre das nicht offensichtlich.
»Ich weiß, Natalie. Wo sind die anderen? Wie sind wir hier her gekommen?«
»Wir wissen es nicht. Wir haben bisher niemanden sonst gesehen.«
»Aber wie kann das sein? Warum sind wir dann hier?« Allmählich verlor ich meine Beherrschtheit und wurde leicht panisch.
»Beth, beruhige dich! Liam hat uns das Leben gerettet!«
»Liam?«
»Ja. Ich glaube, er war der Einzige, der da oben die Übersicht behalten hatte. Liam hat uns mit den Masken geholfen und die Schwimmwesten geholt. Plötzlich hat es gebrannt und überall war Rauch.«
»Ja, daran kann ich mich erinnern, ich konnte kaum atmen!«
»Ich konnte überhaupt nichts sehen und dann sind wir auf dem Wasser aufgeschlagen. Was danach passiert ist, weiß ich auch nicht genau. Liam sagte, ich habe das Bewusstsein verloren, genau wie du. Er sagte, es hat ein furchtbarer Sturm gewütet. Zunächst haben wir uns mit anderen auf einer der Notfallrutschen, die zugleich als Rettungsboote gedacht sind, befunden. Eine riesige Welle hat das Schlauchboot letztlich zum Kentern gebracht und uns ins Meer gespült. Im Wasser hat er uns mit aller Kraft zusammengehalten und gehofft, dass wir nicht ertrinken würden.«
»Und dann sind wir hier gestrandet?«
»Beth, wir hatten verdammt viel Glück, dass wir ausgerechnet hier an den Strand geworfen wurden!«
»Wieso das denn?«
»Als ich gestern zu mir kam, hat es bis spät in die Nacht gestürmt und ununterbrochen geregnet. Wir konnten überhaupt nichts sehen! Schau dich um, abgesehen von den paar Metern Sand hier, scheint es nur messerscharfe Felsenküste zu geben.«
Ich stand auf und ging ein paar Schritte von Natalie weg. Sie hatte recht. Zu beiden Seiten und auch zum Landesinneren hin türmten sich schroffe, abweisende Felsen. »In welche Richtung ist Liam gegangen? Wie lange ist er schon weg?«
Natalie zeigt mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. »Liam hat es zunächst überall hin zu Fuß versucht, musste jedoch jedesmal nach wenigen Metern umkehren. Er meinte, an Land wäre es absolut aussichtslos, dann ist er hinausgeschwommen. Vielleicht kann er von weiter draußen etwas erkennen, Beth.«
»Wie lange ist er schon weg?«
Natalie zögerte, schaute unschlüssig aufs Wasser hinaus und dann zum Himmel hoch. »Keine Ahnung. Ich bin nicht gut mit solchen Dingen – eine halbe Stunde, vielleicht aber auch schon länger.«


Sonntag, 30. Juli, kurz vor Sonnenaufgang

»Wer ist das Weibsstück? Du hast gesagt, ihr kommt zu dritt!«
»Das geht dich nichts an! Du bist der Bootsmann, also kümmere dich ums Boot!«
Dass nun auch noch eine Frau mitfahren sollte, gefiel Jonas überhaupt nicht. Zum einen waren drei Passagiere abgemacht, zum anderen brachten Weiber fast immer Ärger mit sich. Erst recht eine wie die. Die beiden anderen waren bereits an Bord gegangen. Kylan, ein Fischer aus der Gegend und ein großer, finster dreinblickender Schwarzer, dessen Visage Jonas ebenso wenig gefiel. Nur was sollte er machen? Die Zeiten waren schlecht und der rothaarige Engländer, der ihn angeheuert hatte, zahlte gut. Er zahlte sehr gut und das im Voraus. Und wer zahlt, hat nun einmal das Sagen.
Im Augenblick half der Engländer der Frau an Bord. Jonas kannte das Miststück. Zumindest hatte er von ihr gehört. Die brauchte ganz sicher keine Hilfe beim Einsteigen. Wenn stimmte, was man sich von ihr erzählte, brauchte sie bei überhaupt nichts Hilfe. Wenn du es mit der zu tun bekommst, helfe dir Gott!, hatte man ihn gewarnt. Für gewöhnlich gab Jonas wenig auf das Geschwätz der Leute. Als jedoch zum wiederholten Mal von ihr die Rede war, hatte er auf Nummer sicher gehen wollen. Woran er sie erkennen könne, hatte er gefragt. Sie sieht aus wie ein unschuldiges Kind und ist wahrscheinlich nicht viel älter, hatte man ihm geantwortet. Aber lass dich dadurch nicht täuschen! Sie mag das bezaubernd süße Lächeln eines unschuldigen Mädchens haben, aber ihrer Seele wohnt der Teufel inne! Sei unbesorgt, auch wenn du ihr nie zuvor begegnet bist, wirst du sie sofort erkennen. Sie lächelt dich an und dir wird heiß und kalt zugleich. Du wirst sie begehren und dich zugleich vor ihr fürchten. Halte dich von dem Weib fern oder du bist verloren! Butterfly wird sie genannt. Vergiss nicht, wir haben dich gewarnt!
Als Jonas sich weit über das Heck seines Bootes lehnte, die Leine zu lösen, stieg ihm ein Duft in die Nase, der ihn herumschnellen ließ. Unmittelbar hinter ihm stand das Weibsstück und Jonas vergaß für Sekunden das Atmen. Im kommenden Jahr würde er 76 Jahre alt werden, lange schon hatte er sich nach keinem Rock mehr umgedreht.
»Hör gut zu, Väterchen. Das hier geht dich nichts an! Wenn du weißt, was gut für dich ist, kümmerst du dich um deine eigenen Angelegenheiten.« Einen Moment lang fixierte sie Jonas mit ihren kindlich dreinblickenden, kastanienbraunen Augen, dann wandte sie sich wortlos um und ließ ihn stehen.
Im ersten Licht des heraufziehenden Morgens konnte Jonas ihre nackten Arme und Schultern sehen. Sie waren über und über mit bunten Tätowierungen bedeckt. Unzählige Schmetterlinge, Motten und Falter in allen Farben und Größen zierten ihre Haut. Und obgleich es zu dieser Jahreszeit selbst nachts selten unter 25 Grad abkühlte, fröstelte Jonas mit einem Mal.


Dienstag, 01. August, später Nachmittag

Bis Liam zu uns zurückkehrte, vergingen Stunden. Natalie und ich hatten in der Zwischenzeit selbst versucht, den winzigen Strand landeinwärts zu verlassen, was sich jedoch rasch als unmöglich herausstellte. Zum Einen waren die Felsen derart scharfkantig, dass man nur äußerst langsam und vorsichtig vorankam, zum Andern steilten die Gesteinsformationen nach allen Seiten hin rasch auf, so dass sie vermutlich selbst erfahrene Kletterer vor größere Probleme stellen dürften.
Als Liam in den Wellen vor uns auftauchte und schließlich aus dem Wasser stieg, liefen weder Natalie noch ich ihm freudestrahlend entgegen. Natürlich freute ich mich, ihn wieder zu sehen, zudem hatte ich tausend Fragen an ihn. Nur hätte ich nie gedacht, wie rasch man mangels Nahrung und vor allem ohne Flüssigkeit – ausgesetzt einer unerbittlich von wolkenlosem Himmel brennenden Sonne – aller Kraft beraubt wird. Erst vor Minuten hatten sich am westlichsten Rand unseres winzigen Strandes erste, kleinere Schattenflecken vor den höheren Felsen gebildet, unter welche wir uns Schutz suchend zurückgezogen hatten.
Auch Liam kam nicht sofort zu uns geeilt, nachdem er den Strand erreicht hatte. Bestimmt hatte er uns vor den Felsen liegend entdeckt, blieb uns jedoch fern und hielt sich weiter in der Nähe des Wassers auf. Nach einigen Minuten nahm ich alle verbliebene Kraft zusammen, erhob mich und ging zu ihm. Als ich ihn erreichte, wandte er den Kopf ab.
»Liam, was ist mit dir?«
Er schwieg und sah mich noch immer nicht an.
»Liam«, begann ich noch einmal und berührte ihn vorsichtig an der Schulter.
»Ich habe einen Weg gefunden«, sagte er tonlos und sah weiter aufs Meer hinaus.
»Aber das ist doch gut, oder?«
Endlich drehte er sich zu mir um und schluchzte: »Beth, sie sind alle tot!« Sein Gesicht war kreidebleich und seine Augen schwammen in Tränen. »Ich habe sie gesehen, Beth. Ihre zerschlagenen Körper. Keine halbe Stunde von hier. Das, was von ihnen übrig ist, treibt im Wasser oder liegt verkeilt zwischen den Klippen.«
Halb über ihn gebeugt, verharrte ich wie versteinert und brachte kein einziges Wort hervor. Vom Nacken her begann es in meinem Hinterkopf zu kribbeln und in meinen Ohren wurde ein Pfeifen laut. Die Ränder meines Sichtfeldes verdunkelten sich dramatisch, als ich plötzlich Natalie wahrnahm, die – keine Ahnung, wie lange schon – neben mir stand.
»Was ist los?«, fragte sie beunruhigt und ich musste mich übergeben.

***​

Wenig später erzählte uns Liam, was er gesehen hatte. Zunächst war er ein großes Stück weit hinausgeschwommen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Doch egal, wie weit er rausschwamm, zu beiden Seiten zeigte sich nichts als abweisende Klippen. Als er bereits zum Strand hatte zurückzukehren wollen, war ihm plötzlich eine Veränderung im Wasser aufgefallen. Eine kühle Strömung. Da das Meerwasser selbst weit vom Ufer entfernt noch unerwartet warm war, hatte er die kühle Strömung zunächst für aufsteigendes Tiefenwasser gehalten. Dann bemerkte er jedoch, dass sie unbestreitbar Süßwasser enthielt.
Eine geschlagene Stunde folgte er der Strömung Richtung Westen, bis er hinter einer S-förmigen Landzunge den ins Meer mündenden Fluss entdeckte. Von da an musste er noch einmal knapp eine Stunde gegen die immer stärker werdende Strömung anschwimmen, ehe er die Mündung endlich erreichte. Am Ufer fand er ein kleines, flaches Gesteinsplateau vor und obgleich auch das zu beiden Seiten von hohen Klippen flankiert war, hielt er den Fluss für eine gute, wenn nicht sogar die einzige Möglichkeit, das Inselinnere zu erreichen.
Nach kurzer Pause, in welcher er ausgiebig vom Flusswasser trank, machte er sich sogleich an den Rückweg. Mit der Hoffnung, auf direktem Weg schneller voranzukommen, beschloss er, in Küstennähe zurückzuschwimmen.
Nichts ahnend schwamm er los, als plötzlich erste Kleidungsstücke und andere, im Wasser umhertreibende Dinge seinen Weg kreuzten. Das Treibgut wurde rasch mehr und plötzlich trieb ihm ein Shirt entgegen, das er gut kannte. Ein knallrotes Cugar-Collegeshirt, wie er selbst eines besaß. Liam griff danach, wollte nach dem Namensschild sehen. Zu spät bemerkt er, dass das Shirt nicht ohne Inhalt war. Der zertrümmerte Torso eines Jungen steckte darin. Keine Arme, kein Kopf, kein Unterleib. Schreiend stieß er Shirt samt Inhalt von sich und schwamm wie von Sinnen weiter. Schneller, immer schneller schwamm er, um nur schnellstmöglich von dem grausamen Fundstück fortzukommen. Und plötzlich fand er sich inmitten unzähliger Leichenteile wieder. Von Panik ergriffen, schlug er wild um sich, und wollte in alle Richtungen zugleich schwimmen. Beinahe wäre er ertrunken. Aber dann machte es in Liams Kopf klick. Plötzlich war er nicht mehr vor Ort. Natürlich schwamm er noch immer inmitten der Trümmer und Toten, aber er verweilte nicht länger in seinem Körper. Er schwebte einige Meter darüber und sah sich beim Schwimmen zu. Sah das dunkel gefärbte Wasser, sah die vertrauten Kleidungsstücke und die geschundenen Leiber. Bedächtig und zielstrebig sah er sich durch all das schwimmen. Sah sich so lange beim Schwimmen zu, bis er alles hinter sich gelassen hatte.

Am Ende seiner Schilderung sagte keiner von uns ein Wort. Mir kam das Ganze so unwirklich vor, dass ich es kaum glauben konnte. Alles klang so surreal, so grausam, dass mir lange Zeit kein vernünftiger Gedanke gelingen wollte. Erst nach Minuten wurde mir klar, was das für uns bedeutete.
»Was ist mit der anderen Richtung?«, hörte ich mich unverhofft ruhig fragen.
Liam sah mich an und antwortete ebenso ruhig: »Da ist nichts. Nichts, was wir erreichen könnten.«
Dann schwiegen wir wieder. Schwiegen, bis auch Natalie plötzlich zu verstehen schien. »Ihr meint doch nicht etwa, wir sollen zu dem Fluss schwimmen?«, fragte sie entsetzt. »Wir sollen im Ernst da durch schwimmen?«
Liam sah sie nur an, antwortete nicht.
»Das kann ich nicht!«, sagte Natalie bestimmt. »Da bleibe ich lieber hier!«
»Hier wirst du verdursten«, entgegnete Liam schlicht, »hier überstehen wir keinen weiteren Tag.«
»Dann schwimmen wir eben weit raus, so wie du es gemacht hast!«, schlug Natalie leicht hysterisch vor.
»Das könnt ihr nicht schaffen, das ist viel zu weit und das letzte Stück gegen die Strömung zu anstrengend. Ich glaube nicht einmal, dass ich es noch einmal schaffen würde.«
»Ja aber dann –«, Natalie wollte erneut etwas einwenden, aber ich schnitt ihr das Wort ab: »Wir schwimmen heute Nacht. Natalie, Liam hat recht, anders geht es nicht. Sieh uns an, wir können kaum gehen. Das wird ohnehin schwer genug werden. Aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Lasst uns zurück in den Schatten gehen, wir sollten uns ausruhen.«


Sonntag, 30. Juli, Mittagszeit

Natürlich wusste Jonas, was die Männer hier draußen vor hatten. Ebenso wusste er, dass es illegal war und hieß es, weiß Gott, nicht gut. Die Jagd auf Mantarochen war nicht Jonas Sache. Aber er stellte sich blind und schipperte die Wilderer zur Insel. Das er trank, war bekannt. Manche Leute glaubten, mit Geld alles kaufen zu können und was ihn anging, hatten sie recht damit. Was sollte er machen? Die Zeiten waren nun einmal schlecht.
Was das Weibsstück im Schilde führte, blieb Jonas ein Rätsel. Er würde sich jedoch an ihren Rat halten und sich um seinen eigenen Mist kümmern.
Vor wenigen Minuten waren sie losgezogen. In zwei oder drei Tagen wollten sie zurück sein. Zum Abschied hatte sie Jonas mit einem Blick bedacht, der ihn erneut hatte erschaudern lassen. Das Weib jagte ihm eine Heidenangst ein. Jonas nahm einen kräftigen Schluck aus der nur mehr halb vollen Flasche und schaute aufs Meer hinaus.
Er würde hier auf sie warten, sie zurück zum Hafen bringen und keine weiteren Fragen stellen. Wieder zu Hause würde er sich volllaufen lassen und, so Gott wollte, keinen von ihnen jemals wieder sehen.


Dienstag, 01. August, lange nach Einbruch der Nacht

»Wir sollten nicht länger warten«, sagte Liam und stand auf. Ich sah seine Silhouette vor mir aufragen. Am Himmel waren Wolken aufgezogen, nur vereinzelt zeigten sich blass funkelnde Sterne. Nach kurzem Zögern erhob auch ich mich und Natalie tat es mir gleich. Schweigend liefen wir zum Wasser und mit einem Mal hielt ich unser Vorhaben für keine gute Idee. Ich wollte nicht im nächtlichen Meer schwimmen, plötzlich fielen mir unzählige Gründe ein, die dagegen sprachen. Was, wenn die Leichen inzwischen Haie angelockt haben? Was, wenn wir zur Flussmündung kommen, aber keinen Weg ins Landesinnere finden? Und was, wenn längst schon nach uns gesucht wird? War es dann nicht besser, an Ort und Stelle zu bleiben? Liams Stimme riß mich aus meinen Gedanken: »Zieht eure Sachen aus, knotet sie zusammen und bindet sie auf dem Rücken fest.«
Ich behielt meine Bedenken für mich und öffnete die Schnalle meines Gürtels. Für einen Moment beschäftigte mich tatsächlich die Frage, welche Unterwäsche ich trug und ob sie Liam wohl gefallen wird? Dann überfiel mich der Gedanke, dass das alles nicht fair war! Wir waren nur Teenager, beinahe noch Kinder. Und Kinder sollten nicht vor solch eine Entscheidung gestellt werden. Das war einfach nicht richtig!
Tränen sammelten sich in meinen Augen, trotzdem machte ich weiter. Als ich alles ausgezogen und zusammengeschnürt hatte, half ich Natalie mit ihrem Bündel. Sie wirkte unerwartet gefasst. Wir vermieden es, uns direkt in die Augen zu schauen. Wahrscheinlich war auch sie froh darüber, dass die Dunkelheit unsere angsterfüllten Gesichter verbarg.
Eine Minute später verließen wir den Strand und mir kam es wie der Abschied von einem Ort vor, an dem ich mich geborgen gefühlt hatte. Nur dass das nicht stimmte. Hier verhieß nichts Geborgenheit und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als schnellstmöglich von hier verschwinden zu können. Aber angesichts dessen, was uns erwartete – die Ungewissheit und der abscheuliche Weg dort hin – belog mich mein Verstand und vermittelte mir dies trügerische Gefühl.

Während der ersten Minuten überspielte die Anspannung meine Müdigkeit. Abgesehen von den Geräuschen unserer Schwimmbewegungen war es vollkommen still und mich erschreckte jedes Glucksen, jedes Plätschern, jede noch so kleine Welle, die mir auf der ruhigen Wasseroberfläche ins Gesicht schwappte. Gerade diese unwirkliche Stille, die wir mit unserem verräterischen Geplansche anfüllten, jagte mir unsägliche Angst ein. Ich vermochte nicht mehr als einen halben Meter weit zu sehen und auch Natalie und Liam, die in unmittelbarer Nähe zu mir schwammen, konnte ich nur erahnen, nicht wirklich erkennen. Jede einzelne Sekunde rechnete ich mit einen Angriff, befürchtete ich, dass etwas nach meinen Beinen schnappen und mich in die Tiefe ziehen würde. Aber nichts davon geschah.
Schweigend schwammen wir Minute um Minute weiter in der schwarzen See und mit zunehmender Zeit wurden mir Arme und Beine schwer. Die Anstrengungen des Tages holte mich immer rascher ein und bald bedurfte es meiner gesamten Willenskraft, meine unendlich müden Gliedmaßen weiter zu bewegen.
Nach zwanzig Minuten später erkundigte sich Liam nach unserem Befinden. Sowohl Natalie als auch ich versicherten ihm, dass alles in Ordnung sei. Dabei schmerzten meine Arme und Beine so sehr, dass jeder weitere Zug reine Qual war. Obendrein war mir schmerzlich bewusst, dass wir inzwischen nur mehr halb so schnell vorankamen wie zu Beginn. Ich verkniff mir die Frage, wie weit es noch sei und versuchte mich stattdessen ausschließlich auf die nächste Schwimmbewegung zu konzentrieren.
Der messerscharfen Klippen wegen, schwammen wir dreißig bis vierzig Meter vom Ufer entfernt, was ein zwischenzeitliches Ausruhen unmöglich machte. Irgendwann manifestierte sich wie von selbst die Frage in meinem Kopf, wie sich Ertrinken wohl anfühlen mochte. Detailliert stellte ich mir den Vorgang bildlich vor und wunderte mich, wie wenig mich der Gedanke daran beunruhigte.
Ich war erschöpft. Vollkommen erschöpft. Mein gesamter Körper schmerzte. Schmerzte so sehr, dass der Gedanke, jetzt ertrinken zu müssen, mit jeder weiteren Minute an Schrecken verlor. Ich war so unendlich müde. So müde, dass Stillhalten und langsam Untersinken zunehmend an Reiz gewann. Dann war ich so weit. Ich gönnte Armen und Beinen die wohl verdiente Ruhe, schloß die Augen und ließ es geschehen.
Aber ich versank nicht. Liam hatte längst bemerkt, wie es um mich stand und war augenblicklich zur Stelle.
»Dreh dich auf den Rücken, Beth«, sagte er leise aber bestimmt und ich folgte seiner Aufforderung ohne Widerrede.
»Natalie, wie geht es dir?«, wollte er wissen und Natalie antwortete mit fester Stimme: »Mach dir um mich keine Sorgen.«
Dann ging es weiter. Mit Liams Hilfe glitt ich durch die stille See und lauschte dem nun wieder rascher an meinen Ohren vorüberziehenden Wasser. Ich fixierte einen einzelnen Stern, den ich hoch oben zwischen den dunklen Wolken ausgemacht hatte und in meinem Kopf kreiste ein einzelner Gedanke. Wie bei einer kaputten Schallplatte wiederholte er sich immer und immer wieder: Das werde ich dir nie vergessen Liam. Dafür stehe ich auf ewig in deiner Schuld.

Zuerst streifte etwas mein Bein. Ich war mir jedoch nicht sicher, denn mein Kopf war nun vollkommen leer, irgendwie wie betäubt. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet.
Dann bemerke ich den Geruch und war schlagartig hellwach. Natalie stieß einen schrillen Schrei aus und im nächsten Augenblick trieb mit Gewissheit etwas unmittelbar zu meiner Linken vorüber. Ich löste mich von Liam und die Anspannung hatte mich wieder.
»Seht zu den Sternen hoch«, sagte Liam, »und schwimmt ruhig weiter. Jetzt ist es nicht mehr weit«, versuchte er betont ruhig hinzuzufügen, aber seine zitternde Stimme verriet ihn. Liam hatte Angst. Genau wie ich hatte er furchtbare Angst und stand kurz davor, die Nerven zu verlieren. Er schwamm zunehmend schneller und ich hatte große Mühe, ihm zu folgen. Aber die Angst, die Panik, die nur mehr einen Herzschlag entfernt lauerte, trieb mich an. Bei bestem Willen konnte ich mir später nicht erklären, woher ich die Kraft nahm. Mit weit ausholenden Armbewegungen und kräftigen Beinschlägen trieb ich meinen Körper voran. Dabei streckte ich den Hals und reckte den Kopf so weit irgend möglich aus dem Wasser. Stur starrte ich zum wolkenverhangenen Himmel hinauf, nirgends zeigte sich ein Stern.
Plötzlich prallte etwas gegen meine Brust, verfing sich für Sekunden in meinen Armen und glitt dann an meinem Körper entlang nach hinten. Ich schloß die Augen und musste würgen. Mir war schon geraume Zeit übel, aber nun drohte das Gefühl übermächtig zu werden. Ich würgte immer heftiger und mit einem Mal schnürte es mir die Kehle zu. Ich bekam keine Luft mehr, ich konnte nicht atmen und in meinem Kopf begann es erneut zu Pfeifen. Wieder stieß etwas gegen meinen Körper und dann noch etwas und noch etwas. Meine Lungen begannen zu brennen und das Pfeifen verdichtete sich zu einem dumpfen Dröhnen. Trotz meiner zugekniffenen Augen verfinsterte sich die Schwärze um mich rasant und ich begriff, dass ich jetzt sterben würde. Dann lief ich auf etwas auf, das knapp unter der Wasseroberfläche trieb. Nein, nicht auf etwas, auf einen Leichnam. Ein unnatürlich weicher, fast vollständiger Körper, schob sich unabwendbar unter mich und plötzlich schrie ich aus Leibeskräften. Unkontrolliert schlug ich mit Armen und Beinen und schrie und schrie. Ich schrie selbst dann noch, als der Leichnam längst unter mir hindurchgezogen war. Aber ich schrie nicht aus Angst, dass ein weiterer Toter meinen Weg kreuzen könnte, ich schrie aus purem Überlebenswillen. Aus Furcht, würde ich damit aufhören, könnte ich erneut nicht atmen. Dabei schrie ich längst nicht mehr. Hatte es vielleicht nie. Mit zum Schreien verzerrtem Gesicht und fest verschlossenen Augen schwamm ich weiter. Atmete ich weiter, bis das Wasser spürbar kühler wurde und ein rasch anschwellendes Rauschen die nahe Flussmündung ankündigte.
Später erinnerte ich mich weder an die letzten Meter im Meer, noch daran, wie wir daraus ans Ufer gestiegen waren. Einzig die ersten, herrlich süßen und unendlich wohltuenden Schlucke Flusswasser werde ich mein Leben lang nicht vergessen.


Sonntag, 30. Juli, bei hereinbrechender Nacht

Samuel konnte den Wirbel um Butterfly gut verstehen. Ein Glück bevorzugte er Männer, dennoch fühlte auch er sich zu ihr hingezogen. Was aus dem großspurig auftretenden Engländer werden würde, war ihm egal. Lediglich um Kyla, der ihm auf anhieb gefiel, tat es ihm ein wenig leid. Butterfly wusste, dass er schwul war. Deswegen vertraue sie ihm, hatte sie gesagt. Samuel verstand nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. Samuel vertraute ihr jedenfalls nicht. Er vertraute ohnehin kaum jemandem und nach allem, was er über sie gehört hatte, tat er gut daran, auf der Hut zu bleiben.
Nachdem sie das Lager aufgeschlagen und Feuer gemacht hatten, bemerkte er beiläufig, dass ihm nicht gut sei und verzog sich in sein Zelt. Unbemerkt wieder daraus zu verschwinden, war ihm nicht schwer gefallen. Nun wartete er in ausreichender Entfernung auf Butterfly.

»Pass auf, wo du hinstarrst!«, sagte der Engländer scharf und Kyla senkte zögerlich den Blick. »Ich bezahle dich für das Aufspüren der Mantas, nicht dafür dass du meinem Mädchen nachstellst!«
Kyla wandte sich ab und stocherte im Feuer. Was glaubt der Arsch, wer er ist?, dachte er. Die macht dir nur deines Geldes wegen schöne Augen.
Das Mädchen hatte für jedermann hörbar verkündet, dass sie eben mal für Königskatzen müsse und sich noch vor dem Erreichen des in der Finsternis befindlichen Gestrüpps demonstrativ an ihrem Kleid zu schaffen gemacht. Den gesamten Tag über hatte sie Kyla angelächelt und war ihm mehr als einmal näher gekommen, als nötig gewesen wäre. Dem Engländer war nichts davon verborgen geblieben und er zeigte sich nicht gerade erfreut darüber.

»Das läuft ja wie am Schnürchen!«, sagte Butterfly amüsiert und Samuel fuhr erschrocken herum. Er hatte sie nicht kommen sehen, urplötzlich stand sie neben ihm.
»Wenn ich es darauf anlege, schlagen sie sich noch heute die Köpfe ein«, bemerkte sie grinsend und Samuel verkrampfte sich innerlich.
»Aber wir bleiben doch beim Plan?«, erkundigte er sich vorsichtig und trat ein Stück von ihr zurück.
»Sicher. Sie du nur zu, dass du rechtzeitig parat stehst. Alles andere kannst du getrost mir überlassen.«


Mittwoch, 02. August, mittags

Die restliche Nacht hatten wir auf dem Felsplateau neben der Mündung zugebracht und uns bei Tagesanbruch sogleich an den Aufstieg gemacht. Endlich ausreichend trinken zu können, war eine große Erleichterung, und solange die Sonne tief stand, kamen wir gut voran. In unmittelbarer Nähe zu dem herabstürzenden Wasser gestaltete sich unser Weg verhältnismäßig einfach. Lediglich die rasch ansteigenden Temperaturen verlangsamten unser Vorankommen. Als die Sonne nahezu senkrecht von dem erneut wolkenlosen Himmel stach, erreichten wir den bis dahin höchsten Punkt. Von da an erstreckte sich zu beiden Seiten des Flusses nur mehr mäßig ansteigender, spärlich bewachsener Steinboden.
»Ich habe Hunger«, bemerkte Natalie zum zweiten Mal und auch mir knurrte seit geraumer Zeit der Magen. Liam lief schon den gesamten Vormittag über ein gutes Stück vor uns. Er sprach wenig, genau genommen hatte er heute noch überhaupt nichts gesagt. Mehrfach hatte ich versucht, zu ihm aufzuschließen, doch wann immer er es bemerkte, lief er schneller. Am Morgen war er ohne Erklärung oder Absprache losgelaufen und Natalie und ich ihm wortlos gefolgt. Im Grunde war, mangels Alternativen, keine Absprache vonnöten gewesen, dennoch empfand ich sein Verhalten recht eigenartig. Da Natalie nichts dazu sagte, folgte auch ich ihm kommentarlos.
Keiner von beiden verlor bisher ein Wort zu vergangener Nacht. Ich konnte das gut verstehen, auch mir war nicht im Geringsten danach, darüber zu sprechen. Seit wir uns jedoch hier oben auf offenem Gelände bewegten, wuchs der Wunsch in mir, zu erfahren, wohin wir gingen, was Liams Plan war.
»Ich kann nicht mehr!«, sagte Natalie plötzlich und blieb abrupt stehen. »Ich habe Hunger! Und ich kann nicht mehr!« Sie setzte sich auf den Boden, schlang trotzig die Arme um ihre Beine und ließ den Kopf auf ihre Knie sinken.
»Liam«, rief ich und blieb ebenfalls stehen, »warte bitte.«
Er reagierte nicht, ging unbeeindruckt weiter.
»Liam!«, rief ich noch einmal, deutlich lauter und zorniger als beabsichtigt.
»Was?«, brüllte er und blieb stehen, drehte sich jedoch nicht zu uns um.
»Natalie«, begann ich, »wir brauchen eine Pause.«
Er wandte uns weiterhin den Rücken zu und sagte kein Wort, seine Schultern begannen zu beben.
»Wo gehen wir hin?«, erkundigte ich mich vorsichtig, »Was hast du vor?«
Plötzlich schnellte er herum, starrte uns aus zornigen, weit aufgerissenen Augen an und schrie: »Was erwartet ihr von mir? Dass ich etwas aus der Hosentasche zaubere? Dass ich für alles eine Lösung parat habe?«
»Nein«, entgegnete ich beschwichtigend, »ich möchte doch nur wissen –«
»Was?«, schrie er wieder.
»Wieso schreist du mich an?«, brüllte nun auch ich und er zuckte zusammen. Sein gesamter Oberkörper zitterte und seine Kiefer mahlten.
»Liam«, begann ich ruhiger, doch er fuhr herum und rannte los.
»Liam!«
»Lass ihn!«, mischte Natalie sich ein. Ich wollte ihm nachsetzen, aber Natalie hielt mich zurück. »Lass ihn!«, wiederholte sie und sah ihm mit traurigem Blick nach. »Erkennst du nicht, dass er am Ende ist?«


Montag, 31. Juli, 11.32 Uhr

Als Flug HU7704 vom Radar verschwand, glaubte Nathan zunächst an eine Fehlfunktion. Nachdem er jedoch das Kontrollprozedere nach Vorschrift abgearbeitet hatte, meldete er den Vorfall umgehend weiter. Dreißig Minuten lang war darauf hin erfolglos versucht worden, Kontakt mit den Piloten aufzunehmen. Von da an galt HU7704 offiziell als vermisst.
Im weiteren Verlauf wurden Daten abgeglichen und festgestellt, dass zur Zeit des Verschwindens ein ausgedehntes Tiefdruckgebiet, für starke Unwetter in der relevanten Flugzone gesorgt hatte. Als nächstes wurde die Fluggesellschaft verständigt und erstmals leise die Möglichkeit eines Absturzes in Betracht gezogen. Letztlich kam man überein, Erkundungsflüge durchzuführen, sobald die Wetterlage dies zuließ.


Mittwoch, 02. August, später Abend

»Das sind jetzt schon Stunden, Natalie«, sagte ich und versuchte nicht vorwurfsvoll zu klingen. »Wir hätten ihn nicht einfach so gehen lassen dürfen.«
Natalie sagte nichts dazu. Auch so war klar, dass sie sich schuldig fühlte.
Gut eine Stunde hatten wir auf Liams Rückkehr gewartet, und waren dann weiter dem Fluss gefolgt. Nichts zu Essen zu haben war schrecklich. Einzig genügend trinken zu können, machte das Hungergefühl erträglich. Wir legten viele Pausen ein und wussten im Grunde nicht, warum wir weitergingen oder wohin uns unser Weg führen sollte. Aber untätig an Ort und Stelle zu verweilen, war auch keine Option. Inzwischen bewegten wir uns auf einer Art Hochebene. Der Fluss, der uns führte, war seicht und breit geworden, strömte uns nur mehr mäßig entgegen.
Solange wir weitergingen, hielten wir Abstand zum Wasser. Mit jedem Meter, den wir uns vom Fluss entfernten, wurde die Vegetation karger und der Boden steiniger. Hier kamen wir leichter voran. Die zahlreichen Pausen verbrachten wir nahe dem Ufer, wo uns dornige, widerspenstige Büsche kühlen Schatten spendeten. Seit kurzem verschaffte uns zudem leichter Wind Erleichterung, und nicht zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, er würde leises Flüstern mit sich führen. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, allmählich trocknete mir die Sonne das Hirn aus.
»Hörst du das auch?«, wollte Natalie plötzlich wissen.
»Was meinst du?«
»Das Flüstern. Die Stimmen.«
»Du hörst sie auch? Und ich dachte schon, ich dreh allmählich durch! Du hörst die Stimmen also auch?«, fragte ich noch einmal, nur um sicher zu gehen.
»Schon, aber ich bin mir nicht wirklich sicher«, antwortete Natalie unschlüssig.
»Von wo kommt der Wind?«, fragte ich und Natalie deutete zum gegenüber liegenden Flussufer. »Von der anderen Seite?«, antwortete sie fragend.
»Ich glaube, du hast recht.« Erneut vernahmen wir die Stimmen und diesmal weit deutlicher als bisher. Unbestreitbar wehten sie von der anderen Seite zu uns herüber.
»Was meinst du«, fragte Natalie und zog die Stirn in Falten, »kommen wir da rüber?«
»Ich denke schon. Und falls nicht –« Dann hörten wir einen einzelnen, langgezogenen Schrei, der uns das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wir sahen einander an, lauschten, aber dann blieb es still.
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Natalie flüsternd, ihre Augen waren angsterfüllt.
»Komm!«, sagte ich und stieg ins Wasser, obgleich der Schrei auch mir einen großen Schrecken eingejagt hatte.
Angekommen auf der anderen Seite hielten wir uns zunächst hinter dichtem Buschwerk versteckt und lauschten erneut. Nichts. Minutenlang.

»Füll die Flaschen auf und scher dich zurück zu den anderen!«
Wir wollten eben unser Versteck verlassen, als die Stimme erklang. Unweit unseres Unterschlupfs kamen zwei Jungs zum Fluss, wovon wir einen gut kannten. Natalie wollte sich sogleich zu erkennen geben, aber ich hielt sie zurück. Ein ungutes Gefühl sagte mir, dass hier etwas nicht stimmte. Nach genauerem Hinsehen erkannte ich, dass Ben – ein Junge aus unserer Klasse – Blut auf seinem Shirt hatte. Natürlich konnten die Flecken vom Absturz herrühren, aber das Blut sah verdammt frisch aus.
Ben befüllte mehrere kleine Plastiktrinkflaschen, die er aus einem dunklen Rucksack zog. Der andere Junge, den ich zunächst nicht erkannte, stand tatenlos daneben. Er erweckte eher den Eindruck, als würde er Ben beaufsichtigen. Nach einigen Sekunden erkannte ich in ihm einen der Schläger, die Kirk McDance zusammen mit Marc und dem weißhaarigen Jungen bei Barnetbees verprügelt hatten. Als Ben alle Flaschen aufgefüllt hatte, ermahnte ihn der andere zur Eile und sie verschwanden in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Was war das denn?«, bemerkte Natalie leise, sobald wir davon ausgehen konnten, dass sie außer Hörweite waren.
»Da stimmt etwas ganz und gar nicht!«, sagte ich und Natalie stimmte mir umgehend zu.
»Wer war der Typ?«, wollte sie wissen.
»Ein Pexi«, antwortete ich, »vermutlich einer der übleren Sorte! Hast du Bens Shirt gesehen?«
»Scheiße, ja! Und ich glaube, seine Nase hat geblutet.«
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte ich Natalie, obgleich ich längst wusste, dass ich den beiden folgen wollte.
»Was bleibt uns groß übrig?«, antwortete Natalie resigniert. »Wir brauchen dringend etwas zu Essen und es wird bald dunkel werden.«


Dienstag, 01. August

Da Flug HU7704 exakt über der Land/Meer-Grenze vom Radar verschwunden war, konzentrierten sich die Suchmannschaften zunächst auf die Küste, einschließlich der Maria Inseln, welche etwa 70 Kilometer davor lagen.


Montag, 31. Juli, später Vormittag

Den gesamten Vormittag über hatte Samuel mit gemischten Gefühlen beobachtet, wie Butterfly die beiden Männer gegeneinander ausspielte. Zwischen dem Engländer und Kyla herrschte inzwischen offene Feindschaft. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass die Situation bald schon eskalieren würde.
Das Mädchen war in der Tat eine Teufelin. Allmählich bereute es Samuel, sich auf die Sache eingelassen zu haben. Im Moment bereitete ihm jedoch etwas anderes Kopfzerbrechen. In den letzten beiden Stunden hatte sich das Wetter rapide verschlechtert. Der Sturm, der zweifellos aufzog, beunruhigte ihn weit mehr als Butterflys Machenschaften. Dabei sorgte er sich weniger um sich oder seine Begleiter. Samuel war davon überzeugt, egal wie heftig das Unwetter auch werden würde, weiter landeinwärts würden sie es gefahrlos überstehen. Kopfzerbrechen bereitete ihm das in der Bucht wartende Fischerboot. Sollte der Sturm die Ausmaße annehmen, die er befürchtete, könnte das kleine Schiff das unmöglich überstehen. Und würde das Boot, das sie zum Hafen zurückbringen sollte, tatsächlich an den Felsenklippen zerschellen, könnte sich die Situation rasch zu einem sehr ernsten Problem auswachsen. Niemand wusste, dass sie hier waren. Niemand durfte es wissen, folglich würde auch niemand kommen, um nach ihnen zu suchen.

***​

Im Augenblick befanden sich Samuel und der rothaarige Engländer auf einem Felsvorsprung. Abwechselnd sahen sie durch ein Fernglas auf die rauer werdende See hinaus. »Das Jagen können wir für heute vergessen«, bemerkte der Rothaarige frustriert.
Unbegründeter Weise hoffte Samuel, Butterfly würde ihr Vorhaben, angesichts der kritischen Wetterlage, verwerfen, oder zumindest aufschieben. Wieder griff er in seine Jackentasche, die kleine Kamera war bereit. Dann hörte er sie schreien: »Nein!«
Butterfly war mit Kyla außer Sichtweite zurückgeblieben. Wieder hörte er sie schreien: »Nein, bitte nicht!«
Es klang verdammt überzeugend. Der Engländer stürmte sogleich los.
***​

Kyla wurde das allmählich zu viel. Die Frau raubte ihm den Verstand. Am liebsten hätte er den Engländer eigenhändig erschlagen, wäre er augenblicklich mit ihr durchgebrannt. Dabei war ihm schmerzlich bewusst, dass das Miststück nur mit ihm spielte. In der einen Minute machte sie ihm schöne Augen, nur um in der nächsten dem Rothaarigen um den Hals zu fallen.
Kyla kümmerte sich um die Ausrüstung, als Butterfly plötzlich zu schreien anfing. Er ließ alles stehen und liegen und eilte zu ihr. Unweit kniete sie nahe der Klippen, wandte ihm den Rücken zu. Als Kyla bis auf wenige Schritte heran war, bemerkte er verwundert, dass sie einen Schuh verloren hatte und ihr Kleid zerrissen war. Ruckartig fuhr sie herum, ihr Haar war zerzaust, auf ihrer Stirn zeigte sich ein dünnes Blutrinnsal. Kyla erschrak, streckte beide Arme nach ihr aus, wollte ihr aufhelfen. Dankbar lächelt sie ihn an, wehrte sich jedoch gegen seine Hilfe. Kyla begriff nicht, was vor sich ging, packte fester zu und plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Butterfly sah an Kyla vorüber, dann verzog sie das Gesicht zu einer weinerlich schreienden Grimasse.
Alles Weitere nahm Kyla wie in Zeitlupe wahr: Butterfly schrie: »Nein, bitte lass mich!« Und ließ sich zugleich ein Stück weit von Kyla aufhelfen. Dann krallte sie sich an seinem Hemd fest und ließ sich rücklings fallen. Kyla verlor das Gleichgewicht, stürzte vornüber auf Butterfly. In seinem Rücken vernahm er Schritte.
Der Rothaarige kam über ihn wie ein tollwütiges Tier. Er zog Kyla von der weinenden Frau und schlug ihm mehrfach mit den Fäusten ins Gesicht. Der blinden Raserei des Engländers hatte Kyla wenig entgegenzusetzen. Unter den zahllosen Schlägen kam er einfach nicht auf die Beine. Der ungleiche Kampf führte die beiden Männer gefährlich nahe an den Abgrund. Plötzlich hielt der Rothaarige einen großen Stein in Händen, der finale Schlag blieb jedoch aus.
Eingefroren in der Bewegung verharrte er und starrte Samuel an, der neben Butterfly stehend alles mit einer Handkamera aufzeichnete.
»Was soll der Scheiß?«, brüllte der Engländer. Verdutzt ließ er Arme samt Stein sinken.
»Nimm die Kamera runter!«, befahl Butterfly an Samuel gewandt, dann trat sie dem Engländer entgegen. Kyla war halb auf die Beine gekommen, als Butterfly urplötzlich losstürmte und ihn mit einem gezielten Tritt über die Kante beförderte. Reflexartig fuhr der Engländer herum, ungläubig starrte er in den Abgrund. Als er sich den anderen wieder zuwandte, hielt Butterfly die Kamera auf ihn gerichtet.


Mittwoch, 02. August, nach Einbruch der Dunkelheit

Von unserem Versteck aus konnten wir weder verstehen, was drüben gesprochen wurde, noch genau erkennen, wie viele sich dort aufhielten. Auf dieser Seite des Flusses zeigte sich die Vegetation deutlich üppiger. Widerspenstiges Buschwerk gesellte sich zu verdorrten, braungelben Gräsern.
»Wir müssen näher ran«, flüsterte ich und Natalie stimmte nickend zu. Seit wir die beiden Jungs am Fluss beobachtet hatten, war ein Gedanke in meinen Kopf zurückgekehrt, der durch die dramatischen Geschehnisse der vergangenen achtundvierzig Stunden vollkommen daraus verdrängt worden war. Jetzt beherrschte er mein Denken, trieb mich an, und hätte mich beinahe dazu veranlasst, aufzuspringen und blindlings zu den anderen hinüberzulaufen.
Seit ich den Jungen erkannt hatte, der Ben beim Wasserholen beaufsichtig hatte, war Marc präsenter denn je. War er am Leben? War er dort drüben, nur rund fünfzig Meter von mir entfernt? War er unverletzt? Ging es ihm gut? Und wie, um alles in der Welt, hatte ich so lange nicht an ihn denken können?
Als wir bis auf zwanzig Meter heran waren, flackerten vor uns Flammen auf. Wir blieben stehen, duckten uns. Endlich konnte ich erste Gesichter ausmachen. Dicht bei dem auflodernden Lagerfeuer stand Bens Bewacher. An seiner Seite befand sich jedoch nicht Ben, sondern der Junge mit den schlohweißen Haaren. Sie legten weitere Zweige auf das Feuer und blickten mit versonnenen Mienen in die züngelnden Flammen. Etwas abseits saßen drei, nein vier Gestalten auf dem Boden, ihre Gesichter lagen im Dunkeln. Niemand sagte etwas.
Unschlüssig darüber, was wir jetzt tun sollten, verharrten wir geduckt am Boden, bis sich die beiden am Feuer plötzlich umwandten. Zwei weitere Schatten traten aus der Finsternis in den Lichtschein, dann setzte mein Herz zwei Schläge aus. Marc!
Marc und ein außergewöhnlich großes Mädchen brachten mehr Holz zur Feuerstelle, dann gingen sie zu den anderen hinüber und setzten sich ebenfalls auf den Boden. Meine Handflächen wurden schweißig, mein Pulsschlag verdoppelte die Frequenz.
Natalie bemerkte meine Erregung wohl, fragend sah sie mich von der Seite an. Es dauerte jedoch eine kleine Ewigkeit, ehe ich den Blick von der dunklen, auf der Erde sitzenden Gestalt lösen konnte, um mich ihr zuzuwenden.
Marc?, formten Natalies Lippen tonlos seinen Namen.
Ich nickte und Natalie lächelte. Dann sahen wir wieder zum Feuer hinüber, nichts hatte sich verändert.
»Was soll's!«, sagte Natalie plötzlich laut, stand auf und setzte sich in Bewegung. Erschrocken griff ich nach ihrem Bein, aber ich reagierte zu spät.


Montag, 31. July, mittags

»Du hast ihn umgebracht!«, schrie der Engländer an Butterfly gewandt.
»Nein«, entgegnete Butterfly ruhig, »du hast ihn umgebracht.« Hämisch grinsend schwenkte sie das kleine Gerät vor seinen Augen. In der nächsten Sekunde stürmte der Rothaarige auf Butterfly zu. Samuel sprang vor, verpasste ihm einen wuchtigen Schlag in die Magengrube. Der Engländer klappte zusammen, um Atem ringend wand er sich am Boden. Butterfly beugte sich über ihn und packte ihn rüde an den Haaren. »Hör zu, Honey, wenn du schön artig bist und tust, was ich von dir verlange, wird sich mein Freund nicht weiter veranlasst fühlen, dir weh zu tun. Solltest du jedoch auf dumme Gedanken kommen«, sie riss noch energischer an seinen Haaren und ihr Ton wurde schärfer, »wird er dir jeden Knochen einzeln brechen!«


Mittwoch, 02. August

Da die Suche nach Flug HU7704 in Küstennähe, sowie über den Maria Inseln erfolglos verlief, wurde der Suchradius um 200 Seemeilen erweitert.


Mittwoch, 02. August, spät in der Nacht

Letztlich war es weit weniger schlimm, als wir angenommen hatten. Der Junge mit den schlohweißen Haaren, der auf den Namen Francis hörte, hatte Ben eins auf die Nase gegeben, weil der zuvor allen Proviant aufgegessen hatte, den sie miteinander hatten teilen wollten. Das kurze Handgemenge war längst vergessen, dennoch stand Ben seitdem nicht allzu hoch in der Gunst.
Der andere Junge, den wir mit Ben am Fluss gesehen hatten, hieß Law–irgendwas. Seinen Namen hatte ich nicht recht verstanden, wollte aber auch nicht nachfragen. Er vermittelte einen äußerst unzugänglichen Eindruck, machte mir regelrecht Angst. Das große, schlanke Mädchen hieß Wendy. Auch sie wirkte reserviert, beäugte uns misstrauisch. Das letzte Mädchen, das nicht von unserer Schule stammte, hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund. Sie wirkte sehr ängstlich, sagte kein einziges Wort. Abgesehen von Ben befanden sich drei Schüler unserer Schule unter der kleinen Gruppe Überlebender. Und obgleich ich sehr erleichtert war, dass es neben uns auch andere geschafft hatten, hielt sich meine Freude darüber in Grenzen. Ich schämte mich für mein Empfinden, kam jedoch nicht dagegen an.
Von mehr als zwanzig Mitschülern mussten es ausgerechnet Sarah, Mel und Ned sein. Ein wahrhaft abscheulicher Gedanke, aber genau so empfand ich. Natalie erging es ganz ähnlich. Zumindest glaubte ich, das von ihrem Gesicht ablesen zu können.
Ohnedies verlief das Wiedersehen äußerst skurril: Sarah und Mel sprangen augenblicklich auf, als sie uns bemerkten. Einen Augenblick lang beäugten sie und ungläubig, dann fiel mir Sarah tatsächlich um den Hals. Mit tränennassen Augen drückte und herzte sie mich, als wäre sie überglücklich, mich lebend wiederzusehen. Auch Mel schloss mich in die Arme, auch ihr kaufte ich den überschwänglichen Empfang nicht wirklich ab. Einer nach dem anderen empfing uns unerwartet herzlich und als ich, bei all dem Hin und Her, plötzlich Marc gegenüberstand, erstarrte ich zur Salzsäule.
Er sah mich an und seine wunderbar blauen Augen leuchteten hell. Unsicher lächelnd zögerte er, dann breitete er seine Arme aus, kam mir jedoch nicht näher. Auch ich lächelte und blieb wie angewurzelt stehen. Ein einziger Schritt, eine winzige Geste nur, dann wäre alles wie von selbst geschehen. Aber ich lächelte nur und einen Augenblick später war der Moment vertan. Marc ließ die Arme sinken, sein Lächeln erstarb, dann wandte er sich ab.

Bis spät in die Nacht erzählte wir einander, wie es uns ergangen war. Demnach hatten sie ebenfalls auf einer der Notrutschen Zuflucht gefunden und waren dann weiter westlich an Land gespült worden. Einen vollen Tag brachten sie damit zu, das nach und nach angespülte Treibgut einzusammeln. Rucksäcke, Plasikflaschen, ein paar Decken und dergleichen. Unter den angeschwemmten Gegenständen befanden sich jedoch auch wenig mutmachende Dinge. Einzelne Schuhe, ein Cugarcap oder ein zerrissenes Hemd, welches Francis ohne Zweifel als das eines Freundes wiedererkannte. Auf die Frage, ob wir ähnliches entdeckt hatten, brach Natalie in Tränen aus. Auch mir fiel es schwer, von vergangener Nacht zu erzählen. Allein der Umstand, dass dies schreckliche Erlebnis nur Stunden zurücklag, mir jedoch wie in einem anderen Leben erschien, zeigte mir unmissverständlich, dass ich nicht daran erinnert werden wollte.
Lange Zeit hörten Natalie und ich nur zu. Als ich dann wortkarg und sehr zögerlich zu erzählen begann, starrte Sarah mich plötzlich mit großen Augen an. »Liam?«, fragte sie fassungslos, »Liam war bei euch?«
Ich verstummte mitten im Satz und wandte mich ihr zu. »Ja«, antwortete ich einsilbig und hatte mit einem Mal das ungute Gefühl, sie belogen zu haben.
Sarah sprang auf und kam einen Schritt auf mich zu. Zornig funkelten ihre Augen im Widerschein des Feuers und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Wo ist er?«, schrie sie, »Was hast du ihm angetan?«
»Ich –«, stammelte ich, »wir haben überhaupt nichts –«
»Er ist weggelaufen!«, mischte Natalie sich ein, die ebenfalls aufgestanden war und sich an meine Seite gestellt hatte.
»Blödsinn!«, schrie Sarah, »Das ist Blödsinn!« Sie schäumte vor Wut, stand unmittelbar davor, mich anzuspringen. »Du bist ein verdammtes Flittchen!«, keifte sie und kam mir noch näher.
An einem anderen Tag hätte ich mich ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit entgegengeworfen und versucht, ihr jedes Haar einzeln vom Kopf zu reisen. Jetzt aber schreckte ich zurück und meine Augen suchten und fanden Marcs Blick. Ich bin keine Schlampe, wollte ich unmissverständlich klarstellen. Aber stumm und in die Enge getrieben, vermittelte meine defensive Körperhaltung und der schuldbewusste Ausdruck auf meinem glühend heiß gewordenen Gesicht sicher ein anderes Bild.
Natalie drängte sich zwischen mich und Sarah, die mir bis auf Nasenlänge auf den Pelz gerückt war. Erst dann mischten sich andere ein und trennten uns voneinander.

Als sich die Gemüter beruhigt hatten, bat Francis, ich möge weiter erzählen. Zögerlich begann ich von neuem und mit jedem weiteren Satz wandelte sich die Stimmung. War sie eben noch angespannt aggressiv gewesen, herrschte alsbald fassungsloses Staunen und zuletzt blankes Entsetzen. Als ich endete, weinten nicht wenige, auch über meine Wangen rannen erneut Tränen.
»Wir müssen ihn suchen!«, schluchzte Sarah, die sich zwischenzeitlich halbherzig bei mir entschuldigt hatte.
»Das werden wir!«, versprach Ned, auch Ben stimmte sofort zu.


Montag, 31. Juli, früher Nachmittag

Jonas hatte den Vormittag auf dem Boot zugebracht. Zunächst hatte er kleinere, fällig gewordene Wartungsarbeiten verrichtet und sich anschließend einige Gläser Selbstgebrannten gegönnt. Irgendwann war er unter Deck eingenickt.
Sein Kopf schlug unsanft gegen die hölzerne Umrandung, beinahe wäre er aus der Koje gefallen. Er öffnete die Augen und blickte sich verdutzt um. Das Boot schwankte beachtlich. Jonas kämpfte sich mühevoll aus dem Bett und eilte nach oben. Die Luft hatte spürbar abgekühlt, energischer Wind empfing ihn und im Westen zeigte sich der Himmel kohlrabenschwarz.
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Jonas. Er stürzte zum Bug und beeilte sich, den Anker zu heben.

***​

»Was habt ihr mit mir vor?«, wollte der Engländer wissen.
»Halt dein Maul!«, war alles, was Butterfly ihm antwortete.
Der Sturm hatte die Insel nahezu vollends erreicht, orkanartige Winde pfiffen, der Himmel verfinsterte sich rasant. Samuel stieß den Rothaarigen, mit auf den Rücken gedrehtem Arm, vor sich her. Butterfly folgte ihnen in kurzem Abstand. Zum Boot zurückzukehren war keine Option mehr. Ihr Weg führte steil bergan, zu einem Ort, den Samuel von früheren Inselbesuchen her kannte.
Als peitschender Regen einsetzte und erste, gleißend helle Blitze den zur Nacht gewordenen Tag erhellten, erreichten sie den schmalen Höhleneingang, aus dem sich ein dünnes Rinnsal ergoss. Samuel stieß den Engländer unwirsch voran und folgte ihm. Zuletzt schlüpfte Butterfly durch den engen Felsspalt.
In der Höhle war es stockfinster und kühl, es roch nach Pilzen und feuchtem Staub. Samuels Finger schlossen sich fester um das Handgelenk des Rothaarigen und er zischte: »Komm gar nicht erst auf dumme Ideen!« Tastend und stolpernd drängte er ihn vorwärts.
Ein weiterer Blitz erhellte den schmalen Gang, der sich zunehmend weitete. Der Lichtschein fiel nicht allein vom Eingang her ein, auch aus dem Höhleninneren flackerte es kurz auf. Samuel wusste, dass wenig vor ihnen eine große Halle lag, in welcher sich hoch oben eine kleine Öffnung zeigte. Im Sekundentackt zuckten nun Blitze vom Himmel, stroboskopartig erhellten sie die Felsenhalle.
»Was für ein abgefahrener Ort!«, bemerkte Butterfly begeistert. Durch die einen halben Quadratmeter große Öffnung, in gut zehn Meter Höhe, ergoss sich im Blitzgewitter schimmernder Regen. Die Donnerschläge, die jetzt nahezu zeitgleich auf all die Lichtblitze folgten, hallten ohrenbetäubend von den Felswänden wider.
Samuel zog einen Stoffbeutel aus seinem Rucksack und reichte ihn Butterfly. »Fessel seine Beine!«, schrie er gegen den Lärm an. Butterfly entnahm dem Beutel zwei Rebschnüre und machte sich sogleich ans Werk. Samuel riss am Arm des Engländers und brüllte in dessen Ohr: »Trete nach ihr und du wirst es bereuen!«
Als Butterfly die Knoten an den Fußknöcheln festgezogen hatte, reichte sie Samuel den Beutel. Samuel fesselte die Hände des Engländers, dann stülpte er ihm den Stoffbeutel über den Kopf. Er überprüfte die Knoten, die Butterfly angebracht hatte, erst dann entspannte er sich ein wenig.


Donnerstag, 03. August

Inzwischen beteiligten sich doppelt so viele Flugzeuge an der Suche, wie noch zu Beginn der Aktion. Trotzdem verlief ein weiterer Tag erfolglos. Von nun an zog man in Betracht, dass Flug HU7704 über die vorhergesehene Flugroute hinaus aufs offene Meer geflogen war.


Donnerstag, 03. August, bei Sonnenaufgang

Nach kurzer Absprache kamen wir überein, uns in mehrere Gruppen aufzuteilen, wodurch die Suche nach Liam effektiver sein sollte.
Francis, Wendy und der unheimliche Junge, von dem ich noch immer nicht wusste, wie genau er hieß, machten sich diesseits des Flusses Richtung Meer auf den Weg. Sarah, Mel und Ned begaben sich auf der anderen Seite stromabwärts auf die Suche. Ben, Natalie und ich wollten flussaufwärts nach Liam Ausschau halten. Monique, das äußerst zurückhaltende, noch immer ängstlich wirkende Mädchen, fühlte sich nicht dazu in der Lage, an der Suche teilzunehmen. Da Marc es für keine gute Idee hielt, sie allein zurück zu lassen, beschloss er, mit ihr vor Ort bleiben.
Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass er sich uns anschließen würde. Jetzt war ein Teil von mir drauf und dran zu verkünden, dass auch ich mich nicht an der Suche nach Liam beteiligen möchte. Ein anderer Teil erinnerte mich jedoch vehement daran, was ich ihm schuldig war.

***​

Verborgen beobachtete er, was vor sich ging. Vergangene Nacht hatte er sich dicht an das Lager geschlichen, ihre Gespräche mit angehört.
Die Pexis lief dicht zu seiner Linken vorüber, nur mit Glück blieb er unentdeckt. Auf der anderen Flussseite sah er Ned hinter Sarah und Mel hergehen, jetzt war es an der Zeit, dem letzten Suchtrupp zu folgen.
Liam wäre Marc und Monique beinahe in die Arme gelaufen. Auf sein Ziel fixiert hatte er die beiden übersehen. In buchstäblich letzter Sekunde gelang es ihm, sich gerade noch rechtzeitig zu verstecken. Dann beeilte er sich, zu Betherly und den anderen aufzuschließen.
***​

»Du hast ihn auch gesehen, oder?«, bemerkte Monique.
Marc wandte sich ihr zu und nickte. »Eigentlich habe ich eher bemerkt, dass dir etwas aufgefallen ist«, sagte er verwundert, da Monique unverhofft breit lächelte.
»Ich hatte schon heute Nacht das Gefühl, dass uns wer beobachtet«, sagte sie amüsiert. »Doch erst heute Morgen habe ich ihn tatsächlich gesehen.«
Marc nickte erneut.
»Was willst du jetzt machen?«, wollte Monique dann wissen.
»Da er sich offensichtlich nicht zu erkennen geben möchte, werde ich ihm wohl folgen müssen«, sagte Marc, besorgt blickte er Monique an. »Kommst du allein klar?«
Zu seiner Verwunderung fragte sie unbeschwert: »Weißt du überhaupt, wohin er gegangen ist?«
»Nicht genau, aber ich –«
»Na, dann komm!«, fiel Monique ihm ins Wort, dann stand sie auf und ging voraus.


Dienstag, 01. Juli, bei Morgengrauen

Dass Jonas´ Boot den Sturm überstand, kam einem Wunder gleich.
Zwar glaubte Jonas weder an Wunder, noch war er ein religiöser Mann, vergangene Nacht hatte er jedoch mehrfach gebetet. Als er sein Boot in voller Fahr auf das offene Meer hinausgesteuert hatte, war ihm rasch klar geworden, dass es dafür längst zu spät war. Schlauer wäre gewesen, das Schiff seinem Schicksal zu überlassen und sich schnellstmöglich ins Inselinnere zu flüchten.
Das kleine Boot war Jonas einziger Besitz. Es zu verlieren, hätte seinen endgültigen Ruin bedeutet. Somit konnte er genauso gut damit untergehen.
Eine Zeit lang versuchte Jonas verzweifelt sein Boot auf Kurs zu hallten, die halsbrecherischen Wellen in günstigem Winkel anzusteuern. Rasch wurde ihm jedoch klar, dass er längst nur mehr Spielball des unerbittlich wütenden Sturmes war. Schicksalsergeben begab er sich zurück unter Deck. Trinkend, fluchend und betend harrte er Stunde und Stunde aus, bis er letztlich die Besinnung verlor.

Jetzt stand Jonas am Bug seines Bootes und hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Vor Minuten war er aus tiefer Umnachtung erwacht, hatte das Chaos unter Deck in Augenschein genommen und war dann nach oben gekommen.
Friedlich trieb das arg lädierte Boot auf ruhiger See, im Osten stieg glitzernd die Sonne über den Horizont. Jonas Hände zitterten und seine Knie versagten ihm den Dienst. Tränen rannen über seine sonnengegerbten Wangen, der Kloß in seinem Hals machte ihm das Schlucken schwer. Jonas Augen glitten über Deck, auch hier war manches zu Bruch gegangen, vieles unwiederbringlich verschwunden.
Jonas sah zum Himmel hoch und blinzelte im Sonnenlicht. »Danke«, flüsterte er.


Montag, 31. Juli, nach Sonnenuntergang

Samuel erkannte die neue Gefahr beinahe zu spät.
Nachdem das Sturmzentrum ihre Zuflucht passiert hatte, Blitz und Donner immer seltener wurden, überprüfte er abermals den Sitz der Fesseln, dann kam er mit Butterfly überein, die Nacht in der Höhle zu verbringen. Müde streckte er sich auf dem unbequemen Untergrund aus und lauschte Butterflys Monolog.
Bevor sie sie zu sprechen begann, malträtierte sie den Rothaarigen mit Fußtritten. Der Engländer schrie auf, Samuel konnte sich gut vorstellen, auf welche Körperpartie Butterfly gezielt hatte. »Wenn du mich unterbrichst, mache ich mit Vergnügen weiter!«, sagte sie hämisch, nachdem der Engländer den schlimmsten Schmerz verwunden hatte.
»Vielleicht hast du inzwischen verstanden, worum es mir geht«, führte sie aus. »Du hast Kyla angegriffen und jetzt ist er tot. Und wir haben alles auf Band.«
Samuel konnte Butterfly nicht sehen, er hörte sie umhergehen, stellte sich ihr amüsiert grinsendes Gesicht vor.
»Wir werden bezeugen«, fuhr sie fort, »dass du ihn umgebracht hast und Dank der Aufnahmen wird niemand daran zweifeln.«
Der Engländer schluchzte, sagte jedoch kein Wort.
»Aber soweit muss es nicht kommen«, sagte Butterfly aufmunternd. »Du hast Geld, das ist kein Geheimnis. Und du wirst mir eine Menge davon abgeben!«
Butterfly eröffnete dem Engländer, dass sie ihn nach ihrer Rückkehr zum Hafen gehen lassen würden und er daraufhin umgehend die genannte Summe beschaffen sollte. Würde er sich daran halten, bekäme er das Band und wäre ein freier, wenn auch nicht mehr ganz so wohlhabender Mann. Käme er hingegen auf dumme Ideen, gingen die Aufnahmen samt ihrer Aussagen zur Polizei und er für verdammt lange Zeit hinter Gitter. Abschließend wollte Butterfly wissen, ob er alles verstanden und inzwischen kapiert habe, dass sie keineswegs spaßen würde, oder auch nur eine Sekunde zögern, sollte er sich ihren Anweisungen widersetzten. Der Engländer antwortete ein sehr zögerliches und dünnes Ja. Als Bestätigung und zur Unterstreichung ihrer Worte trat Butterfly ihm erneut in die Weichteile.

Samuel, der allem schweigend beiwohnte, wunderte sich über ihre Treffsicherheit. Zwar hatten auch seine Augen sich inzwischen an die Finsternis gewöhnt, aber mehr als vage Schemen konnte er noch immer nicht ausmachen. Butterfly wurde ihm zunehmend unheimlich und allmählich fragte er sich, was sie ihn betreffend im Schilde führte. Gedanklich damit beschäftigt, was er diesbezüglich unternehmen sollte, bemerkte er plötzlich, dass sein Hintern nass wurde. Er sprang auf, das Platschen unter seinen Füßen verhieß nichts Gutes.
»Was ist los?«, wollte Butterfly von ihm wissen.
»Keine Ahnung!«, erwiderte Samuel, obgleich er bereits ahnte, was vor sich ging. Plötzlich wurde auch der Rothaarige unruhig und mit einmal drang das Rauschen in Samuels Bewusstsein vor, das schon geraume Zeit zu hören war.
»Die Höhle läuft voll!«, schrie der Engländer und versuchte auf die Füße zu kommen. Samuel war sofort bei ihm, trat ihm die Beine weg und sah sich, so gut es ging, um. Viel konnte er nicht erkennen. Nur Butterfly, die sich am Rucksack zu schaffen machte und den Engländer, der zu seinen Füßen lag. Darüber hinaus verschwamm alles grau in grau, weswegen Samuel sich auf das konzentrierte, was er hörte. Das Rauschen wurde zweifellos lauter. Sicher stammte es von einem der weiterführenden Gänge, aus welchem sich der Bach ergoss. Zudem vernahm er ein Plätschern, was er auf den noch immer fallenden Regen zurückführte, der durch die Deckenöffnung ins Bachbett fiel. Bevor sie sich hier niedergelassen hatten, waren sie ein gutes Stück vom Bachbett weg hinaufgestiegen und nun bemerkte Samuel, wie ihm das Wasser allmählich in die knöchelhohen Stiefel lief. Panik machte sich in ihm bereit. »Wir müssen hier raus!«, schrie er. Erst dann fiel ihm auf, dass sich der Rothaarige zu seinen Füßen nicht rührte und Butterfly verschwunden war. Augenblicklich beugte er sich zu ihm hinunter, packte ihn und zog ihn aus dem Wasser. Er rührte sich noch immer nicht, vermutlich war er mit dem Kopf aufgeschlagen, als Samuel ihn zu Fall gebracht hatte. Samuel schüttelte den Engländer, endlich erwachte er spuckend und würgend zum Leben. Vornübergebeugt richtete sich der Rothaarige ruckartig auf und schlug mit dem Hinterkopf versehentlich gegen Samuels Kinn. Beide verloren den Halt, rutschten auf dem glitschigen Untergrund aus und schlugen Sekunden später auf das Wasser. Eine unerwartet starke Strömung erfasste die beiden, zog sie sogleich Richtung Ausgang. Geistesgegenwärtig wappnete sich Samuel für den bevorstehenden Tauchgang, da er davon ausging, dass die letzten Meter zum Höhleneingang längs komplett unter Wasser standen. Den Rothaarigen hatte er bereits aus den Augen verloren. Samuel räumte ihm, gefesselt wie er war, eine verschwindend geringe Überlebenschance ein.
Dann war es so weit. Das Wasser schwappte über Samuels Kopf, er atmete tief ein, stieß sich von der Decke ab und tauchte nach unten in den stärker werdenden Sog. Sofort nahm er Fahrt auf und schoss in atemberaubendem Tempo voran, bis er jäh gestoppt wurde. Samuel stieß jedoch nicht gegen harten Stein, ganz im Gegenteil versperrte ihm etwas Weiches, aber nicht minder Unnachgiebiges den Weg. Unmittelbar vor dem Höhlenausgang hatte sich der Leichnam des Rothaarigen im engen Felsdurchschlupf verkeilt. Der unerbittliche Sog, der nachströmenden Wassermengen, presste Samuel unabwendbar gegen den Toten. Vergebens versuchte er dagegen anzukämpfen. Rasch verbrauchte die zusätzliche Kraftanstrengung den kümmerlichen Rest Sauerstoff, der seinen Lungen geblieben war. Als der Atemreflex ihn schlussendlich dazu zwang, den Mund aufzutun, war die Hoffnung, dass auch Butterfly längst den Tod fand, Samuels letzter Gedanke.


Donnerstag, 03. August, vormittags

Marc hatte Monique vor Antritt der Reise nur ein einziges Mal angetroffen. Bei einem der offiziellen Zusammentreffen, als sich die Teilnehmer am Projekt einander vorstellen sollten. Das gänzlich in schwarz gekleidete, kreidebleich geschminkte Mädchen hatte kaum etwas von sich preisgegeben. Ihre Haare waren Lila und ihre Augen fortwährend auf den Fußboden unter ihren schweren Lederstiefeln gerichtet gewesen.
Am Flughafen hätte er sie beinahe nicht wiedergekannt. Zum kurzen Zopf geflochtene, hellbraune Haare, gesund wirkender Teint und sportliche, figurbetonte Kleidung. Das kleine, nur etwa 1,65 Meter große und sehr schlanke Mädchen sah nicht unattraktiv aus.
Monique war weiterhin für sich geblieben, dennoch hatte Marc sie mehrfach lachen sehen. Mehr als einmal war ihm aufgefallen, dass sie vollkommen alleinstehend, ohne Gesellschaft oder ersichtlichen Grund, laut aufgelacht hatte. Das Mädchen hat den Verstand verloren, schlussfolgerte er.
Jetzt hielt es Marc noch immer für möglich, dass Monique verrückt war, tendierte jedoch eher dazu, dass sie die Geistesgestörte nur spielte.

Seit Minuten kniete sie grinsend neben ihm im hohen Gras. Problemlos hatte sie Liam aufgespürt und war ihm dann mit erstaunlichem Geschick gefolgt.
Rund fünfzig Meter voraus saßen Betherly, Natalie und Ben auf flachen Felsen am Fluß. Auf halber Strecke davor, hockte Liam hinter einem Busch verborgen und wiegte sich fortwährend vor und zurück. Sein Anblick war lächerlich und besorgniserregend zugleich. Wie eine auf der Jagt befindliche Grosskatze kauerte er auf allen Vieren, allzeit zum Sprung bereit. Dabei erweckte er zugleich den Eindruck, als hätte er zu viel Alkohol getrunken und enorme Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu halten. Je länger Marc ihn beobachtete, desto verrückter erschien ihm die Situation. Am Flussufer das Mädchen, dass ihn so sehr faszinierte, unterm Bush der verschollene Junge, der offensichtlich den Verstand verloren hatte, und neben ihm das gelinde ausgedrückt zweigesichtige Mädchen, dass das alles sehr zu amüsieren schien.
Marc wollte eben aufstehen und dem skurrilen Schauspiel eine Ende setzen, als Liam urplötzlich herumfuhr und ihm für ein, zwei Sekunden direkt in die Augen sah. Wie vom Blitz getroffen stürmte er los. In Windeseile legte er die zwanzig Meter Wegstrecke zurück und Marc spannte sich, bereit für die bevorstehende Konfrontation. Auf den letzen Metern änderte Liam jedoch abrupt seinen Kurs, schlug eine andere Richtung ein und verschwand unfassbar schnell zwischen den niederen Büschen.
Mit zu Fäusten geballten Händen stand Marc aufrecht, verdutzt sah er dem Davonrennenden nach. »Marc!« Hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er wandte sich um, vom Fluss her kamen die anderen gelaufen.

***​

»War das Liam?«, fragte ich außer Atem.
»Ja«, antwortete Marc und wandte sich wieder in die Richtung, in der Liam soeben verschwunden war.
»Aber wieso rennt er weg?«, fragte Natalie, »und was macht ihr hier?«
»Wir haben –«, begann Marc und sah sich hilfesuchend zu Monique um, die stumm an seiner Seite stand und auf eigenartige Weise verändert wirkte. »Wir wissen es nicht«, fuhr er fort, da sie keinerlei Anstalten machte, sich dazu zu äußern. »Ich hab nicht die leiseste Ahnung, warum er das macht«, führte Marc aus und wirkte mit einmal verärgert.
»Ja, aber –« hakte Ben nach, »was macht ihr hier überhaupt?«
»Wir haben etwas gehört«, sagte Monique unverhofft, »und Marc wollte nachsehen.«
Alle starrten Monique an und sie verzog das Gesicht. Sie presste ihre Lippen aufeinander und schnaubte. Dann wandte sie sich ab und ging ein kleines Stück von uns weg.
Auch ich starrte sie verdutzt an und schlagartig wurde mir klar, warum ich das tat. Monique unterdrückte ein Lachen. Ja, verdammt! Das Mädchen wirkte mit einmal heiter und unbeschwert und musste sich eben tatsächlich das Lachen verbeißen.
Verärgert packte ich Marc am Arm und zog ihn von den anderen fort. »Was soll der Scheiß?«, fragte ich ihn vorwurfsvoll, »Findet sie das etwa komisch?«
Marc sah sich zu Monique um, die uns beobachtete und nun wieder sehr viel ernster dreinschaute.
»Ich weiß es nicht«, begann Marc leise, »ich glaube, dass sie ernsthaft spinnt.« Dann wandte er sich mir zu und plötzlich hatte ich vergessen, was ich sagen wollte. Eine Armlänge voneinander entfern, standen wir uns gegenüber und keiner sagte ein weiteres Wort. Mein Ärger war so rasch verraucht, wie er gekommen war und mein Kopf urplötzlich mit warmer Watte gefüllt. Mein Herz wollte lächeln, aber das bisschen Verstand, das mir geblieben war, verbot es. Das Gefühl war schauerlich schön und währte unendlich lange. Herrlich peinliche Sekunden, die meinetwegen bis in alle Ewigkeit hätten andauern können.
»Beth!«, rief Natalie und mit einmal merkte ich, dass mein Gesicht nun doch lächelte. Auch Marc lächelte und dies Lächeln schenkte er mir allein. Den anderen den Rücken zugekehrt, war es nur für mich bestimmt und abgeschirmt durch seinen Körper, bemerkte niemand meine stumme Antwort.
»Beth!«, rief Natalie wieder und der Zauber verflog.

Wenig später hatte Marc uns in groben, etwas unzusammenhängenden Zügen erklärt, was vorgefallen war. Seitdem herrschte Ratlosigkeit.


Dienstag, 01. Juli, bei Sonnenaufgang

Butterflys erster Gedanke war, dass es nicht umsonst sein durfte.
Sofort war sie zum bereits vollgesogenen Rucksack geeilt und hatte die Kamera an sich genommen. Auch sie hatte zunächst zum Ausgang schwimmen und der volllaufenden Höhle so schnell wie möglich entkommen wollen. Dann hatte sie ihr Vorhaben jedoch verworfen und war tiefer in die Höhle hineingelaufen.
Butterfly wurde klar, dass die Kamera den Weg aus der Höhle auf diese Art niemals unbeschadet überstehen könnte. Und das kam schlicht nicht in Frage!
Die Kammer stieg zu beiden Seiten hin steil an, somit bedurfte es enormer Mengen Wasser, sie restlos aufzufüllen. Selbst wenn es tatsächlich dazu gekommen sollte, blieb Butterfly noch immer das Loch in der Höhlendecke als letzte Fluchtmöglichkeit.

Aber dazu kam es nicht. In den letzten Minuten nahm das spärliche Licht, das seit Anbeginn des neuen Morgens durch die Deckenöffnung fiel, beständig zu. Endlich konnte Butterfly das gesamte Ausmaß der Überschwemmung überblicken. Hoch oben saß sie auf einem kleinen Absatz, weit höher als notwendig gewesen war. Neben ihr stand der Rucksack, in Händen hielt sie noch immer den Camcorder. Schon vor Stunden hatte sie das Gerät kurz getestet, alles funktionierte tadellos. Nun schaltete sie den Camcorder erneut ein und spulte das Band zurück. Dann sah sie sich die Aufnahme an.
»Du mieses Schwein!«, entfuhr es Butterfly nach wenigen Sekunden. Das leicht beschlagene Display zeigte zunächst, wie der Engländer Kyla attackierte und dann den Boden zu Samuels Füßen. Danach folgten jedoch nicht unmittelbar die Bilder, die Butterfly selbst aufgenommen hatte. Viel zu früh war die Kamera angehoben worden, deutlich war zu erkennen, wie sie Kyla in den Tod stieß.
Butterfly klappte das Display zu und packte die Kamera in den fast vollständig getrockneten Rucksack.
Eine Zeit lang beobachtete sie den Wasserstand, der sich knapp drei Meter unter ihr eingependelt hatte. Das zahle ich dir heim, dachte Butterfly. Ich hoffe wirklich, du hast es nach draußen geschafft.
Für den Moment gab es für Butterfly nichts weitere zu tun als abzuwarten. Eine gefühlte Ewigkeit hatte sie kein Auge zugetan, jetzt bettete sie ihren Kopf auf den Rucksack und schloss die Augen.


Donnerstag, 03. August, nachmittags

Als das Gelände zunehmend steiler abfiel und von fern her der ins Meer stürzende Wasserlauf zu hören war, schlug Francis vor, zum Flussufer zu gehen. Während ihrer Suche nach Liam hatten Wendy, Lawder und er sich immer weiter vom Fluss entfernt. Nun stimmten sie überein, dass es an der Zeit war, dorthin zurückzukehren. Ihre Trinkreserven waren nahezu aufgebraucht, allmählich kam ihnen die Suche sinnlos vor.
»Wieso suchen wir den Penner überhaupt?«, fragte Lawder gereizt.
»Weil wir auch nach Dir suchen würden, du Arsch!«, entgegnete Wendy pampig. »Stimmt doch, Francis?«, fragte sie unsicher, »Ihr würdet doch auch nach mir suchen, oder?«
Dass Wendy auf Lawder stand, war kein Geheimnis. Die Art, wie sie es zeigte, verriet eine Menge über ihre Vergangenheit. Wendy fehlt es, ihrer Kindheit wegen, an Selbstvertrauen, daher stößt sie Menschen, die ihr etwas bedeuten, aus Angst vor Zurückweisung vor den Kopf. So stand es in ihrer Heimakte zu lesen.
»Sicher«, antwortete Francis wenig überzeugend.

Als sie zum Fluss kamen waren es nur noch wenige Meter bis zur steil abfallenden Felskante, über welche Betherly, Natalie und Liam tags zuvor emporgeklettert waren. Sie trafen auf Sarah und Mel, die beiden Mädchen wirkten erschöpft. Francis schüttelte viel sagend den Kopf, als Sarah ihm mit fragendem Blick entgegen kam.
»Wo ist Ned?«, wollte Francis dann wissen und Mel antwortete, dass er alleine ein Stück weit die Felsen hinabsteigen wollte, um weiter unten nach Liam zu suchen.
Francis begab sich direkt zur Kante und blickte hinunter. Er entdeckte Ned, der mit schnellen, hastigen Bewegungen emporgestiegen kam. »Er kommt zurück!«, rief er über die Schulter und Ned blickte zu ihm auf.
»Habt ihr es auch gehört?«, schrie Ned und beschleunigte noch einmal sein Tempo.
»Was denn?«, rief Francis nach unten und die andern kamen hinzu.
»Na das!«, erwiderte Ned, blieb stehen und deutete mit großer Geste aufs Meer hinaus. Weit draußen tuckerte ein einzelnes Boot vorüber.
Sofort begannen alle zu schreien und mit den über ihre Köpfe gereckten Armen zu winken. Ned, der eine halbe Minute darauf bei ihnen eintraf, machte ihnen klar, dass das sinnlos war. Das Boot war viel zu weit draußen, als dass man sie hier oben hätte wahrnehmen könnte. Er hielt es für wichtiger, das Boot unter keinen Umständen aus den Augen zu verlieren. Aus unerfindlichen Gründen war er davon überzeugt, dass es anlanden würde. Aus Mangel an Alternativen stimmten ihm alle zu.
Ned und Francis füllten ihre Wasserflaschen und machten sich im Laufschritt auf den Weg. »Bleib du bei den Mädchen», befahl Francis an Lawder gewandt, «zu zweit sind wir schneller.«
Ratlos dreinschauend sah Lawder den Davoneilenden nach.
»Wir sollten zu Marc und den anderen zurückgehen«, meinte Wendy nach kurzem, »vielleicht haben sie Liam inzwischen gefunden.«
Schweigend füllten sie die verbliebenen Flaschen, dann ging einer dem anderen folgend flussaufwärts.

Unweit beobachtete eine nervös zuckende, sich unentwegt an den Armen und im Gesicht kratzende Gestalt die Geschehnisse.


Mittwoch, 03. August, Mitternacht

Jonas schreckte aus dem Schlaf auf und wahr augenblicklich hellwach. Das er nüchtern war, war unmöglich, dennoch fühlte es sich so an. Seit er den Hafen am Dienstagabend erreicht hatte, war er nicht mehr beim Boot gewesen. Sein Weg hatte ihn direkt ins Schankhaus geführt, besinnungslos hatten sie ihn Stunden später nach Hause getragen. Dass er den Sturm überlebt hatte, musste gefeiert werden.
Generös lud er alle Anwesenden und Hinzukommende ein. Ähnliches wiederholte sich tags darauf, des Engländers Geld verwandelte Jonas in einen großzügigen Mann. Wieder zu Hause wandte er sich dem Selbstgebrannten zu. Längst gab es nichts mehr zu feiern, nun trank er um die Schuldgefühle zu vertreiben.
Zwei Tage Dauersuff, das war lange nicht vorgekommen. Zumindest nicht in dem Ausmaß. Das exzessive Saufgelage auszukurieren bedurfte es sicher mehr als ein paar Stunden Schlaf, dennoch fühlte sich Jonas im Moment vollkommen klar. Sein Verstand arbeitete tadellos und das gefiel Jonas überhaupt nicht. Bei seinem Leben hatte er geschworen, ein besserer Mensch zu werden, würde Gott ihn heil durch den Sturm bringen. Gott hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt. Und wie dankte er es ihm?
Jonas verdiente es nicht, hier zu sitzen. Er fühlte sich schlecht bis auf die Knochen, die Fische sollten längst an seinem Skelett nagen.
Jonas stand auf, sogleich bekam er die Nachwirkungen der durchzechten Tage zu spüren. Er schwankte beachtlich, in seinem Kopf begann es zu hämmern. Rasch packte er das Nötigste zusammen und machte sich auf den Weg zum Boot. Es wurde allerhöchste Zeit, dass er seinem Schwur gerecht wurde.


Mittwoch, 03. August, bei Sonnenaufgang

Zwei Nächte und einen Tag hatte sie in der Höhle ausharren müssen.
Als die ersten feinen Sonnenstrahlen durch die Öffnungen in der Höhlendecke fielen, erwachte Butterfly aus unruhigem Schlaf. Das bisschen Proviant aus dem Rucksack war rasch aufgebraucht, es drängte sie, den unseligen Ort endlich zu verlassen.
Als es hell wurde und sich zeigte, wie weit das Wasser in der vergangenen Nacht zurückgegangen war, entfuhr Butterfly ein erlösendes Jauchzen. Sie griff zum Rucksack und stieg eilends zum Bachbett hinunter. Zügig stapfte sie durch knietiefes Wasser, bis sie kurz vor dem Erreichen des Ausgangs jäh stehen blieb. Der Felsspalt war größtenteils versperrt. Erst nach Sekunden wurde ihr klar, was für die Barrikade verantwortlich war. Im Halbdunkel erkannte sie Samuels Hemd und die gefesselten Beine des Engländers. Die Körper der beiden Männer waren auf unnatürliche Weise ineinander verkeilt. Der Anblick ließ sie erschaudern. Angewidert stand Butterfly still, betrachtete sie das grausige Bollwerk aus menschlichen Gliedmaßen. Kein schöner Tod, dachte Butterfly, geschieht dir recht!
Schon bei der ersten Berührung gaben die Körper nach. Ein Tritt mit dem Fuß, ließ Samuels Körper, der sich über den Engländers geschoben hatte, auf dass Wasser klatschen. Butterfly wich zur Seite, dann stieg sie über den verbliebenen Leichnam nach draußen.


Donnerstag, 03. August, später Abend

Vier Tage nichts zu essen war im Grunde nicht schlimm. Zusammen mit meiner Mom hatte ich schon weit länger gefastet. Sie schwor auf diese Kuren und fastete Jahr ein Jahr aus im Frühjahr und Herbst. Meine Mutter hatte einmal volle einundzwanzig Tage nichts gegessen, ich schaffte mit Mühe neun.
Vier Tage nichts zu essen war somit nicht besonderes für mich. Einzig der Umstand, dass ich es zu Hause freiwillig tat, machte einen gewaltigen Unterschied. Jeder Zeit damit aufhören und nach Belieben aus dem Vollen schöpfen zu können ist eine Sache. Keine andere Wahl zu haben und nicht zu wissen, wann es enden würde, eine ganz andere. Das Thema beschäftigte mich zunehmend und ich war mir sicher, dass auch die anderen sich deswegen sorgten. Eigenartiger Weise verlor kaum jemand ein Wort darüber. Scheinbar hatten sich alle auf die ein oder andere Art damit arrangiert. Mit Ausnahme von Natalie.
»Beth, ich halte das nicht länger aus!«, klagte sie einmal mehr. Ihr fortwährendes Jammern zerrte an meinen Nerven. Und wie sich zeigen sollte, erging es nicht allein mir so.
»Wir haben es verstanden!«, erwiderte Ben mit leiser, aber anklagender Stimme.
»Du hast gut reden!«, keifte Natalie. »Du hast ja –« Mitten im Satz brach sie ab.
»Was?«, fragte Ben nach Sekunden scharf.
»Nichts«, entgegnete Natalie bockig. »Vergiss es!«
Aber er vergass es nicht.
»Was hab ich?« Ben stand auf und ging auf Natalie zu. »Was hab ich? Komm schon, sag es!« Er kam noch näher und baute sich vor ihr auf. »Komm schon, ich will es wissen! Was hab ich?«
»Es reicht, Ben!«, sagte ich genervt und winkte ab.
»Nein«, fauchte Ben mit zu Schlitzen verengten Augen, »mir reicht es!« Seine Wangen und Ohren glühten und sein Kinn bebte.
»Sie hat recht, Ben», mischte Marc sich ein, »es reicht!« Marc war ebenfalls aufgestanden und hatte sich dicht hinter Ben gestellt.
Verächtlich schnaubend setzte Ben ein herablassendes Grinsen auf. »Schon klar«, sagte er ohne sich zu Marc umzudrehen, »dass du auf ihrer Seite stehst!«
»Was willst du damit sagen?«, reagierte Marc prompt.
»Was ich damit sagen will?« Jetzt drehte sich Ben zu Marc um. »Glaubt ihr, wir sind blind? Ich jedenfalls nicht!« Er lachte und ergänzte: »Warum schlagt ihr euch nicht gleich da drüben in die Büsche und –« Der Faustschlag kam so schnell und unerwartet, dass Ben ihn vermutlich noch nicht einmal hatte kommen sehen. Marcs Faust traf ihn mitten ins Gesicht und Ben taumelte nach hinten.
»Schlag ihm seine verdammte Fresse ein!«, schrie Monique. Wie aus dem Nichts stand sie urplötzlich an Marcs Seite, kreischte hysterisch und stachelte ihn weiter auf.
»Nein, Marc!«, brüllte ich und wollte mich zwischen die beiden werfen, aber Natalie packte mich am Arm. Auch sie schrie, jedoch keine verständlichen Worte, aber so laut, dass alle vor Schreck erstarrten und sich zu ihr umdrehten. Noch immer schreiend starrte sie Richtung Fluss und als ich ihrem Blick folgte, entfuhr auch mir ein kurzer Entsetzensschrei.

***​

Als Jonas die Bucht erreichte, hatte er seit Stunden nichts mehr getrunken. Die längste Abstinenz seit Jahren. Das alles begann mit dem Tot seiner Frau. Vor nunmehr neunzehn Jahren war sie vollkommen unerwartet, tragisch verstorben. Jonas hatte auch zuvor schon gern ein Glas oder zwei getrunken, aber erst dann wurde es wirklich schlimm.
Ist es nicht erstaunlich, was der menschliche Körper auszuhalten im Stande ist? Knapp zwei Jahrzehnte exzessiven Trinkens und noch immer stand er aufrecht. Jonas würde auch zukünftig trinken, da machte er sich nichts vor. Aber dies eine Mal wollte er nüchtern bleiben und das Richtige tun.
***​

Dem Boot über Land zu folgen hatte sich rasch als unmöglich erwiesen. Bereits nach einer halben Stunde hatten sie es aus den Augen verloren. Von da an waren Ned und Frances auf gut Glück in die Richtung gelaufen, in der sie es vermuteten. Erstaunlicherweise gelang es ihnen dennoch, das kleine Schiff weit unter sich, in einer sichelförmigen Bucht ausfindig zu machen.
***​

Jonas hatte das Boot gesichert, war ins seichte Wasser gesprungen und an Land gegangen. Nach einer dreiviertelstündigen Wartezeit kratze sein Gaumen. Sehnsuchtsvoll schaute er zu dem auf den Wellen schaukelnden Schiff hinüber. Er schraubte den Verschluss seiner Wasserflasche auf und nahm einen kräftigen Schluck. Unschlüssig rieb er sich die geschwollenen Fingerknöchel und ließ seine Augen einmal mehr die Felsen erklimmen, die von dem kleinem Strand weg steil bergan führten. Plötzlich entdeckte er eine geduckte Gestalt, die fast unsichtbar auf halber Höhe zwischen den Felsen hockte. Jonas wollte eben nach ihr rufen, als hoch oben zwei weitere auftauchten.
»Hey!«, riefen die beiden, als sie Jonas entdeckten, dann winkten sie mit erhobenen Armen. Jonas winkte zurück, zum Zeichen, dass er sie bemerkt hatte.
Wer waren die Typen?, fragte sich Jonas. Sogleich wurde ihm klar, dass es Fremde waren und das war nicht gut. Wieder drehte er sich zum Boot um und leckte sich die Lippen. Dann fiel Jonas die Gestalt wieder ein, die ihm zuvor aufgefallen war. Er fuhr herum und suchte die Felsen ab, aber sie war verschwunden. Das alles gefiel Jonas nicht. Gefiel ihm ganz und gar nicht und er war drauf und dran zum Boot zu hasten und abzuhauen.
***​

Francis folgte Ned den Abhang hinunter. Dass sie das Boot tatsächlich gefunden hatten, glich einem verdammtes Wunder! Endlich würde dieser Alptraum enden! Rasch lief er hinter Ned über die Felsen, passagenweise mussten sie sogar klettern. Trotzdem kamen sie schnell voran und plötzlich, wie aus dem Nichts, überkam Francis Wehmut. Angesichts der bevorstehenden Rettung fand er es mit einmal schade, dass dies Abenteuer so schnell schon zu Ende sein sollte. Denn genau das war es. Ein Abenteuer. Womöglich waren die vergangenen Tage die aufregendsten, die sein Leben zu bieten haben würde. Bald würden sie nach Hause zurückkehren und was kam dann? Was erwartete ihn schon zu Hause?
Dass sein Leben verlaufen war, wie es verlaufen war, daran trug nicht zuletzt er Schuld. Unglückliche Umstände und falscher Umgang? Vielleicht. Dennoch waren es seine Entscheidungen gewesen, es hätte auch anders laufen können. Die Einsicht änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass er sein Leben hasste! Mit jedem weiteren Schritt, den Francis in Richtung Boot tat, bereute er mehr, dass sie es entdeckt hatten.
***​

Auch ein anderer empfand ganz ähnlich. Zwar lag ihm weniger am Abenteuer, aber der Gedanke, dass dies Schiff sie jetzt schon von hier fortbringen sollte, missfiel ihm außerordentlich. Im Grunde hatte er sich längst mit dem Gedanken angefreundet, für immer auf dieser Insel zu bleiben. Vollkommen allein, weit weg von allem. Vollkommen ungestört und allein mit ihr.
Sie könnten Fische fangen und Kinder bekommen. Ein Haus bauen und für immer zusammen sein. In Liams Kopf reihten sich helle, bunte Bilder aneinander. Bilder, in welchen er Beth küsste, mit ihr schlief und sie sich liebevoll um ihn kümmerte. Liam lächelte, weil es sich gut und richtig anfühlte. Dann aber ballte er die Hände zu Fäusten und hämmerte sie gegen seine Schläfen. Die fröhlichen Bilder färbten sich dunkelrot und plötzlich befand er sich wieder mitten unter den toten Schulkameraden im Meer. Er konnte sich nicht bewegen und ihre schrecklich entstellten Körper kamen unaufhaltsam näher. Er schrie so laut er nur konnte, aber kein einziger hörbarer Laut verließ seinen weit aufgerissenen Mund. Dann packten sie ihn und zogen ihn mit sich. Hinunter in die eisige Tiefe.
***​

Am Strand angelangt empfing sie ein alter, mürrisch dreinblickender Kauz, der nicht sonders erfreut schien, sie zu sehen.
Francis ging noch immer zwei Schritte hinter Ned, als der plötzlich laut aufschrie und eine Zehntelsekunde später wie ein lebloser Sack zu Boden fiel. Francis glaubte ein surrendes Geräusch wahrzunehmen, dann schlug etwas hart gegen sein linkes Schulterblatt. Er wurde herumgerissen, taumelte ein kurzes Stück vorwärts, dann stürzte er neben Ned in den grobkörnigen Sand. Der Schmerz, der sich explosionsartig über seine Schulter bis hin zu den Fingerspitzen ausbreitete war überwältigend. Francis wurde schwarz vor Augen und speiübel. Die Augenlieder fest aufeinander gepresst musste er würgen.
Als er sie wieder öffnete, erkannte er Ned, der neben ihm am Boden lag. Mit weit geöffneten Augen und unnatürlich großen Pupillen starrte er Francis an. Neds Haare waren blutgetränkt, Spuckebläschen sammelten sich in seinen Mundwinkeln.
***​

Starr vor Schreck sah Jonas den dritten Jungen auf sich zustürmen. Den einen hatte er am Kopf erwischt und dem anderen einen großen Stein gegen die Schulter geschleudert.
Als er über Jonas herfiel, wehrte er sich kaum. Jonas bewegte sich lediglich ein Stück weit zurück, sodass sie das Meer erreichten. Als der andere seinen Kopf unter Wasser drückte, schloss Jonas die Augen und hielt den Atem an. Immer schon hatte er im Ozean sterben wollen, nun war es also soweit. Jonas glaubte, von diesem Tag geträumt zu haben. Das war Gottes Rache.
Jonas ließ es geschehen, dies war sein Schicksal. Die gerechte Strafe dafür, dass er seinen Schwur gebrochen hatte.
***​

Als der Alte tot war, drehte Liam sich zu den anderen um. Mit den Gesichtern nach unten lagen sie unverändert im Sand. Sekundenlang starrte er zu ihnen hinüber, dann wandte er sich zum Boot um und ging darauf zu.
Ein Schiff dieser Bauart zu versenken ist kein einfaches Unterfangen. Den dicken, widerstandsfähigen Holzplanken wäre selbst mit einer Axt schwer beizukommen. Liam begriff, dass er es auf andere Art los werden musste.
Nach wenigen Versuchen gelang es ihm den Motor zu starten. Liam steuerte den Bug Richtung offene See, brachte die Maschine auf Touren und sprang über Bord.
***​

Ned lebte. Deutlich spürte Francis seinen Puls, wenn auch sehr schwach. Zunächst versuchte er ihn mit sich zu schleifen, was sich mit nur einem Arm jedoch äußerst schwierig gestaltete. Zudem fühlte sich Francis noch immer wackelig auf den Beinen. Als er Liam vom Boot springen sah, ließ er Ned zurück und schleppte sich, so schnell es ihm möglich war, Richtung Aufstieg.
Bei den Felsen angelangt wurde ihm erneut schwarz vor Augen, dennoch gönnte er sich keine Pause. Liam war nicht sonders weit hinausgefahren, folglich würde es nur wenige Minuten dauern, zum Strand zurückzuschwimmen.
Francis mühte sich den Hang hinauf, dann musste er sich übergeben. Er sah zum Strand hinunter, wo Liam eben aus der Brandung stieg und zu ihm aufblickte. Francis trieb sich zur Eile an, schob Schmerz und Übelkeit beiseite und erreichte kurz darauf die erste Kletterpassage. Ohne zu zögern stieg er mit nur einer Hand über die Felsen, sein linker Arm war vollkommen unbrauchbar. Erstaunlicherweise fühlte er sich jetzt besser, auch seine Beine erschienen ihm kraftvoller. Dann rutschte er ab. Sein rechter Fuß verlor den Halt, unter ihm polterten Felsbrocken in die Tiefe. Francis fing sich und starrte mit pochendem Herzen hinunter.
Am Strand sah er Liam über Ned gebeugt. Mit beiden Händen hielt er ihm Mund und Nase zu.


Donnerstag, 03. August, mittags

Nachdem sie die Höhle verlassen hatte, war Butterfly auf direktem Weg zum Strand gelaufen, an dem sie vor Tagen angelandet waren. Dort niemanden vorzufinden überraschte sie wenig. Den restlichen Tag und die darauf folgende Nacht verbrachte sie in der Bucht, lange Zeit leise hoffend, der Säufer würde doch noch zurückkommen.
Irgendwann waren Trinkwasser und Hoffnung aufgebraucht, fluchend machte sie sich auf den Weg zurück zum Fluss.


Donnerstag, 03. August, bei Abenddämmerung

Der Tote im Fluss erinnerte mich unweigerlich an die Nacht im Meer. Es brauchte seine Zeit, ehe Natalie sich beruhigte und auch mir zitterten noch lange die Knie.
Als Natalies Schreien uns auf ihn aufmerksam machte, trieb der Leichnam Kopf voraus an uns vorüber. Starr vor Schreck rührte sich niemand von der Stelle. Erst als die Leiche gegen einen Stein prallte, sich um sich selbst drehte und wenig später in der Uferböschung verfing, überwand ich meine Lähmung und ging langsam auf sie zu.
»Nein, Betherly«, flehte Natalie, »tu das nicht!«
Ich blieb stehen, drehte mich kurz zu ihr um, dann ging ich weiter. Mich schauderte vor dem, was ich nun gleich zu Gesicht bekommen würde, aber der Leichnam zog mich magisch an. Marc und Monique schlossen zu mir auf und als wir den im Fluss treibenden Toten erreichten, stockte mir der Atem.
Der bereits verwesende Körper eines Mannes war an Händen und Füßen gefesselt. Sein Gesicht sah fürchterlich aus, war kaum mehr als das eines Menschen zu erkennen. Vermutlich hatte er seit Tagen im Wasser gelegen.
»Abgefahren!«, bemerkte Monique und ging in die Knie, um ihn besser betrachten zu können.
»Was stimmt mit dir nicht?«, fragte Marc kopfschüttelnd. Er sah sie einen Moment lang ungläubig an, dann wandte er sich mir zu und fragte besorgt: »Bist du okay?«
»Nein«, antwortete ich kaum verständlich und drehte den Kopf zur anderen Seite. Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah, ich schämte mich dafür. Ich schämte mich, obgleich mir klar war, dass das dumm war, dass es, weiß Gott, keinen Grund dafür gab.
»Komm«, sagte Marc leise und berührte mich vorsichtig an der Schulter. Mein Weinen wurde heftiger, ich verbarg mein Gesicht in den Händen und rührte mich nicht von der Stelle.
Aber diesmal schloss Marc mich einfache in seine Arme und zog mich zu sich. Von da an stand die Welt still.
Zögerlich nahm ich die Hände von meinem Gesicht und legte sie auf seine Brust. Ich lehnte mich an ihn, hörte sein Herz laut schlagen. Alles andere hörte einfach auf, der Rest der Welt schien den Atem anzuhalten. Wir waren die einzigen Menschen weit und breit. Ich schloss meine Augen und wusste kurz darauf nicht mehr, wo ich war oder warum ich geweint hatte. Plötzlich war alles gut.
Als ich die Augen nach Sekunden – oder waren es Jahre? – wieder öffnete, sah ich Monique, die uns anstarrte. Offensichtlich faszinierte sie unser Anblick noch mehr als der Tote im Wasser.
Ich wollte mich nicht von Marc lösen. Wollte es um nichts in der Welt, aber ich fühlte, dass auch Natalie und Ben zu uns rübersahen und das war nicht gut. Natalie konnte mich sicher verstehen, aber für Ben stellte es lediglich die Bestätigung seiner Anschuldigungen dar. Unter anderen Umständen wäre es mir vollkommen gleichgültig gewesen, hätte ich keine Sekunde darüber nachgedacht, so aber erschien mir unser Verhalten unpassend und rücksichtslos. Letztlich saßen wir noch immer auf dieser Insel fest und hinter mir lag ein toter, gefesselter Mensch im Fluss.
Marc hielt mich weiterhin fest in seinen Armen und ich schloss erneut meine Augen. Nur einen Augenblick noch. Einen letzten. Dann löste ich mich von ihm und unsere Hände berührten sich flüchtig. Unsere Blicke trafen und verloren sich, erst dann begann sich die Welt wieder zu drehen.

Lange wurden wir uns nicht einig, ob wir den Toten im Wasser belassen oder an Land ziehen sollten. Als sich der Leichnam plötzlich vom Ufer löste und abzutreiben drohte, packte Monique kurzer Hand zu und wäre beinahe mit ihm fortgerissen worden. Notgedrungen eilten ihr Marc und Ben zu Hilfe. Ich kümmerte mich um Natalie, die erneut hysterisch zu werden drohte.
Zu dritt zogen sie den gefesselten Körper ein kurzes Stück das Flussufer hoch, dann begaben wir uns allesamt auf eine kleine Anhöhe, mindestens einhundert Meter von dem Toten entfernt.
»Euch ist schon klar«, meinte Ben nach einer Weile, »dass der Typ ermordet wurde.«
»Woher willst du das wissen?«, entgegnete ich, obgleich auch ich schon daran gedacht hatte.
»Er ist an Händen und Füßen gefesselt!«, blaffte Ben, »Ist das nicht offensichtlich?«
»Das beweist überhaupt nichts!«, widersprach Marc und stand auf. »Ich geh ein Stück den Fluss rauf und schau mich dort um«, meinte er und schickte sich sogleich zum Gehen an.
»Ich komme mit!«, sagten Ben und Monique zugleich.
»Nein«, entgegnete Marc bestimmt, »ich gehe allein! Es wird bald dunkel werden, ihr bleibt hier und macht Feuer. Wenn die anderen zurückkommen«, er blickte in die Richtung, wo der Tote lag, »sollte jemand hier sein.«
Ben fluchte leise, widersprach jedoch nicht. Er schmollte einen Moment, dann folgte er Monique, die kommentarlos Holz sammeln ging.
»Natalie«, sagte ich, sobald die beiden außer Hörweite waren. »ich muss –« setzte ich an, wusste dann aber nicht, wie ich es ihr sagen sollte.
»Geh schon«, meinte Natalie und versuchte zu lächeln.
»Wirklich?« Ich ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hände.
»Aber ja«, antwortete Natalie, »ich komm schon klar.«
Ich zog sie zu mir, umarmte sie und flüsterte: »Danke, Natalie.«
»Jetzt geh schon!«, wiederholte sie und schob mich halbherzig von sich. Ich küsste sie auf die Stirn, stand auf und lief los.

***​

»Wer ist da?«
Wenige hundert Meter flussabwärts war Lawder plötzlich stehen geblieben. »Wer ist da?«, rief er noch einmal und starrte ins dichte Buschwerk zu seiner Linken.
»Bist du dir sicher?«, flüsterte Wendy, die dicht neben ihm stand, »vielleicht war es nur ein Vogel.«
»Wenn ich es dir doch sage, da ist jemand!«, antwortete Lawder angespannt. Ein kleines Stück dahinter standen Sarah und Mel eng beieinander und starrten ebenfalls zu den Büschen hinüber.

Butterfly folgte den vieren schon eine Weile. In sicherem Abstand lief sie hinter und neben ihnen her, dabei überlegte sie, woher sie wohl kamen und noch wichtiger, wie sie ihr nützlich sein könnten. Versunken in ihre Gedanken war sie unvorsichtig geworden und der Junge hatte sie bemerkt. Natürlich könnte sie jetzt weglaufen, oder aber …

»Hast du es jetzt auch gehört?«, fragte Lawder und Wendy nickte. Unbestreitbar bewegte sich dort drüben etwas und dies etwas war mit Sicherheit kein kleiner Vogel. Die Dämmerung war weit vorangeschritten aber noch konnten sie genug erkennen. Es raschelte erneut, dann trat ein Mädchen aus den Schatten und fiel eine Sekunde später rücklings zurück in die Büsche. Lawder und Wendy sahen einander an, dann rannten sie los.
»Hilf mir!«, sagte Lawder und kniete bei dem Mädchen nieder. »Nimm ihre Beine!«, wies er Wendy an, gemeinsam zogen sie das besinnungslose Mädchen aus dem dornigen Gestrüpp.
»Legt sie auf die Seite«, meinte Mel, die zusammen mit Sarah ebenfalls herbeigelaufen war.
»Okay«, meinte Lawder und versuchte das Mädchen zur Seite zu drehen, stellte sich dabei jedoch äußerst ungeschickt an.
»Lass mich!«, mischte Sarah sich ein, beugte sich über das Mädchen und schob Lawder bei Seite. Sie drehte den Kopf des Mädchens und überstreckte ihren Hals. Dann nahm sie deren linke Hand und platzierte sie unter ihrer Wange. Zuletzt winkelte sie das rechte Bein an und kippte die Hüfte des Mädchens zu sich. Sarah sah zu den anderen auf, die sie verblüfft anstarrten. »Was?«, fragte sie und hob beide Hände.
»Wow!«, meinte Mel, »wusste gar nicht, dass du sowas kannst.«
Sarah ließ die Hände fallen und meinte: »Weiter weiß ich auch nicht.«
»Atmet sie?«, fragte Lawder besorgt.
»Keine Ahnung«, antwortete Sarah, »glaub schon.«
»Ist die aus eurer Klasse?«, wollte Wendy wissen.
»Nein«, antwortete Sarah verwirrt, »ich dachte, ihr kennt sie.«
»Ne«, gab Wendy zurück, »die hab ich noch nie gesehen.«
»Und jetzt?«, fragte Mel und blickte ratlos von einem zum anderen.
»Wir nehmen sie mit!«, bestimmte Lawder und ergänzte, »es kann nicht mehr weit sein.«
Das wird aber auch Zeit, dachte Butterfly, ein spitzer Stein bohrte sich unangenehm in ihre Hüfte.

***​

»Warum wundert es mich nicht, dass du nicht bei den anderen geblieben bist?«
Keine zehn Meter den Fluss hinauf hatte Marc auf mich gewartet. Er stand einfach da, so als hätten wir uns verabredet.
»Ich kann dich doch nicht alleine lassen«, antwortete ich wenig schlagfertig, aber darauf kam es gar nicht an. Marc lächelte und diesmal wollte ich den Moment nicht vergeuden. Ich ging zu ihm, nahm allen Mut zusammen und küsste ihn. Den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich, er könnte mich zurückweisen. Vollkommen zu Unrecht. Marc erwiderte den Kuss und mehr noch. Die nächsten Minuten wich die Welt erneut von uns ab. Ich vermochte es nicht anders auszudrücken, da alles Übrige seine Bedeutung verlor. Wir küssten einander und hielten uns in den Armen. Das war alles, mehr war nicht existent. Vielleicht wäre das für immer so geblieben, aber dann kam jemand in unsere Richtung gelaufen. Wir fassten uns bei den Händen und liefen rasch weiter.
Als wir nach Minuten stehen blieben, wirkte Marc mit einem Mal sehr ernst. »Glaubst du auch«, begann er zögerlich, »dass der Mann ermordet wurde?«
Ich sah ihn an und hätte liebend gern etwas anderes geantwortet, aber ich fürchtete, dass genau das der Fall war. »Ben hat schon recht«, sagte ich vorsichtig, »es sieht schon sehr danach aus.«
»Ich weiß«, stimmte Marc mir zu. Er wandte sich ab, hielt aber weiterhin meine Hand fest. Er schaute den Fluss hinauf und dann hoch zum Himmel. »In ein paar Minuten wird es richtig dunkel sein, du solltest zu den anderen zurückgehen.«
»Und du«, fragte ich verwundert, »kommst du nicht mit mir?«
»Nein«, Marc blickte den Fluss hinauf, »ich muss herausfinden, woher er gekommen ist.«
»Dann bleibe ich bei dir!«, sagte ich bestimmt.
»Aber das könnte gefährlich werden, Beth. Ich glaube es wäre wirklich besser, wenn du –«
»Ich komme mit dir!«
»Beth, das ist keine gute Idee!« Marc sah mich sehr ernst an und schien aufrichtig besorgt.
»Wenn es wirklich gefährlich wird, wird es das hier und anderswo. Dann solltest du ebensowenig allein sein, wie jeder von uns. Ich komme mit dir und damit Schluss!«
Marc lächelte schief und meinte mit strahlenden Augen: »Du bist wirklich ganz unglaublich!« Wieder zog er mich an sich und küsste mich.
***​

»Wer ist die denn?«, wollte Ben wissen, als Lawder mit dem besinnungslosen Mädchen über der Schulter nach Sarah, Mel und Wendy zur Feuerstelle kam.
***​

Das Mädchen zu tragen war wunderbar. Zuerst hatte Lawder sie vor dem Körper auf seinen Armen gehalten, dann jedoch rasch feststellen müssen, dass seine Kraft dazu nicht ausreichte. Zwar war das zierlich gebaute Mädchen nicht sonders schwer, aber die Strapazen der vergangenen Tage hatten ihn spürbar geschwächt. Lawder hatte sie kurz auf der Erde abgesetzt, das Hilfsangebot der anderen jedoch kategorisch ausgeschlagen. »Geht ihr voraus«, sagte er, »ich komme gleich nach.«
Die drei Mädchen sahen einander an, gingen dann jedoch kommentarlos weiter. Lawder ließ sie ein paar Schritte vorauslaufen, dann legte er sich das Mädchen über die Schulter und kam mühevoll auf die Beine.
Jetzt spürte er ihre Brüste an seinem Rücken und sein rechter Arm hielt ihre nackten Beine umschlungen. Lawder bekam einen Ständer. Er ließ sich weiter zurückfallen und blieb letztlich stehen. Lawder dachte nach, dann kniff er das regungslose Mädchen ins Bein. Sie zeigte keinerlei Reaktion. Lawder grinste und ging langsam weiter. Mit seiner Linken griff er an die Hinterseite ihres Oberschenkels und ließ seine Hand langsam hinauf gleiten, bis sie unter dem Kleid auf ihrem Hintern zu liegen kam. Lawders Pulsschlag beschleunigte sich, am liebsten wäre er erneut stehen geblieben und …
Aber all zu lange durfte er nicht zurückbleiben, das hätte die anderen sicher stutzig gemacht. Lawder ging langsam weiter und ließ seine Finger über ihre Pobacken und schließlich zwischen ihre Beine gleiten. Er begann zu schwitzen und seine Phantasie ging mit ihm durch. Dann aber tauchte der Feuerschein vor ihm auf und er zog seine Hand eilends zurück.
***​

»Wir haben sie nicht weit von hier gefunden«, antwortete Wendy, »sie ist einfach so umgefallen.«
»Sie ist was?«, fragte Ben ungläubig, aber Wendy antwortete nicht, half Lawder das Mädchen auf den Boden zu legen.
»Wo sind Beth und Marc?«, wollte Sarah wissen, nachdem sie sich umgesehen hatte. »Habt ihr Liam gefunden?«, fügte sie hastig hinzu, mittlerweile war es vollständig dunkel geworden.
Ben wollte ihr antworten, aber Natalie kam ihm zuvor: »Nein, Sarah, wir konnten ihn nicht finden«, improvisierte sie, während sie überlegte, wie sie Sarah schonend beibringen sollte, was vorgefallen war.
»Was soll der Scheiß?«, platzte Ben damit heraus, »Wir haben Liam sehr wohl gesehen!«
»Was?«, fragte Sarah aufgebracht. »Wo ist er?« Wieder sah sie sich nach allen Seiten um, als hätte sich in den vergangenen Sekunden irgendetwas verändert. »Wo ist Beth?«, schrie sie dann und die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht.
»Da mach dir mal keine Sorgen«, lachte Ben, »die hat sich inzwischen einen anderen gekrallt.«
»Du bist so ein Idiot!«, blaffte Natalie.
»Wieso? Stimmt doch!«, entgegnete Ben gereizt.
Sarah sah von einem zum anderen und verstand kein Wort.
»Kann mir mal jemand verraten, was hier gespielt wird?«, mischte Mel sich ein und Monique bemerkte trocken: »Da drüben liegt ein gefesselter Toter.«
Halleluja!, dachte Butterfly, jetzt wird es Zeit aufzuwachen.
***​

Dem Fluss zu folgen, war nicht besonders schwer gewesen. Heute zeigte sich der Nachthimmel über der Insel wolkenlos, zudem war vor Minuten der beinahe volle Mond aufgegangen. Eine halbe Stunde waren wir wortlos nebeneinander hergelaufen, jeder versunken in seinen Gedanken. Irgendwann hatte Marc dann von der Nacht angefangen, als wir uns das erste Mal begegnet waren. Er entschuldigte sich kleinlaut für das, was er McDance angetan hatte, versuchte es irgendwie zu rechtfertigen. Danach fragte ich ihn, was in seinem Leben schief gelaufen war, warum er an dem Projekt teilnahm? Marc antwortete nicht sofort. Er überlegte eine Weile und meinte dann, dass er für eine Antwort mehr Zeit bräuchte und vor allem einen klaren Kopf. Ich sagte ihm, dass er nicht antworten müsse, wenn er das nicht wolle. Aber Marc versicherte mir, dass ihm viel daran lag, es mir bei passender Gelegenheit zu erzählen. Er wollte nur sicher gehen, dass ich ihn falsch verstünde und dann vielleicht nicht mehr mochte. Dann schwieg Marc und wirkte mit einmal sehr bedrückt. Da ich nicht wollte, dass er sich meinetwegen unwohl fühlte, gestand ich ihm, dass ich einen Tag, nachdem wir uns bei Barnetbees begegnet waren, erneut dort hingelaufen war, mit der Hoffnung ihn wieder zu sehen. Wann genau das gewesen sei, wollte Marc daraufhin wissen, weil er sich stundenlang mit der selben Absicht dort herumgetrieben hatte. Wir lachten eine Weile darüber, dann erzählte ich ihm von Natalies Mutter und wie es dazu gekommen war, dass Natalie und ich am Projekt teilnahmen. Plötzlich tauchte der Höhleneingang vor uns auf.
Wir zögerten und wägten ab, ob es eine gut Idee wäre, hineinzugehen. Das Mondlicht schien ein gutes Stück in die Höhle hinein, dahinter zeigte sich undurchdringliche Schwärze. Wir lauschten, abgesehen von dem monotonen Rauschen des Wassers war nichts zu hören.
»Sollen wir?«, fragte Marc und ich nickte.
In die Finsternis zu gehen war beängstigend. Aber so lange Marc meine Hand hielt und ein feiner, grauer Schleier mir den Ausgang verriet, hielt sich meine Furcht in Grenzen. Ich empfand es angsteinflößend und aufregend zugleich. Erst als die Schwärze allumfassend wurde, begann die Klaustrophobie nach mir zu grabschen und ich stand kurz davor, Marc zur Umkehr zu drängen.
Dann aber zeigten sich vor uns plötzlich erste unwirkliche Schemen. Zunächst glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu dürfen, aber mit jedem weiteren Schritt wurde es unbestreitbar heller. Eine knappe Minute später befanden wir uns an einem wahrhaft wundersamen Ort. Der schmale Gang hatte sich zu einer Halle geweitet und von hoch oben stürzte ein leuchtend heller Lichtkegel durch die Decke, der den Raum magisch verzauberte. Im Mondlicht tanzten unzählige Motten, der Anblick war faszinierend. Schweigend standen wir Seite an Seite und bestaunten das eindrucksvolle Naturschauspiel.

Etwas später sahen wir uns in der Halle um, abgesehen von zwei schmalen Gängen, die tiefer in die Höhle führten, konnten wir nichts auffälliges entdecken. Marc meinte, dass es allmählich Zeit wäre, zu den anderen zurückzugehen, räumte zugleich jedoch ein, dass das nicht ungefährlich sei, da der Mond nicht endlos die Nacht erhellen würde. Ich hätte ihn daran erinnern können, dass wir den Großteil der Wegstrecke ohne Mondlicht bewältigt hatten, was ich nicht tat. Ganz im Gegenteil schlug ich vor, die Nacht hier zu verbringen, was mir unter normalen Umständen niemals in den Sinn gekommen wäre. Allein der Gedanke an Natalie, die sicher längst verrückt vor Sorge um mich war, hätte mich normalerweise sofort zustimmen lassen. Jedweder Vernunft zuwider hörte ich mich hingegen sagen: »Sicher schlafen alle längst, ich glaube wir sollten hier bleiben.«

***​

Es dauerte bis spät in die Nacht, bis alles erzählt und alle Fragen beantwortet waren. Jetzt lagen alle still, aber niemand schlief.
Butterfly hatte selbstredend nicht die Wahrheit gesagt und zweifelte an manchem, was die Kids ihr aufgetischt hatten. Fakt war jedenfalls, dass sie bei dem Unwetter vor drei Tagen abgestürzt waren und mit Sicherheit längst schon nach ihnen gesucht wurde. Zudem trieben sich mindestens fünf weitere Jugendliche auf der Insel herum, von welchen keiner recht wusste, wo genau sie waren. Zwei hatten ein Boot gesehen und wollten dem folgen. Zwei taumelten scheinbar im Liebesglück und wollten herausfinden, was es mit dem gefesselten Toten auf sich hat. Und der fünfte hatte offenbar den Verstand verloren und spielte seitdem Verstecken. Und nicht zu vergessen, der nette Bengel, der sie hergetragen und begrapscht hatte. Lawder. Seinen Namen hatte Butterfly sich gemerkt.
Dass sie Lydia hieß und zusammen mit ihren Eltern während des Sturms in Seenot geraten und ihr Boot letztlich gekentert war, hatten ihr nicht alle bedenkenlos abgekauft, das hatte Butterfly deutlich gespürt. Sie hatte viel Verzweiflung mit etwas Amnesie verwoben, aber ihre Geschichte war ein kleinwenig zu abenteuerlich ausgefallen. Aber das, was die Kids ihr erzählt hatten, klang nicht weniger fantastisch. Zumindest kauften sie ihr ab, dass sie etwa im selben Alter waren. Das könnte vielleicht noch von Vorteil sein.
Was war als nächstes zu tun?, überlegte Butterfly. Was war das für ein Boot, dass sie gesehen hatten? War der alte Säufer doch noch zurückgekommenen? Und warum waren die beiden Jungs nicht längst schon zurück? Würde das Boot noch da sein, wenn sie jetzt sofort loslief? Es dauerte Stunden bis zur Bucht. Könnte sie den Weg in der Nacht überhaupt finden? Hier bei den anderen zu bleiben und auf Rettung zu warten war keine Option. Butterfly war kein unbeschriebenes Blatt. Man würde ihr sicher viele Fragen stellen. Und sollte der Bootsmann bestätigen, dass er sie zusammen mit dem Engländer und den beiden anderen zur Insel gebracht hatte, nähme das kein gutes Ende. Sie hatte noch immer das Video. Damit ließe sich beweisen, dass der Engländer Kylan umgebracht hatte. Aber Samuel, dieser verdammte Mistkerl, hatte ebenso aufgenommen, wie sie – Das Video! Der Rucksack! Wo war der verdammte Rucksack? Butterfly hatte während ihrer gespielten Ohnmacht nicht darauf geachtet, ob die anderen den Rucksack mitgenommen oder zurückgelassen hatten.
***​

»Beth?«
»Ja.«
»Wieso schläfst du nicht?«
»Wieso schläfst du nicht?«
»Ich kann nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Ist dir kalt?«
»Ein bisschen.«
Marc rückte noch näher an mich heran, was im Grunde kaum möglich war. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, nicht an Sex gedacht zu haben. Das alles war so verflixt bescheuert! Warum musste es ausgerechnet jetzt geschehen? Der Gedanke war dermaßen bescheuert, dennoch ließ er mich nicht los. Was wäre, wenn wir alle auf der Insel sterben müssten? Wenn mir ausgerechnet hier die Liebe meines Lebens begegnet und ich sterben muss, bevor wir …
Marc lag hinter mir und ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren. Ich weiß nicht, was mit mir los war, aber plötzlich wurde die Sehnsucht danach übergroß. Ich löste meine Hand aus der seinen und drehte mich zu Marc um. Begierig suchte ich seine Lippen und küsste ihn so leidenschaftlich, wie ich nie zuvor geküsst hatte. Marc reagierte, als hätte er darauf gewartet. Ich hatte noch nie mit einem Jungen geschlafen und wollte es jetzt dringlicher als alles andere. Ich wollte es unbedingt mit Marc erleben, ehe es zu spät war. Ich schlang ein Bein um seine Hüfte und presste meine Körpermitte gegen seine. Deutlich spürte ich Marcs Erregung und jetzt war klar, dass auch er es wollte. Marc rollte über mich und kam zwischen meinen angezogenen Beinen zum Liegen. Ich stöhnte leise auf und hoffte inständig, dass er damit weiter machte. Aber das tat er nicht. Marc hörte auf mich zu küssen und stemmte sich auf seine Arme. »Was ist?«, fragte ich außer Atem und versuchte ihn wieder zu mir zu ziehen.
»Das ist nicht richtig, Beth«, sagte er traurig und entfernte sich noch weiter von mir.
»Warum? Ich möchte es doch.«
»Ich möchte es auch, aber nicht hier und nicht jetzt.«
Auf einmal fühlte ich mich schmutzig. Gedemütigt. Mit gespreizten Beinen lag ich schwer atmend auf dem Rücken, bereit ihm alles zu geben und Marc wies mich ab. Die Welt stürzte ein. Das war im Moment das Schlimmste, was er mir antun konnte. Ich schreckte vor ihm zurück, sprang auf und lief weg.
»Beth!«, hörte ich Marc meinen Namen rufen und hoffte, er würde mich einholen und zurückhalten. »Beth, bleib hier!«, rief er wieder, aber weiter geschah nichts. Ich lief in den dunklen Gang hinein und hastete tastend weiter. Ich erreichte den Ausgang und trat ins Freie. Noch einmal hörte ich ihn von fern her rufen, aber er folgte mir nicht, hielt mich nicht auf. Marc hatte mich von sich gestoßen und jetzt ließ er mich einfach so gehen.


Freitag, 04. August

»Das wird schon wieder, Junge! Da gewöhnst du dich dran. Ein Glück müssen wir nicht da runter!«
Mike konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, dass er sich jemals daran gewöhnen würde. Es war erst sein zweiter Aufklärungsflug dieser Art und im Augenblick hing er über einem kleinen, schwarzen Plastikeimer und übergab sich.
Zweieinhalb Stunden hatten sie die Ostküste Soccoros überflogen, aber auch dort war ihre Suche erfolglos verlaufen. Danach hatte Kevin – Mikes Chef und Kapitän der kleinen Maschine – vorgeschlagen, nur eben noch kurz die knapp 50 km entfernt liegende Nachbarinsel San Bernatido zu überfliegen, ehe sie, um aufzutanken, zum Festland zurückkehren mussten.
Von Süden kommend waren sie zunächst die Flanke des seit Jahrzehnten inaktiven Vulkans entlang geflogen, der gut die Hälfte der Insel ausmachte. Bis hin zum nördlichen Ende des in die Länge gezogenen, nur wenige Quadratkilometer großen und vollkommen unbewohnten Eilandes, hatte sich nichts Auffälliges am Ufer oder dem unmittelbar davor liegenden Wasser gezeigt. Erst als Kevin die Maschine in weitem Bogen gewendet und die Felsenküste der Westseite entlang geflogen war, hatte Mike plötzlich den Atem angehalten. Ein kurzes Stück voraus zeigten sich bunte Farbkleckse auf den ansonsten einheitlich dunkelgrauen, fast schwarzen Gesteinsformationen. Mike hatte am Fokusrädchen seines Fernglases gedreht und plötzlich laut aufgeschrien.
Der Füllstand des Kerosintanks erlaubte keine weitere Schleife, aber auch so wusste Mike, was er gesehen hatte.

***​

Als alle schliefen, war sie aufgestanden und vorsichtig von einem zum anderen geschlichen. Den Rucksack hatte sie nirgends finden können, mit vor Zorn funkelnden Augen war sie daraufhin lange Zeit neben Lawder sitzen geblieben. Schlafend sah er wie ein unschuldiges Kind aus. Angestrengt hatte Butterfly über ihre Situation nachgedacht, war jedoch zu keinem vernünftigen Schluss gelangt. Sie wollte ihn töten. Butterfly war drauf und dran den schlafenden Jungen zu ersticken, oder ihm mit einem großen Stein den Schädel einzuschlagen. Nur hätte das ihre Lage nicht unbedingt verbessert. Dabei störte es sie wenig, was der Bengel getan hatte. Sie hasste es ganz einfach, wenn ihr die Dinge entglitten. Wenn sie nicht wusste, was zu tun war, nur abwartend mitansehen konnte, was als nächstes geschehen würde. Das Gefühl der Hilflosigkeit hasste sie über alle Maßen und dafür brauchte es ein Ventil.

Butterfly krümmte dem Jungen kein Haar. Irgendwann legte sie sich schlafen, Stunden später lag sie mit offenen Augen auf dem Rücken und starrte in den silbergrauen Morgenhimmel. Erstmals seit dem Sturm schien es kein wolkenloser Tag zu werden. Es war noch nicht wirklich hell, trotzdem konnte sie die tief hängenden, rasch vorüber ziehenden Wolken erkennen. Die Aussicht auf Regen oder womöglich ein weiteres Unwetter trug nicht eben zur Aufheiterung ihrer Laune bei. Ganz im Gegenteil entfachte dies ihren Zorn aufs Neue. Jeder weitere Minute, die sie zur Untätigkeit gezwungen war, brachte sie der Raserei näher. Butterfly musste etwas unternehmen. Jetzt!

Sie stand geräuschvoll auf, streckte sich mit deutlich vernehmbarem Seufzen und vergewisserte sich unauffällig, dass man sie bemerkt hatte. Namentlich Lawder. Butterfly lief dicht an ihm vorüber, schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und verschwand mit wiegenden Hüften zwischen den umstehenden Büschen. Mehrere Augenpaare folgten ihrer Vorstellung. Dass er angebissen hatte, stand für Butterfly außer Frage. Jetzt kam es nur mehr darauf an, wie es um seinen Wagemut bestellt war, da das Objekt seiner Begierde nun nicht mehr wehrlos schlief.
Lawders Scham- und Taktgefühl waren nicht sonders ausgeprägt. Er wartete keine 30 Sekunden, erhob sich und verschwand in nicht wesentlich anderer Richtung. Auch sein Verschwinden wurde beobachtet, weiter kümmerte sich niemand darum.
Bereits nach wenigen Metern schloss er zu ihr auf und Lawder registrierte fasziniert, dass das bezauberndste Mädchen, dass ihm jemals untergekommen war, unbekümmert vor ihm her wandelte. Ihr leicht durchscheinendes Kleid umspielte jede ihrer Bewegungen, was Lawders Fantasie erneut beflügelte und ihn schneller werden ließ. Er erreichte sie und wollte eben nach ihr greifen, doch just in diesem Moment fuhr sie herum und schenkte ihm ein weiteres verheißungsvolles Lächeln. Lawder blieb stehen und blickte sie erwartungsvoll an. Völlig ungeniert verschwanden ihre Hände unter ihrem Kleid, dann streifte sie ihren Slip nach unten. Sie ging in die Hocke und begann lächelnd vor seinen Augen zu pinkeln. Lawder war entsetzt und fasziniert zugleich. Reflexartig wandte er sich ab, jedoch nur kurz. Über die Schulter blickte er zurück. Es schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Als sie fertig war, erhob sie sich langsam und stieg dabei aus ihrem Slip. Lawders Herz schlug so schnell und heftig, dass er fürchtete, es könnte jeden Moment versagen.
»Na komm«, sagte sie und ihre Stimme klang wie Ahornsirup, »zieh dich auch aus.«
Lawder zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde. Hastig öffnete er Knopf und Reißverschluss seiner Jeans und streifte sie hinunter bis zu den Knien. Er zog sich das Shirt über den Kopf und versuchte zugleich, auf der Stelle tretend, aus der Hose zu steigen.
Butterfly sah seine beachtliche Erektion und dachte: Schade.

***​

Wendy erwachte aus tiefem Schlaf und spürte ihre übervolle Blase. Sie stand auf und registrierte beiläufig, dass Lawder nicht mehr an dem Platz lag, an dem er sich gestern Nacht schlafen gelegt hatte. Gähnend trottete sie Richtung Büsche. Alle anderen schienen noch zu schlafen.

Der Stoß traf Lawder vollkommen unvorbereitet und war wohl kalkuliert. Zwar hatte Butterfly nicht davon ausgehen können, dass er exakt so aufschlagen würde, aber sie hatte es gehofft. Der Boden war mit spitzen und scharfkantigen Gesteinsbrocken übersät. Die Chancen, dass er sich schwer verletzen würde, standen nicht schlecht. Der Rest war ein Kinderspiel. Erst gab er einen hellen, quiekenden Laut von sich, jetzt wand er sich winselnd am Boden. Sein Anblick war erbärmlich. Mit dem Shirt über dem Gesicht und den an den Knöcheln hängenden Hosen, gab er ein jämmerliches Bild ab. Als sein Gejammer lauter wurde, war Butterfly mit einem Satz über ihm und der schwere Stein in ihren Händen, beendete dumpf matschend sein von Grund auf missratenes Leben.
Rittlings saß Butterfly auf ihm, als sie plötzlich nahe Schritte vernahm. Einen Augenblick später spürte sie den Blick in ihrem Rücken und Butterfly lies ihr Becken rhythmisch vor und zurück gleiten. Vernehmlich begann sie zu stöhnen.

Wendy konnte kaum fassen, was sie sah. Sie hatte gepinkelt und dann etwas gehört. Sie erinnerte sich, dass Lawder nicht an seinem Platz gelegen hatte und war dem verklungenen Geräusch gefolgt. Jetzt stand sie mit offen stehendem Mund da und starrte das seltsame Mädchen an, wie es sich genussvoll stöhnend vor und zurück wiegte. Unter ihrem nach oben gerutschten Kleid lugten zwei nackte Beine hervor, an dessen Knöchel Lawders Jeans hingen. Wendy machte auf dem Absatz kehrt und rannte weinend davon.
Butterfly hatte jede ihrer Bewegungen registriert. Sie glaubte zu wissen, wer hinter ihr gestanden hatte. Mit Gewissheit wusste sie, dass dieser Jemand nun weg und nicht zu den anderen zurückgelaufen war. Butterflys Hüften kamen deswegen jedoch nicht zum Stillstand. Ebensowenig verklang ihr Stöhnen. Ganz im Gegenteil wurde es heftiger und ihre Bewegungen intensiver. Butterfly war aufs Höchste erregt.

***​

»Marc!«, rief Natalie besorgt als sie ihn entdeckte, dann lief sie ihm eilends entgegen.
Marc hatte die Nacht allein in der Höhle zugebracht, jetzt wollte er sich bei Beth entschuldigen und ihr sein Verhalten erklären.
»Wo ist Betherly?«, fragte Natalie mit beunruhigtem Blick und Marc starrte sie entgeistert an.
»Ist sie nicht hier?«, entgegnete er mit zitternder Stimme und sah sich hektisch um.
»Nein«, antwortete Natalie mit vor Entsetzten geweiteten Augen. »Sie wollte zu dir laufen«, sagte sie und ihre Stimme brach. Natalie begann zu schluchzen und fragte kaum verständlich: »Hast du sie nicht gesehen?«
»Doch!«, antwortete Marc einsilbig, schlug die Hände über de,m Kopf zusammen und sank in die Hocke.
»Was?«, schluchzte Natalie noch heftiger, »Wo ist sie?«, schrie sie Marc dann an.
Aber Marc antwortete nicht. Er verbarg sein Gesicht hinter seinen Armen, dann schlug er die flachen Hände gegen seinen Kopf.
»Marc!«, schrie Natalie hysterisch und packte ihn energisch bei den Handgelenken. Er riss sich von ihr los, sprang auf und brüllte: »Wir müssen sie suchen!« Panisch lief er von einem zum anderen und kreischte: »Helft mir doch! Wir müssen Beth sofort suchen!« Als er vor Ben stand, packte der ihn bei den Schultern und schrie ihm ins Gesicht: »Reiß dich zusammen, Mann!«
Marc wollte sich abermals losreißen, aber Ben starrte ihm direkt in die Augen und ließ ihn nicht los. Dann fragte Ben mit um Ruhe bemühter Stimme: »Was ist geschehen? Wo und wann hast du sie zuletzt gesehen?« Er sah Marc noch immer fest in die Augen und ließ ihn zögerlich los. Marc schien allmählich zu sich zu finden. »Wir haben uns gestritten«, antwortete er mit schwacher Stimme und senkte den Blick. »Wir waren zusammen in dieser Höhle, haben uns gestritten und dann ist sie weggelaufen«, ergänzte er ohne die Augen von seinen Schuhen zu lösen.
Bei dem Wort Höhle kehrte Butterfly von ihrem morgendlichen Ausflug zurück und spitze die Ohren. Neugierig beäugte sie den Neuankömmling, mit Interesse registrierte sie die angespannte Stimmung.
»Wo ist Lawder?«, platzte Monique mit unverhohlen süffisantem Unterton heraus. Alle sahen zu ihr rüber, wodurch niemand bemerkte, dass Butterfly sie mit einem Blick bedachte, der einem das Blut in den Adern gefrieren lies. Aber nicht Monique. Sie grinste unbekümmert und sah sie herausfordernd an. Jetzt wandten sich alle zu Butterfly um und blickten in ein Gesicht, das unschuldiger nicht hätte sein können.
»Ich habe ihn mit dem großen Mädchen gesehen«, antwortete sie kleinlaut. »Wendy? Nicht war?«, meinte sie, als wäre ihr der Name entfallen. »Ja», fuhr sie fort, »ich habe ihn mit Wendy gesehen. Ein kleines Stück von hier. Ich weiß jedoch nicht, wohin sie gegangen sind.« Unschuldig schaute sie rundum, bis sie Marcs Blick traf. Urplötzlich veränderte sich ihre gesamte Ausstrahlung. Ihre Augen wurden klarer und ihr Mund wirkte mit einem Mal viel voller. Ihr Kinn hatte sich eine Winzigkeit gehoben und im Ganzen stand sie aufrechter. Im Grunde waren es nur Kleinigkeiten, nicht viel, aber die Wirkung war beeindruckend. Aus dem naiv dreinblickenden Kind, war binnen Sekunden eine atemberaubend sinnliche Frau geworden.
Marc vergass, warum er eben komplett die Fassung verloren hatte und starrte Butterfly entgeistert an. Butterfly war klar, dass sie damit zu weit ging, dennoch schenkte sie ihm ein Lächeln, das ebenso unangebracht, wie lockend war.
Monique ließ ein prustendes Lachen hören, was Marc zurück ins Hier und Jetzt versetzte. Gewaltsam löste er den Blick von Butterfly und widerstand dem Verlangen, sich nach ihrem Namen und dem Grund ihrer Anwesenheit zu erkundigen. »Ben«, sagte er hingegen und wirkte wieder vollkommen klar, »kommst du mit mir? Hilfst du mir?«
Ben nickte und beide wandten sich sogleich zum Gehen.
»Ich komme mit euch!«, sagte Natalie laut und endgültig und folgte ihnen.
Sarah und Mel standen untätig bei der herunter gebrannten Feuerstelle und sahen den dreien nach. Auch Butterfly sah ihnen kurz nach, dann wanderten ihre Augen, die sich erneut gewandelt hatten, hinüber zu Monique. Das kleine, gertenschlanke Mädchen hatte sich auf einen Stein gesetzt, plötzlich schien sie das Interesse an ihrer Umgebung komplett verloren zu haben. Versonnenen schaute sie zum Himmel hinauf, wo aus dunklen, tief hängenden Wolken erste vereinzelte Tropfen fielen. Sie sperrte den Mund weit auf, streckte die Zunge heraus und fing damit Regentropfen auf.
Starr hefteten Butterflys glühenden Augen auf ihr und ein dünnes Lächeln umspielte ihre Lippen. Mich täuscht du nicht, dachte sie bei sich.
»Wir sollten nach Wendy und Lawder sehen«, sagte Mel an Sarah gewandt und Butterfly fuhr herum. »Das kann ich doch machen«, sagte sie eine Spur zu hastig, »ich weiß ja, wo sie zuletzt waren«, fügte sie rasch hinzu.
»Nein!«, entgegnete Sarah scharf, »wir machen das!«
»Okay«, meinte Butterfly tonlos und setzte sich. Dann bleibe ich eben hier, dachte sie und sah wieder zu Monique hinüber. Das kleine Mädchen war aufgestanden und grinste sie direkt an. »Ich komme mit euch«, verkündete sie fröhlich und gesellte sich sogleich beschwingt zu Sarah und Mel. Butterfly verfolgte jeden ihrer Schritte, in ihrem Blick loderte es.

Als sich die drei Mädchen ein Stück von der Lagerstätte entfernt hatten, sagte Monique unverhofft: »Wartet, ich bin gleich zurück!« Sie schlug sich seitlich durch die Büsche und war verschwunden. Sarah und Mel blieben stehen und sahen einander verwundert an.
»Die ist wirklich vollkommen irre!«, meinte Mel kopfschüttelnd.
»Mag sein, aber immer noch besser als das Flittchen!«, giftete Sarah.
»Betherly?«, fragte Mel.
»Nein! Lydia! Ich wette, das ist noch nicht einmal ihr richtiger Name.«
»Ja!«, stimmte Mel ihr zu, »Das ist eine ganz falsche Schlange! Der darf man nicht über den Weg trauen!«
»Hast du gesehen, wie sie Marc angemacht hat?«
»Ja verdammt, das war nicht zu übersehen!«, meinte Mel und fügte entrüstet hinzu, »Und Marc ist voll darauf eingestiegen!«
»Arme Beth«, bemerkte Sarah und es klang, als meinte sie es tatsächlich ernst. Dann knackte es im Gestrüpp und eine Sekunde später tauchte Monique wieder auf. Sie hielt etwas in Händen und meinte strahlend, mit unverhohlen schadenfrohem Tonfall: »Ich habe ihren Rucksack.«
Sarah und Mel blickten sich abermals fragend an, aber ihre Neugierde verdrängte alle Verwunderung. Zu dritt inspizierten sie den Inhalt des Rucksacks und entdeckten den Camcorder.

***​

»Wartet!«, rief Ben außer Atem, »das hat doch keinen Sinn!« Marc und Natalie blieben stehen und starrten ihn an. Hals über Kopf waren sie losgestürmt, immer weiter flussaufwärts gerannt.
»Du hast doch gesagt«, keuchte Ben, die Händen auf die Knie gestützt, »du hast sie zuletzt in dieser Höhle gesehen, oder?«
Marc nickte, auch er atmete schwer.
»Und jetzt rennen wir da hin?«
Marc sah ihn fragend an, antwortete aber nicht.
»Ich nehme an, du hast die Nacht dort verbracht und bist erst vor Kurzem diesen Weg hier zurück zum Lager gelaufen, oder?«
Marc nickte erneut und fragte ungeduldig: »Worauf willst du hinaus?«
»Na dann ist es doch mehr als unwahrscheinlich, dass wir sie jetzt dort finden!«
Marc sah ihn unschlüssig an.
»Und was schlägst du stattdessen vor?«, wollte Natalie von Ben wissen.
»Wie weit ist es noch bis zur Höhle?«, fragte Ben an Marc gewandt.
Marc sah den Fluss hinauf. »Nicht mehr weit. Vielleicht fünfzehn Minuten, wenn wir uns beeilen.«
»Ich finde, wir sollten uns aufteilen«, schlug Ben vor, »Ich meine, wenn sie zum Lager zurück wollte und sich verlaufen hat, ist es doch nur logisch, dass wir abseits des Flusses nach ihr suchen sollten, meint ihr nicht?«
Marc erinnerte sich, wie hell es vergangene Nacht war. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass Beth sich versehentlich vom Fluss entfern hatte, aber Natalie zuliebe behielt er seine Erkenntnis für sich. »Einverstanden«, sagte er nach kurzem Überlegen und fügte an Natalie gewandt hinzu: »Wenn du nicht allein gehen möchtest, kann ich das gut verstehen. Wenn du lieber –«
»Nein!«, schnitt sie ihm das Wort ab, »Schon okay, wohin soll ich gehen?«
»Bist du dir sicher?«, hakte Marc nach. Allein der entschlossene Ausdruck auf Natalies Gesicht war Antwort genug.
***​

Als ich zu mir kam, benötigte ich etliche Sekunden, ehe ich mich zurecht fand. Der Himmel war schwarz und zugleich blendend hell. Wandte ich den Kopf ein kleinwenig nach links, blendete mich gleißendes Licht. Rechts hingegen war es stockfinster. Wie war das möglich? Ich schloss meine Augen, mir dröhnte der Schädel. Dann kam die Erinnerungen mit Macht wieder, schlagartig wurde mir klar, wo ich mich befand und was geschehen war.
Ich blinzelte in die Dunkelheit, langsam gewöhnten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse. Die scharfe Grenze zwischen hell und dunkel, die das durch die Deckenöffnung fallende Tageslicht auf den Höhlenboden zeichnete, teilte meinen Körper exakt in zwei Hälften. Meine helle und meine dunkle Seite, ging es mir durch den Kopf. Je länger ich das Gesicht im Schatten hielt und die Augen in die Dunkelheit richtete, desto mehr konnte ich erkennen. Daher dauerte es nicht lange, bis ich ihn entdeckte. Natürlich saß er in Richtung Ausgang und sah zu mir rüber. Sofort bereute ich, mich offenkundig bewegt zu haben, denn nun wusste er, dass ich wach war.
Ich starrte zu Liam hinüber und wunderte mich, wie ruhig und gelassen ich meine Situation annahm. Sachlich wog ich meine Chancen ab, an ihm vorbei zu kommen. Aber schon mein nächster Gedanke erschreckte mich, wenn auch nicht sehr. Hatte er mich im Schlaf vergewaltigt? Ich war vollständig bekleidet und es fühlte sich nicht so an. Aber wie fühlt es sich an, wenn man vergewaltigt wurde? War man währenddessen nicht bei Bewusstsein, musste es nicht zwangsläufig mit körperlicher Gewalt einhergehen. Ich wusste ja noch nicht einmal, wie es sich überhaupt anfühlte, mit einem Jungen zu schlafen. Woher also sollte ich wissen – Hör auf damit! Überlege dir lieber, wie du hier raus kommst!
***​

Den anderen Jungen zu töten war leicht. Ohne Eile hatte Liam ihn eingeholt, lange bevor er die Anhöhe hatte erreichen können.
Francis war von dem Aufstieg derart erschöpft gewesen, dass er sich im Grunde nicht hatte wehren können. Ein einzelner, gezielter Tritt hatte genügt und sein Körper war etliche Meter tiefer zertrümmert zum Liegen gekommen.
Seinem langjährigen Freund und Mannschaftskameraden Ned dabei ins Gesicht schauen zu müssen, hatte deutlich mehr Willenskraft erfordert. Aber auch das war notwenig gewesen.
Das jedoch Schlimmste war, Betherly schlagen zu müssen. Aber so, wie sie sich gewehrt hatte, war ihm nichts anderes übrig geblieben. Sie wollte es einfach nicht verstehen. Noch nicht. Er musste ihr Zeit lassen, letztendlich würde sie erkennen, dass er und sie füreinander bestimmt waren.
***​

»Scheiße!«, entfuhr es Mel, »hast du das gesehen?«, fragte sie mit großen Augen.
»Ich bin ja nicht blind!«, entgegnete Sarah. »Spul zurück!«, forderte sie Mel auf, die den Camcorder in Händen hielt.
Wieder sahen sie, wie der Mann von Butterfly über die Kante getreten wurde und der andere ihm fassungslos nachsah. Monique entriss Mel das Gerät und stoppte die Aufnahme. Das Bild fror ein und zeigte den auf Knien befindlichen Engländer, wie er über die Schulter in die Kamera starrte. »Das ist er!«, kreischte Monique aufgeregt und tatschte mit dem Zeigefinger auf das Display. »Das ist der gefesselte Tote!«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Sarah, »Die anderen meinten, sein Gesicht wäre kaum mehr zu erkennen.«
»Die gleichen Klamotten, die gleichen Haare«, entgegnete Monique unbeirrt.
»Ob auch der andere tot ist?«! fragte Mel mit zitternder Stimme. Weder Sarah noch Monique antworteten ihr. Die Perspektive der Aufnahme ließ nur erahnen, dass sich hinter der Kante ein tiefer Abgrund auftat.
»Na auf alle Fälle hat das Miststück den Mann getreten und weiß mit Sicherheit, was mit dem anderen geschehen ist!«, schlussfolgerte Sarah.
»Von wegen armes, von ihren Eltern getrenntes Mädchen!«, bemerkte Mel zornig. »Falsche Schlange!«, fügte sie hinzu.
»Dumme Stinkfotze!«, warf Monique belustigt ein, offenkundig mehr aus Freude über die Schimpfworte, denn aus echter Verärgerung. Einmal mehr wunderten sich die beiden anderen Mädchen über ihr eigenwilliges Verhalten.
»Sie ist gefährlich«, sagte Sarah dann ernst und sah Mel eindringlich an. Mel nickte stumm mit dem Kopf und sah sich unweigerlich nach allen Seiten hin um. »Lawder!«, entfuhr es ihr plötzlich und als sie sich wieder Sarah zuwandte, bemerkte sie, dass Sarah weinte. »Was ist mit dir?«, fragte Mel besorgt und berührte ihre Freundin am Arm. Sarahs Weinen wurde heftiger, mit einem Mal wirkte sie verzweifelt und kraftlos. Sarah ließ sich auf die Erde sinken, wurde von Weinkrämpfen geschüttelt und brachte letztlich nur mehr ein einziges Wort hervor: »Liam.«
Mel kniete bei ihr nieder und schloss Sarah in ihre Arme. »Wir werden Liam finden«, sagte sie leise, »wir werden ihn finden und alles wird wieder gut werden.«
»Und wenn er längst tot ist?«, schluchzte Sarah.
»Das ist er nicht!«, widersprach Mel vehement. »Das darfst du noch nicht einmal denken!« Sie hielt ihre Freundin fest umklammert, nun rannen auch über ihre Wangen dicke Tränen. »Wir werden Liam finden und alles wird gut werden!«, wiederholte Mel und strich Sarah übers Haar. Ihre Worten sollten nicht zuletzt ihr selbst Mut zuzusprechen.
Ein lauter Entsetzensschrei ließ die drei Mädchen zusammenschrecken. Der Schrei klang nicht all zu weit entfernt und die Stimme war ihnen wohl bekannt. »Natalie!«, sagte Mel mit beunruhigter Miene.
***​

Natalie hatte sich östlich des Flusses in Richtung Lagerstätte gewandt. Sie war schnell gelaufen und hatte die Augen offen gehalten, fast verrückt vor Sorge um Betherly. Zuerst hatte sie unentwegt nach ihrer Freundin gerufen, irgendwann war sie stumm weitergelaufen. In ihrem Kopf spielten sich schlimme Szenarien ab und nun schienen sie Wirklichkeit zu werden.
Wie angewurzelt blieb Natalie stehen, als wenige voraus ein einzelner, verlorener Schuh auftauchte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging weiter. Dann schrie Natalie.
Beinahe wäre sie über Wendy gestolpert. Das tote Mädchen lag im hohen Gras und starrte aus leeren Augen zum Himmel hoch. An ihrer Schläfe klebte Blut und ihr Hals zeigte violettblaue Male.
Natalie starrte sie einen Moment lang fassungslos an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte blindlings los.
Ihre kopflose Flucht führte Natalie direkt zu Lawder.

Der zweite Schrei klang sehr viel näher, kam von links, sofort wandten sich die drei Mädchen in diese Richtung. Wenige Sekunden darauf erreichten sie eine kleine Lichtung, in deren Mitte Natalie stand. Sie wandte ihnen den Rücken zu und starrte auf etwas, das vor ihr auf dem Boden lag.

***​

Außer Atem blieb er stehen und schaute sich um. Niemals hätte er sie allein lassen dürfen, das würde Marc sich sein Leben lang nicht verzeihen! Wenn Beth etwas zugestoßen war, war es allein seine Schuld! Marc sah sich nach allen Seiten hin um und wollte eben weiterlaufen, als ihn jäh alle Hoffnung verließ. Urplötzlich fühlte er sich schwach und mutlos und war mit einem Mal unendlich müde. Die Hoffnung, Beth unversehrt wieder zu sehen, erschien ihm auf einmal vollkommen aussichtslos. Kraftlos sank er zu Boden und verbarg das Gesicht in seinen zitternden Händen. Warum nur hatte er sie gehen lassen? Warum hatte er das getan?
Dabei wusste Marc nur zu gut, warum er das tat. Obendrein war er sich sicher, dass Beth es nicht hätte verstehen können. Er hatte es ihr erklären wollen, nun aber war er mehr denn je davon überzeugt, dass sie ihn dafür hassen würde.
Marc hatte mit einem Mädchen geschlafen, das keine 14 Jahre alt gewesen war. Sie hatte es gewollt, hatte ihn regelrecht dazu gedrängt und zunächst schien alles in bester Ordnung. Als es später dann zu Streitereien gekommen war und er sich von ihr getrennt hatte, hatte das Mädchen von ihrem Einverständnis nichts mehr wissen wollen. Sie hatte ihm gedroht, hatte ihn zu ihr zurückzwingen wollen und war letztlich zur Polizei gelaufen. Das war der Grund, warum Marc hier war und das war der Grund, warum er vergangene Nacht nicht mit Beth hatte schlafen können. Er kannte Beth kaum und hatte, weiß Gott, schon genug Schwierigkeiten. Dennoch hätte er sie niemals allein lassen dürfen.
***​

Für Butterfly war nun endgültig der Moment gekommen, die Gruppe zu verlassen. Sie hätte auf direktem Weg zur Bucht laufen und hoffen können, dass das Boot noch immer auf sie warten würde. Zugleich befürchtete Butterfly, die Küstenwache oder andere Suchmannschaften könnten sie dort empfangen. Ihre Lage wurde zunehmend schwieriger und das missfiel ihr außerordentlich. Zur Höhle zurückzukehren, um sich dort versteckt zu halten, erschien Butterfly einerseits unsinnig, aber im Moment fiel ihr nichts besseres ein. Eilends lief sie in einigem Abstand zum Fluss bergan, als sie plötzlich auf Marc traf, der ein Stück voran allein auf der Erde saß.
Während Butterfly sich ihm langsam näherte, versuchte sie sich zu erinnern, was sie über ihn gehört hatte, welche Rolle er bei alldem spielte. Aber abgesehen von seinem Namen, hatte sie kaum etwas behalten. Es waren einfach zu viele Geschichten, neue Gesichter und Namen und manches Mal hatte sie schlicht nicht wirklich zugehört. Einzig, dass er und ein Mädchen namens Betherly auf irgend eine Weise frisch liiert waren, war ihr in Erinnerung geblieben. Das war nicht sonderlich viel und im Grunde auch nicht von Bedeutung.
Sein Aussehen war Butterfly hingegen bestens in Erinnerung geblieben. Allein das zählte im für sie Augenblick. Der Junge war genau ihr Typ. Groß und muskulös, aber nicht zu sehr. Männlich und dabei beinahe noch ein kleiner Junge. Und – was mindesten genauso wichtig war – falls er tatsächlich frisch in ein anderes Mädchen verliebt war, eine waschechte Herausforderung.

»Hallo«, sagte sie sanft und Marc schrak zusammen. Er hatte sie nicht kommen sehen, nun starrte er sie erschrocken an.
»Entschuldige bitte, ich habe mich nicht anschleichen wollen.«
Marc starrte sie weiterhin entgeistert an, so als wäre ihm ein Wesen aus einer anderen Welt erschienen.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte sie mit besorgter Stimme, beugte sich zu ihm hinab und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich –«, begann Marc stockend, »ja, ich meine, mir geht es gut«, sagte er ohne jede Überzeugungskraft.
»Das hat mir aber nicht den Anschein«, erwiderte Butterfly in mütterlichem Tonfall und legte ihm auch die andere Hand auf die Schultern. Vornübergebeugt stand sie dicht vor ihm und der nasse Stoff ihres dünnen Kleides klebte auf ihrer Haut. Zwar hatte der Wind etwas abgeflaut, aber der Regen war erneut stärker geworden. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie und ihre Worte klangen aufrichtig besorgt, dass sie Marc tief anrührten.
»Wer bist du?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.
»Lydia«, sagte Butterfly und lächelte ein kleinwenig, aber nicht zu viel. »Und du bist Marc, nicht war?«
»Ja«, bestätigte er, »aber was machst du hier?«
»Uns erging es ganz ähnlich wie euch«, sagte sie und ihr Lächeln erstarb. Sie nahm ihre Hände von seinen Schultern und setzte sich dicht neben ihn. »Unser Boot ist während des Sturms gekentert«, sagte sie und hatte Mühe weiterzusprechen. Butterfly brach in Tränen aus und fuhr weinend fort: »Und jetzt weiß ich noch nicht einmal, ob meine Eltern noch am Leben sind.«
Instinktiv legte Marc einen Arm um sie und Butterfly wusste, dass sie gewonnen hatte. Sie rückte ein Winzigkeit von ihm ab und weinte noch heftiger. »Tut mir leid«, schluchzte sie, »aber wenn ich daran denke, dass sie –« Butterfly ließ ihren Satz unvollendet, nun bebte ihr gesamter Körper vor Verzweiflung und Schmerz. Marc zog sie zu sich und legte auch seinen anderen Arm um sie. Er hielt sie fest in seinen Armen und nun rückte sie nicht mehr von ihm ab. Ganz im Gegenteil drängte sie sich dicht an ihn, weinte noch immer steinerweichend und vergrub ihr tränennasses Gesicht an seinem Hals.
Butterfly schlang ihre Arme um seine Taille und Marc konnte ihren warmen, bebenden Körper spüren. Marc wollte es nicht, aber er konnte es nicht vermeiden. Er versuchte dagegen anzukämpfen, aber die Situation erregte ihn. Er wollte ihr lediglich Trost spenden, aber ihren Körper auf diese Art zu spüren, war unglaublich. Marc hatte nicht wenige Mädchen in seinen Armen gehalten, darunter manche, die wunderschön und fantastisch gebaut waren. Aber das hier war etwas anderes. Etwas vollkommen anderes! Das Mädchen, das sich dicht an ihn drängte, fühlte sich ganz anders an. Sie bewegte sich anders und roch anders. Sie sah ihn anders an und weckte andere Gefühle in ihm. Marc fühlte sich magisch von ihr angezogen und zugleich schüchterte sie ihn ein. Das Mädchen war längst kein Mädchen mehr, sie war eine Frau. Zudem die aufregendste und begehrenswerteste, die ihm je begegnet war.

***​

»Liam«, sagte ich und meine Stimme zitterte mehr, als ich gehofft hatte, »kannst du mir bitte helfen, mir geht es nicht gut.«
Endlos lange hatte ich Liam beobachtet und er sich nicht von der Stelle gerührt. Der Lichtkegel war über mich hinweggezogen und schließlich die Höhlenwand hinaufgekrochen. Bald schon hatte ich jedes Zeitgefühl verloren und nicht mehr gewusst, wie lange wir schon hier waren und uns belauerten. Allmählich wurde mir jedoch klar, dass ich etwas unternehmen musste, wollte ich nicht für immer hier bleiben. »Liam, bitte!«, sagte ich noch einmal und jetzt hatte meine Stimme die angestrebte Klangfarbe.
Unbeirrt starrte er weiter in meine Richtung, machte keinerlei Anstalten sich zu bewegen. Aber seine Körperhaltung hatte sich verändert. Zumindest hörte er mir zu.
»Liam, ich habe Schmerzen!«, setzte ich einen drauf und versuchte meine Stimme noch flehentlicher klingen zu lassen. Aber er rührte sich noch immer nicht.
»Liam, bitte!«
Plötzlich kam Bewegung in ihn. Zwar stand er nicht auf und kam schon gar nicht zu mir gelaufen, aber er bewegte sich. Liam wiegte sich vor und zurück. Zunächst langsam und unregelmäßig, dann immer schneller und ruckartiger. Im Halbdunkel, in dem Liam kauerte, hatte sein Gebaren etwas sehr bedrohliches. Und je länger ich zu ihm hinübersah, desto mehr spielte mein Verstand verrückt. Plötzlich glaubte ich, im Schatten wippte nicht länger Liam, sondern ein Untier. Eine blutrünstige Bestie, die kurz davor stand, mich anzuspringen. Urplötzlich war mir entfallen, was ich zuvor ausgeheckt hatte, was mein Plan gewesen war. Was übrig blieb, war nackte Panik.

Dann sprang Liam auf, nahezu zeitgleich erhob auch ich mich und stürmte los. Schnurstracks rannte ich auf Liam zu und dachte an überhaupt nichts. Uns trennten nur wenige Meter, trotzdem sah ich ihn eine Ewigkeit vor mir laufen. Ich sah ihn auf mich zustürmen und konnte jedes Detail in Ruhe erfassen. Liam bewegte sich schnell und kraftvoll. Ganz so, wie ich ihn oft über das Spielfeld habe laufen sehen. Den Gegner fest im Visier, vollkommen darauf fokussiert, den spielentscheidenden Ball zu erreichen. Ausschließlich seinen Instinkten folgend, schien er durch nichts aufzuhalten zu sein. Diese Erkenntnis beraubte mich jeder Zuversicht und mit dem Mut verließ mich zugleich alle Kraft. Ich geriet ins straucheln, verzweifelt versuchte ich mich auf den Beinen zu halten und richtete meine Augen stur auf den dunklen, ins Freie führenden Gang hinter Liam. Ich stürzte und schlug der Länge nach hin. Schicksalsergeben erwartete ich, dass er mich im nächsten Augenblick packen und über mich herfallen würde. Aber etwas anderes geschah.
In meinem Rücken explodierte ein Schmerzfeuerwerk, ich schrie auf und hörte ein lautes Schnalzen.
Unmittelbar vor Liam war ich zu Boden gegangen und er hatte bis zuletzt versucht, mir auszuweichen. Mit der Absicht, über mich hinweg zu springen, hob er ab, aber seine Reaktion kam zu spät. Mit einem Fuß landete er auf meinem Rücken, mit dem anderen unglücklich daneben. Mit lautem Knall rissen die Bänder seines Sprunggelenks und Liam ging ebenfalls zu Boden. Keine Ahnung, warum ich die Situation so rasch erfasste und analysierte, aber plötzlich witterte ich meine Chance. Ich ignorierte das Brennen in meinem Rücken und sprang auf. Liam griff nach mir, konnte mich jedoch nicht erreichen und versuchte ebenfalls aufzustehen. Als er seinen verletzten Fuß belastete, schrie er laut auf und sackte stöhnend zur Seite. Ich zögerte keine Sekunde und rannte los.

***​

Auch Ben hatte Natalie schreien hören. Sofort war er losgelaufen und hatte die Lichtung nur wenig nach Sarah, Mel und Monique erreicht. Die Mädchen redeten allesamt wild durcheinander und Ben konnte lange Zeit nicht verstehen, was vorgefallen war. Dass er es nicht begreifen konnte, lag jedoch nicht allein an dem Durcheinander. Angesichts der schrecklichen Ereignisse, die sich Schlag auf Schlag immer rascher aneinanderreihten, glaubte er allmählich den Verstand zu verlieren. Ben starrte den toten Jungen an, der halb entblößt vor ihnen auf dem Boden lag und sagte kein Wort. Ben konnte nicht sprechen, kaum denken. Er hatte einfach nur Angst.
***​

Butterfly hinterfragte ihr Handeln nicht. Sie ergriff Gelegenheiten beim Schopf und versuchte ihnen alles abzugewinnen. Eventuelle Konsequenzen abzuwiegen war nicht ihre Sache. Zwei Dinge hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Zum Einen, dass eine Frau, die etwas auf sich hält, ausnahmslos Kleider trägt. Und zum Anderen, niemals eine sich bietende Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen.
Natürlich war Butterfly sich darüber im Klaren, dass diese Art zu leben auf Dauer nicht gut gehen konnte. Auch das hatte ihre Mutter ihr eindrucksvoll vorgelebt. Irgendwann würde auch sie den Preis für ihr rücksichtsloses Verhalten zahlen müssen. Nur bis es soweit war, würde sie weiterhin nichts auslassen. Butterfly würde sich später einmal nicht grämen, ihr Leben nicht gelebt zu haben. Natürlich gab es Momente, die sie bereute. Butterfly hatte Dinge getan, auf die sie nicht stolz war. Aber sie hatte sich nun einmal für diese Art zu leben entschieden, zur Umkehr war es längst zu spät.
Butterfly wischte mit dem Handrücken über ihre tränennassen Wangen und sah Marc eindringlich an. Würde sie jemand danach fragen, wüsste sie es nicht zu erklären. Sie schmollte nicht bewusst oder verzog ihre Lippen auf sonst eine geplante Weise. Sie hob oder senkte ihren Kopf nicht willentlich und auch ihre Augen fanden den passenden Ausdruck von ganz allein. Es war eine Gabe. Instinktiv sah sie ihr Gegenüber zur rechten Zeit auf die einzig richtige Weise an und ihr makelloses Aussehen vervollkommnete den Augenblick.
Marc versank in ihren wundervollen Augen und als sich ihre Lippen den seinen näherten, war der Wunsch, sie küssen zu dürfen, stärker als alles Verlangen, das er je verspürt hatte. Ihr Mund schmeckte wunderbar und ihre Art zu küssen war atemberaubend. Mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung wand sie sich um ihn und saß einen Augenblick später auf seinem Schoß. Die Innenseiten ihrer muskulösen Oberschenkel an seinen Hüften zu spüren war unbeschreiblich. Marc wurde bewusst, dass seine Erregung sie an empfindlicher Stelle traf. Aber noch ehe er darüber hätte nachdenken können, verblüffte sie ihn einmal mehr. Einen kurzen Moment nur ließ sie von ihm ab und entledigte sich so flink ihres Kleides und des Höschens, dass es an Zauberei grenzte. Schon war sie wieder bei ihm und drängte ihn unter Küssen und Liebkosungen in Rückenlage. Wie viel er ihr beim Ausziehen seiner Klamotten half, oder sie ihn womöglich ganz allein entkleidete, konnte Marc später nicht mehr sagen. Alles geschah wie in Trance. Wie in einem Traum, der schöner und unwirklicher nicht hätte sein können. Als sie auf ihm zum Sitzen kam und Marc spürte, wie sie ihn in sich aufnahm, verließ ihn das letzte bisschen Widerwille, das letzte Fünkchen Schuldgefühl, das ihn bis eben noch gehemmt hatte.
***​

Der Schmerz in meinem Rücken lies rasch nach. Sicher war er mehr dem Schrecken geschuldet, als dass Liam mich tatsächlich verletzt hätte. Als ich den schmalen, finsteren Höhlengang hinter mir gelassen hatte und einmal mehr durch den Felsspalt ins Freie gelangte, empfing mich leichter Regen. Ohne innezuhalten rannte ich weiter und hielt erst dann an, als ich keine Luft mehr bekam und meine Lungen lichterloh brannten. In meinen Ohren pochte es laut und mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Rippen. Vornübergebeugt starrte ich gebannt in die Richtung, aus der ich gekommen war. Plötzlich vernahm ich ein vertrautes Geräusch. Ich fuhr herum und in meinem Kopf wurden Erinnerungen wach, die ich nicht wahrhaben wollte. Wie an Schnüren gezogen bewegte ich mich widerwillig auf das Geräusch zu und mit jedem weiteren, aufgezwungen Schritt, wurde es lauter und unmissverständlicher. Ich wollte die Quelle des Geräusches, das sich nun klar zweigeteilt hatte, nicht erreichen. Trotzdem bewegte ich mich unabwendbar darauf zu. Die eine Hälfte des anschwellenden Geräusches stammte zweifelsfrei von Marc. Klang genauso, wie es sich vergangene Nacht mit angehört hatte. Es war dasselbe verhaltene Stöhnen, dass er in der Höhle von sich gegeben hatte, kurz bevor er mich zurückgewiesen hatte. Auch die andere Hälfte klang wie letzte Nacht. Nur lauter und lustvoller.

Die beiden vereint vor mir zu sehen war ein Schock. Kein anders Wort könnte es treffender beschreiben. Ich erstarrte. Einen Steinwurf vor mir schlief Marc leidenschaftlich mit einer jungen Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie waren splitterfasernackt und so sehr miteinander beschäftigt, dass keiner von beiden mich bemerkte. Minutenlang verweilte ich regungslos an Ort und Stelle, unfähig mich zu bewegen. Mein schmerzerfülltes Gesicht spiegelte nicht annähernd wider, was in mir vorging. So wie Schock meine Verfassung in nur einem Wort treffend beschrieb, bedurfte es nur weniger Worte mehr meinen Gefühlszustand auszudrücken. In der Sekunde, in der ich die beiden entdeckte, brach mein Herz.

***​

Der Moment in dem Marc seine Erfüllung fand, war der Moment, in dem seine Welt einstürzte. Mit lautem Stöhnen entlud sich alle Anspannung und Marc nahm wieder wahr, was ihn umgab. Beth dort stehen zu sehen, war ein Schlag in die Magengrube. Marc verkrampfte sich und Butterfly fuhr herum.
Den Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens sah sie nicht zum ersten Mal. Bildlich konnte sie sich bereits vorstellen, was nun gleich folgen würde. Es gab nicht viele Möglichkeiten und keine davon war Butterfly fremd. Eine Kleinigkeit machte dann aber doch einen Unterschied. Hinter dem verstört dreinschauenden Mädchen, tauchte plötzlich ein humpelnder Junge auf, auf dessen Gesicht sich blanker Hass widerspiegelte.
Sich das Kleid überzuwerfen ging sehr viel schneller, als dass Marc es in seine Hosen schaffte. Noch ehe Marc den Reißverschluss seiner Jeans zuzog, war Butterfly in ihre Schuhe gestiegen und hatte sich bereits einige Schritte von ihm entfernt. Was auch immer sich nun zwischen den dreien abspielen würde, ging Butterfly nichts an. Ein kleinwenig vielleicht schon, aber Butterfly verspürte keine Lust, dem wie auch immer gearteten Drama, dass nun unweigerlich folgen würde, beizuwohnen.
***​

Marcs entsetzter Blick rüttelte mich wach, aber selbst der fluchtartige Abgang der jungen Frau löste mich nicht vollends aus meiner Erstarrung. Ich sah ihr nach und wunderte mich über den amüsierten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Erst dann bemerkte ich, dass Marc auf mich zugestürmt kam.
»Betherly, Vorsicht!«, schrie er und seine Augen waren auf etwas hinter mir gerichtet. Automatisch fuhr ich herum und entdeckte Liam, der nur mehr eine Armlänge von mir entfernt war. Seine Augen funkelten zornig und in der nächsten Sekunde packte er mich mit beiden Händen am Hals. Liams Griff war so fest und seine Daumen bohrten sich so tief in meinen Hals, dass ich augenblicklich zu röcheln begann und fürchtete, er würde mir den Kehlkopf zertrümmern. Marcs Faustschlag streifte mein Ohr und explodierte in Liams Gesicht. Liams Kopf schnellte nach hinten, warmes Blut spritze gegen meine Stirn. Liam stöhnte auf, löste seine Hände jedoch nicht von meinem Hals. Marc schlug noch einmal zu und sein zweiter Schlag fiel noch härter aus. Liam taumelte nach hinten, stürzte und riss mich mit zu Boden. Der Druck auf meinen Kehlkopf verschwand und ich rang nach Atem. Marc packte mich bei den Oberarmen und zog mich auf die Beine. Wir schafften einen halben Schritt, dann wurde mein Kopf an den Haaren in den Nacken gerissen. Abermals holte Marc zum Schlag aus, aber diesmal kam ihm Liam zuvor. Liams Faust traf Marcs Kinn und zeigte beachtliche Wirkung. Marc wirkte benommen, seine Augenlieder flackerten und er hatte sichtlich Schwierigkeiten, sich aufrecht zu halten. Sofort stürzte sich Liam auf ihn, was mir Gelegenheit gab, von den beiden wegzukommen. Im Augenwinkel sah ich beide zu Boden stürzen, dann verlor ich sie aus dem Blick und rannte so schnell ich nur konnte davon.
Als ich erneut ins Stolpern geriet und beinahe gefallen wäre, hörte ich sie noch immer miteinander kämpfen. Ich fing mich im letzter Sekunde und blieb stehen. Mein Verstand forderte vehement weiterzulaufen, aber etwas in mir hielt mich zurück. Einer würde den anderen umbringen, daran zweifelte ich keine Sekunde. Liam hatte offenkundig den Verstand verloren und hätte auch mich getötet, hätte Marc ihn nicht davon abgehalten. Trotzdem hatte Liam mir das Leben gerettet und das lag noch nicht all zu lange zurück. Ich hatte geschworen, es ihm niemals zu vergessen. Egal was inzwischen geschehen war, ich stand noch immer tief in seiner Schuld und jetzt bot sich mir die Gelegenheit, Wiedergutmachung zu leisten. Meine Hände tasteten wie von selbst den Boden ab. Ich bekam einen scharfkantigen Stein zu fassen, einen Herzschlag später rannte ich los.

Als ich die beiden erreichte, schien Marc die Oberhand errungen zu haben. Er kniete auf Liams Brust und holte einmal mehr zum Schlag aus. Als er mich kommen sah, zögerte er einen Wimpernschlag lang und Liam nutze seine Chance. Er bäumte sich auf und rollte zugleich zu Seite. Marc verlor das Gleichgewicht und Liam konnte sich nicht nur befreien, sondern war im Bruchteil einer Sekunde auf den Beinen. Der eine Augenblick, den Marc benötigte um sich zu fangen, dauerte zu lange. Liam trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht, was den Kampf letztlich entschied. Marc rührte sich nicht mehr und Liam hatte gewonnen. Keuchend stand er über ihm und sein blutverschmiertes Gesicht war eine angsteinflößende, blanken Hass widerspiegelnde Fratze. Anscheinend hatte er mich nicht bemerkt, denn seine hasserfüllten Augen waren einzig auf Marc gerichtet. Liam beugte sich über ihn, legte die Hände um seinen Hals und drückte zu.

Vor meinem inneren Auge tauchte das nackte Mädchen auf, wie sie sich auf Marc gewunden und laut gestöhnt hatte. Ich sah ihr hämisches Grinsen wieder, als sie davonlief und hörte Marcs lustvolles Keuchen. Deutlich sah ich ihn vor mir, wie er es genossen hatte. Dann sprangen meine Erinnerung zurück zur Höhle und plötzlich war ich an ihrer Stelle und musste noch einmal erleben, wie er mich zurückwies. In diesem Moment hasste ich Marc. Für alles, was danach geschehen war, gab ich ihm allein die Schuld. Er hatte mich allein gelassen.
»Verzeih mir«, flüsterte ich mit Tränen in den Augen, dann sauste der Stein in meinen Händen nieder. Für das, was Marc mir angetan hatte, konnte ich ihn hassen. Wahrscheinlich würde ich es ihm niemals ganz verzeihen, ihn vermutlich niemals mehr zärtlich berühren können. Dennoch liebte ich Marc. Somit war es mir unmöglich, ihn Liams Hass zu überlassen. Ein zweites Mal ging der Stein auf Liams Kopf nieder und dann noch einmal. Erst dann ließ ich ihn fallen und ging fort.

***​

Als das Flugzeug abermals die Insel überflog und wenig später das erste von vier Rettungsschiffen anlandete, hatte es aufgehört zu regnen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Suchmannschaften die übrigen Jugendlichen fanden und sicher zur Anlegestelle geleiteten.
Ben McFarlane, Marc-André Heyward, Monique Pedestrian, Melanie Gomez, Sarah Dickerson, Natalie Potter und Betherly Forester waren die Namen der einzigen Überlebenden von Flug HU7704.
Zu den anderen Toten, die später auf der Insel gefunden wurden, konnten sie keinerlei Auskunft geben. Sie wussten nichts über den alten Seemann, der tot in der Brandung trieb, nichts über den gefesselten Engländer oder den dunkelhäutigen Mann, den man weiter flussabwärts gefunden hatte. Auch der vierte Mann, der nicht von Flug HU7704 stammte, den man mit zertrümmerten Knochen am Fuß einer Steilklippe aufgefunden hatte, sagte ihnen nichts. Sie konnten sich nicht erklären, was mit ihren Mitschülern und Kameraden geschehen war, die offenkundig nicht in Folge des Absturzes ums Leben gekommen waren. Ihre Aussagen waren schlüssig und glaubhaft, niemand zweifelte an ihren Worten. Einzig als die Sprache auf das tote Mädchen im Sommerkleid kam, reagierten einige von ihnen irritiert.
***​

»Na sieh mal an, wen wir da haben«, sagte Butterfly, als ihr Monique unerwartet über den Weg lief.
Das zierliche Mädchen sah ihr direkt in die Augen und lächelte.
»Wen glaubst du mit deiner Psychoscheiße beeindrucken zu können?«, blaffte Butterfly herablassend und tat einen Schritt auf sie zu.
Monique zeigte sich übertrieben bestürzt und zog eine Grimasse, die offensichtlich eine Verrückte darstellen sollte. Sie gab komische Laute von sich und ruderte wild mit den Armen.
»Ja, ja«, meinte Butterfly verächtlich grinsend, »mach nur so weiter. Der Spaß wird dir gleich vergehen!« Sie ging weiter auf Monique zu und mit einmal stand das kleine Mädchen wieder still. Butterfly wollte erneut etwas sagen, aber Monique legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und machte: »Schhhh.« Dann nahm sie den Finger wieder vom Mund, lachte kindlich und deutete damit an Butterfly vorüber auf etwas, das sich hinter ihrem Rücken befand. Butterfly zog die Stirn in Falten und drehte sich zögerlich um. Wenige Schritte hinter ihr standen Sarah, Mel und Natalie. Jedes der Mädchen hielt einen großen Stein in Händen. Butterfly blickte in ihre Gesichter und was sie davon ablas, ließ ihr Blut gefrieren. Als sie sich wieder Monique zuwandte, stand Ben an ihrer Seite. In seiner linken sah Butterfly den Camcorder, die Finger seiner rechten Hand hielten einen derben Stock umklammert.


Jahre später.

Wieder zur Schule zu gehen war das Schlimmste. Die vielen leeren Stühle, das verschwundene Lachen auf den Gesichtern. Natalie traf ich außerhalb der Schule nur mehr selten. Die Tage auf der Insel hatten uns hingegen landläufiger Meinung nicht näher zusammengeschweißt, eher voneinander entfernt. Keiner von uns sprach mit einem der anderen über die Dinge, die dort vorgefallen waren, zumindest tat ich es nicht. Wir gingen einander aus dem Weg, wahrscheinlich benötigte jeder von uns Zeit, ausreichend Abstand, um damit umgehen zu können.
Einzig mit Monique verbrachte ich gelegentlich ein paar Stunden. Wir verabredeten uns nicht, trafen uns zufällig und liefen dann eine Zeit lang stumm nebeneinander her. Das Zufällige unserer Zusammentreffen war relativ. Wir fanden uns bei Barnetbees und nur bei Barnetbees. Als ich sie erstmals dort antraf, war es zugleich das erste Mal gewesen, dass es mich seit unserer Rückkehr dorthin verschlagen hatte. Wochen waren vergangen und ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich Marc vermisste.
Zu Barnetbees zu gehen, kam einem Gang in die Vergangenheit gleich. Genau wie vor der alles verändernden Reise, hoffte ich ihn dort anzutreffen und für wenige Minuten war es, als hätte es die Zeit auf der Insel nicht gegeben. Voll von Sehnsucht und Hoffnung strebte ich dem Gelände entgegen und durfte für Minuten wieder Teenager sein. Unbeschwert, alles schien möglich.
Monique brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück und das war gut so. Wann immer ich seither zu Barnetbees ging, Monique war da. Manchmal kam sie später hinzu, manchmal musste sie nach Minuten gehen, aber sie war da. Immer.
Marc hingegen betrat das Gelände für den Rest seines Lebens nicht mehr.
Ich traf ihn drei Jahre später in Pennsylvania. Ein knappes Jahr besuchte ich das College in Washington, dann schmiss ich hin. Ich jobbte einige Monate, war zu Hause ausgezogen, und schrieb mich ein Jahr später in Philadelphia ein.
Als Marc mir zufällig auf der Straße begegnete, wollte ich an Schicksal glauben. Dass es kein Zufall war, lag auf der Hand. Dennoch behandelten wir es so.

***​

Seit einer geschlagenen Stunde wechsle ich Klamotten vor meinem Kleiderschrank. In ein paar Minuten würde er mich abholen kommen und ich habe mir noch nicht einmal die Haare zurechtgemacht.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sammis,

auch wenn ich hin und wieder den Faden verlor, weil so viele Handlungsstränge und noch mehr Personal vorkommt, finde ich deine Geschichte interessant und ganz überwiegend, auch sprachlich, gut.

"Mit den Knien hielt er Richards Arme fixiert." Ich denke "... fixierte er Richards Arme" klingt besser.

»Kirk, was meinst du, wollen wir als nächste?«
Klingt missverständlich. Vielleicht eher 'Was meinst du, wollen wir Kirk als nächstes ...?'
Inzwischen hatte Kirk die Mitte der alten, ausrangierten Sporthalle erreicht,
Wieso darf jemand eine bereits ausrangierte Sporthalle betreten? Und später kommen sogar Lehrer vorbei?
neben im
neben ihm
Sie hatten die Seitentür mit lautem Krachen aufgeschlagen, dass es den Anschein erweckte, sie hätten sie eingetreten.
Vorschlag: Sie hatten die Seitentür mit so lautem Krachen aufgestoßen, dass es den Anschein erweckte, ...
oder der Gleichen
dergleichen
Und was hätte ich auch sagen sollen? Etwa: Geh bitte nicht zu Barnetbees, mir gefällt dein Gesicht genau so, wie es jetzt aussieht?
Schön fomuliert :-)
Aus seinem Blick war alles harte oder coole verschwunden.
alles Harte und Coole
Ich versuchte zu Lächeln und streckte ihm beide Hände entgegen.
zu lächeln
Er packte ihn am Kragen und Kirk holte trotz seines lädierten Armes zum Schlag aus.
Schwer vorstellbar, diese Szene. Kirk ist schwerst verletzt, bekommt dann noch den Arm gebrochen ... und er holt zum Schlag aus?
Darunter waren machtsüchtige Mädchen, die seit der Trennung ihrer Eltern mehr auskotzten als sie zu sich nahmen.
Meinst du magersüchtige Mädchen?

Eine geschlagene Stunde folgte er der Strömung Richtung Westen, bis er hinter einer S-förmigen Landzunge den ins Meer mündenden Fluss entdeckte. Von da an musste er noch einmal knapp eine Stunde gegen die immer stärker werdende Strömung anschwimmen, ehe er die Mündung endlich erreichte.
Ich kann diese körperliche Leistung in kaltem Wasser nicht nachvollziehen, sie erscheint mir nicht glaubwürdig nach dem Unfall.
Manche Leute glaubten, mit Geld alles kaufen zu können und was ihn anging, hatten sie recht damit.
Gefällt mir sehr gut, dieser Satz!
Sonntag, 30. July, bei hereinbrechender Nacht
Wieso änderst du die Schreibweise? Sonst war es doch Juli?
Das kurze Handgemenge war längst vergessen, dennoch stand Ben seitdem nicht allzu hoch in der Gunst.
in der Gunst der anderen. Sonst ist der Satz irgendwie inkomplett.
Vergangene Nacht hatte er sich dich an das Lager geschlichen, ihre Gespräche mit angehört.
dicht
die Hoffnung, dass auch Butterfly längst den Tot fand
den Tod
Marc hatte Monique vor Antritt der Reise nur ein einziges Mal angetroffen. Bei einem der offiziellen Zusammentreffen, als sich die Teilnehmer am Projekt einander vorstellen sollten.
'angetroffen' passt von der Formulierung her nicht so richtig. Eher 'getroffen'.
blieb Butterfly noch immer das Loch in Höhlendecke als letzte Fluchtmöglichkeit.
in der Höhlendecke
Kein schöner Tot, dachte Butterfly, geschieht dir recht!
Tod
Als der alte tot war, drehte Liam sich zu den anderen um.
der Alte
Die Tage auf der Insel hatten uns hingegen landläufiger Meinung nicht näher zusammengeschweißt,
Hm, würde ich anders formulieren. Weiß aber leider auch nicht, wie. Vielleicht: ... entgegen weitverbreiteter Vorstellungen ... (?)

Ich glaube, ich würde eher zwei Geschichten aus dieser einen machen, es ist in dieser Form enorm schwer, zu folgen. Die Szene mit Kirk und alles nach dem Flugzeugabsturz könnte man separat verarbeiten, dann wäre das Lesen leichter. Trotzdem eine gelungene Story!

Grüße Eva

 

Hallo Eva,

vielen Dank fürs lektorieren und deine Gedanken zum Text.
Vermutlich bräuchte es noch ein paar tausend Worte mehr um die vielen Nasen dem Leser nach und nach vertraut zu machen, damit man nicht den Überblick verliert. Ist als Autor der Gesichte schwer einzuschätzen, mir sind ja alle vollkommen klar, hab genug Zeit mit ihnen verbracht, der Leser aber nicht. Muss ich noch lernen.

Nochmals danke für deinen Kommentar und die Zeit, die du aufgewendet hast.

Beste Grüße,
Sammis

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Sammis,

ich hab in drei Sitzungen gelesen und zwischen dem Fertigwerden und dieser Kritik liegt jetzt auch wieder eine Woche. Gut daran ist, dass mir so auf jeden Fall klar wird, was von der Geschichte hängenbleibt, im Guten wie im Schlechten.

Handlung: Flugzeugabsturz mit einer Schulklasse auf einer Insel. Ein bisschen Herr der Fliegen, ein bisschen Lost, ein bisschen Murder Mystery oder auch Thriller, Schülerliebe, kam mir insgesamt vor wie eine Serie, die sich hauptsächlich an Teenager richtet, was ja in Ordnung ist, wenn es das sein soll. Horror habe ich keinen entdecken können, stattdessen würde ich noch Jugend taggen.

Die Handlung streut sehr breit, es passieren ganz vielen Leuten ganz viele Dinge, aber diese unterschiedlichen Punkte fließen für mich nicht nachvollziehbar ineinander, ergeben kein Ganzes. Ich kann mich dran erinnern, dass jemand umgebracht wird, zwei finden zusammen, es gibt einen rothaarigen Engländer, ein Mädchen, das so das Miststück gibt, einen Typen, den alle toll finden und und und … deshalb vielleicht auch der Serieneindruck. Viele Folgen vor diesem einen Hintergrund, das Leben nach dem Flugzeugabsturz auf der Insel, aber die einzelnen Folgen haben eigentlich gar nichts miteinander zu tun. Es kommen immer wieder die selben Figuren vor, wobei das Augenmerk mal mehr auf den einen, dann wieder auf den anderen liegt. Apropos Figuren.

Personal: Das sind mir zu viele Leute. Und die haben dann auch noch kaum Vorgeschichte, kaum bemerkenswerte Eigenschaften, anhand derer man sie auseinanderhalten könnte.

Liam Basile maß 1,82m, hatte breite Schultern und war Capitan des Footballteams.
(1,82 Meter, Captain) Das ist schon extrem US-Serien-/Film-Schablone.

Und diese Ich-Erzählerin:

Sicher, Sarah war hübsch. Sehr sogar. Aber das war ich auch.
Was für eine angenehme Person, die so etwas ganz unbescheiden von sich selbst feststellt.
Natürlich gehört es zu meinem Selbstverständnis, Menschen, die in Not geraten waren, zu helfen.
Und gut aussehen tue ich auch noch.

Sicherlich sagen Leute das, die ist hübsch, gerade auch in dem Alter, aber das bringt mir als Leser halt keine Figur näher. Man könnte jetzt noch sagen sind halt Teenager, aber alle-Teenager-immer-oberflächliche-Hohlbirnen ist ja auch nur ein Klischee. Das hier fand ich ganz schlimm:

Nachts gehörte Barnetbees dem Auswurf der Gesellschaft: Obdachlose, Junkies, Prostituierte und schlimmeres.
Diese Gruppen als „Auswurf“ bezeichnen geht halt schon echt in eine Richtung, also, meine Güte. Dass sie das rückblickend als Erwachsene erzählt, macht es sogar noch schlimmer.

Glaubwürdigkeit bzw. Nachvollziehbarkeit:

Hallo? Richard Branden! Schülersprecher unserer Schule
Dass der prügelnde Schoolyard Bully Schülersprecher ist, klingt schon mal nach einem Paralleluniversum. Sitzt er auch dem Schachclub vor? Jetzt habe ich gerade was über Klischees gesagt, egal. Versuche ich es mal so: Ein Typ, der sich nimmt, was er will, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat, dass er das kann, der engagiert sich doch nicht auf so einem Posten für die Gemeinschaft. Das macht jemand, der zu dem Schluss kommt, ich darf mich eben nicht über andere stellen, weil ich breitere Schultern habe (schnellere Fäuste, mehr Geld etc.), ich muss das sogar im Gegenteil dafür nutzen, mich für andere stark zu machen, die das nicht selbst können.

Reite ich da jetzt auf einer Kleinigkeit rum? Es war einfach so eine der ersten Ungereimtheiten, über die ich gestolpert bin, und der Text ist recht voll davon. Ohne Glaubwürdigkeit — und dann noch in Tateinheit mit diesen zu vielen, blassen Figuren kommt keine Spannung auf. Ein oder zwei „Wie soll er denn da jetzt so schnell hochgekommen sein?“-s kannst du wegstecken, aber irgendwann kippt das. Das hier fand ich noch ziemlich heftig, weil es auch das ganze Grundgerüst wackeln lässt:

Obendrein mussten die Schüler weder für den Aufenthalt noch für die An- und Abreise bezahlen. Alle Kosten wurden von der veranstaltenden Organisation getragen.
Weil gerade in den USA das Geld für soziale Projekte bekanntermaßen locker sitzt und entsprechende Organisationen meist gar nicht wissen, wohin mit der ganzen Kohle.

Überhaupt USA. Man liest das öfter hier im Forum, wenn jemand sich diesen Handlungsort aussucht: So eine Mischung aus Amerika-Serienklischees („Nach dem Sommer gehe ich mit meinem Football-Pokal aufs College“) und Namen wie Mel und Liam, die eben auch bei uns inzwischen jeder zweite um die zwanzig trägt, weil Vatti Taken geil fand. Das gibt so einen ganz merkwürdigen Nimmer-Nimmerland-Effekt. Wie Mittelerde, aber not in a good way. Unter anderem das ist für mich mit diesem Lehrsatz gemeint: Schreib, was du kennst. Das bedeutet nicht, dass du nur als Amerikaner über Amerika schreiben darfst oder auch nur, wenn du mindestens mal drei, vier Jahre dort gelebt hast. Aber ein bisschen sollte die Recherche schon über die Top Ten bei Netflix hinausgehen. Wenn man das überhaupt so sagen kann, das sind ja nicht nur Klischees, sondern auch noch mindestens dreißig, vierzig Jahre alte, kann gut sein, dass heutige Teenieserien auf ganz andere Allgemeinplätze setzen, da bin ich nicht auf dem Laufenden.

Länge: Zu lang mag subjektiv sein. Ich sag mal so: Du nutzt den Platz, den du verbrauchst, nicht optimal aus.

Wow, du siehst ja mal scheiße aus.«
»Danke, dir auch einen schönen, guten Morgen! Vielleicht erinnerst du dich, dass ich nur deinetwegen hier sitze.«
»Was? Wer von uns hatte keine Ahnung und sich geistesabwesend freiwillig gemeldet? Das warst ja wohl du!«
Das ist so ein Dialog, der nirgendwo hin führt. Ich erfahre nichts, was ich nicht schon weiß.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir bitten Sie um ihre Aufmerksamkeit für einige wichtige Sicherheitshinweise.
»Beth!«
Schliessen Sie nun Ihren Sicherheitsgurt und ziehen sie diesen fest. Da jederzeit Turbulenzen auftreten können, sind Sie verpflichtet, sich anzuschnallen, sobald Sie Ihren Sitzplatz eingenommen haben.
»Beth!«
»Was?«
Bitte vergewissern Sie sich, dass schweres Handgepäck sicher unter Ihrem Vordersitz verstaut ist.
»Ich glaub, mir wird schlecht!«
»Was? Warum dass denn?«
Unser Flugzeug hat vier Notausgänge. Diese sind mit dem Wort "Exit" gekennzeichnet.
»Ich glaube, ich hab Flugangst.«
Sollte der Druck in der Kabine sinken, fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke.
Ich beugte mich nach vorn und suchte im Netz unter dem Klapptisch nach den braunen Tüten.
Unter jedem Sitz befindet sich eine Schwimmweste. Auf Anweisung der Besatzung ziehen sie die Schwimmweste über den Kopf.
Ich fand eine und hielt sie Natalie irgendwie vors Gesicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug.
Sehr szenisch. Aber diese … Szene? Ein sehr großer Teil deiner Leser wird schon mal im Flieger gesessen haben. Und die anderen: Ist das wirklich so wichtig? Brauche ich an dieser Stelle diese Ausführlichkeit? Gibt das der Geschichte Drive?

Nein, im Gegenteil. Insgesamt würde ich sagen, vom Kürzen um etwa ein Drittel würde die Story profitieren.

Und dann noch ein paar Splitter, von denen der eine oder andere unter einem dieser Hauptkritikpunkte mit eingeordnet werden kann:

Aber nein, das ist wie in dem Film, du weißt schon, wo Brad Pitt Edward Norton ist!
Wer weiß, dass in dem Film Brad Pitt Edward Norton ist, der weiß auch, wie der Film heißt.

kein einzig freundliches.
einziges

unmittelbar neben im
h

dann an der University of Cambridge eine klassische Schauspielausbildung absolvieren wird.
würde

Kirk’s Zustands
Hast du noch ein paar Mal im Text. Gab’s im Deutschen mal. Aber heute: Kirks

Unkluger Weise hatte Natalie sich dazu hinreisen
Unklugerweise, ß

Was jedoch angesichts der Tatsache, dass es den gesamten Tag über wie aus Eimern goss, nicht zwangsläufig meiner Willensstärke anzurechnen war.
Das gibt keinen Sinn. „Ich hatte keine Lust, weil es regnete.“

Verstört benötigte ich etliche Sekunden,
Nach dem Aufwachen ist man schon mal kurz verwirrt, verstört ist zu viel.

vordre
vordere

Ein Glück sprach sie jetzt leise
Zum, kommt später noch mal

und Jonas vergas
ß

Ihre zerschlagenen Körper.
Klingt wie 19. Jahrhundert.

Die Jagt a
Jagd, hast du noch ein paar Mal.

voll laufen lassen und, so Gott will
volllaufen, wollte

der uns das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Es folgen noch „angsterfüllt“ und „Schrecken“. Das sind so Worte und Formulierungen, wenn man die Gefühle auslösen möchte, die sie beschreiben, benutzt man sie am besten gerade nicht.

der rothaarige Engländer
*sigh* Jeder Japaner kann Karate.

Das große, schlanke Mädchen hieß Wendy.
Abgesehen davon, dass der Name plumpstmöglich eingeführt wird: diese Namen!

Ja«, antwortete ich einsilbig
Thema unnötige Längen noch mal. „Ja“ ist also tatsächlich nur eine Silbe?

Halt dein Maul!«, war alles, was Butterfly ihm antwortete.
Hier auch noch mal. Würde sie mehr sagen, stünde da ja mehr. Und Butterfly: diese Namen!

Komm garnicht erst auf dumme Ideen!
gar nicht, Klischeesatz

die jetzt nahezu zeitgleich auf all die Lichtblitze folgten
gleichzeitig / zeitgleich wird seit einigen Jahren gern als Synonym verwendet, bedeutet aber etwas anderes

Monique, das äußerst zurückhaltende, noch immer ängstlich wirkende Mädchen,
Und noch eine Figur, die Charaktere kommen und gehen, werden mit ein, zwei Schlagworten (zurückhaltend) „charakterisiert“, die kann sich kein Mensch alle merken.

hatte er sich dich an das Lager
dich raus

In buchstäblich letzter Sekunde
Was soll das heißen? Danach war die Zeit zu Ende?

dass sein Hintern nass wurden.
wurde

Der unerbittliche Sog, der nachströmenden Wassermengen, presste Samuel unabwendbar
Die Kommas können weg, ein Sog zieht dich, pressen ist ja wie schieben hoch zwei

auch Butterfly längst den Tot fand
Tod, hast du noch ein paar Mal

dass sie vollkommen alleinstehend, ohne Gesellschaft
Auch noch mal die selbe Information 2x in einem Satz. Du meinst auch glaube ich an dieser Stelle nicht den Beziehungsstatus „alleinstehend“

wirkte mit einmal verärgert.
einem Mal

das Loch in Höhlendecke
der

Für den Moment gab es für Butterfly nichts weitere zu tun als abzuwarten. Eine gefühlte Ewigkeit hatte sie kein Auge zugetan, jetzt bettete sie ihren Kopf auf den Rucksack und schloss die Augen.
nichts weiter. Sie hat voll den krassen, sinistren Plan mit Todesopfern, ist gerade fast ersoffen, haut sich jetzt erst mal Runde aufs Ohr.

Knapp zwei Jahrzehnte exzessiven Trinkens und noch immer stand er aufrecht.
Zwei Jahrzehnte „exzessiv“ trinken. Da geht nicht mehr viel nach.

Im Grunde hatte er sich längst mit dem Gedanken angefreundet, für immer auf dieser Insel zu bleiben.
Nach …

dass sie bei dem Unwetter vor drei Tagen abgestürzt waren
Hm.

Liam steuerte er den Bug Richtung offene See
er raus

im Wasser belassen, oder an Land ziehen
, raus

Lawder lies sie ein paar Schritte vorauslaufen
ß, kommt meine och auch öfter

Jetzt spürte er ihr Brüste an seinem Rücken
ihre

als wir uns das erstes Mal begegnet
erste

Er wollte nur sicher gehen, dass ich ihn falsch verstünde und dann vielleicht nicht mehr mochte.
nicht falsch verstanden hatte?

Begierig suchte ich seine Lippen und küsste ihn so leidenschaftlich, wie ich nie zuvor geküsst hatte.
So was ist schwer. Ich würde entweder echt bisschen Aufwand reinstecken, zu gucken, wie man das unverbraucht klingend sagen kann, oder: Ich küsste ihn.

Den Rucksack hatte sie nirgend finden können,
s

Butterfly war drauf und dran den schlafenden Jungen zu ersticken, oder ihm mit einem großen Stein den Schädel einzuschlagen. Nur hätte das ihre Lage nicht unbedingt verbessert. Dabei störte es Butterfly wenig,
dran, / 2x der Name auf sehr engem Raum

und schenkte ihm ein weiteres verheißungsvollen Lächeln
verheißungsvolles

war entsetzt und fasziniert zu gleich.
zugleich

über de,m Kopf
dem

Viele Grüße
JC

 

Hallo @Proof,

vielen Dank für deinen Kommentar.
Angesichts der vielen Unstimmigkeiten und Fehler, die dir aufgefallen sind, und noch schwerwiegender, wie wenig von dem, was ich zu erzählen glaubte, bei dir angekommen ist, wird mir deutlich, wie weit ich davon entfernt bin einen Text dieser Länge zu überblicken.
Da liegt noch einiges an Arbeit vor mir.

Beste Grüße,
Sammis

 

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