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Sonja zählt

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03.07.2004
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Sonja zählt

"Das hast Du ja wieder toll hinbekommen!" Sonja starrte entsetzt auf den Bildschirm. Wo eben das Inhaltsverzeichnis des Forums zu sehen war, gab es jetzt nur noch ein wildes Durcheinander.

"Das ist wieder typisch für Sie, Fräulein Nellewein," pflegte ihr Abteilungsleiter zu sagen, "ich verstehe gar nicht, wieso sie nicht blond sind." Diesen Satz brachte Herr Knoll (genannt Knöllchen wegen seiner eher unsportlichen Figur) nur, wenn er besonders sarkastisch sein wollte, aber er tat Sonja jedesmal weh. Sie wäre gerne blond und mit einer ansehnlichen (also für Männer ansehbaren) Figur begünstigt. Aber sie war halt klein und unscheinbar - von ihren braunen kaum zu bändigenden Haaren über ihre eher rundliche Figur ohne besondere Hervorhebungen bis hin zu ihren zu großen Füßen. Modische Schuhe in dieser Größe waren schon gar nicht zu bekommen und auch ihre Kleidergröße kam bei den Favoriten der Modeshops nicht vor. So trug ihr übliches Büro-Outfit - Schlabberpullover, Stretchhose und Birkenstock-Sandalen - auch nicht dazu bei, ihre eigenen Gefühle oder gar die ihrer Umgebung zu heben.

Dumm war Sonja nicht, aber sie träumte sich gerne weit weg von dieser grauen Realität und war dann unaufmerksam, fühlte sich prompt ertappt, wenn ihre Träume unterbrochen wurden und schon war ihr der nächste Fehler unterlaufen und zog eine Reihe von Folgefehlern nach sich. "Du lässt dich immer gleich ins Bockshorn jagen," sagte ihr dann ihre Freundin Silvia, zu der sie flüchtete, wenn es mal wieder passiert war - also wenigstens drei mal am Tag - "du hast überhaupt kein Selbstvertrauen und ziehst dir gleich jeden Schuh an."

"Du hast ja so recht", jammerte Sonja und wußte doch, daß sich nichts ändern würde. Ja, wenn sie so aussähe, wie Silvia - blond, mit geradezu magnetischer Wirkung auf männliche Besucher, jedenfalls bis diese feststellen mußten, daß ihnen Silvia auch hinsichtlich der Intelligenz überlegen war. Chefsekretärin war Silvia gewiß nicht wegen ihrer Figur geworden, die war allerdings eine hoch willkommene Zugabe, wie der Seniorchef gerne von sich gab.

Silvia hatte ihr vorgeschlagen, doch eine ihrer erträumten Geschichten im Internet zu veröffentlichen und kaum hatte sie sich an diesem verregneten Sonntag dazu durchgerungen, ihre Geschichte der Allgemeinheit vorzulegen, da machte sie gleich alles kaputt. Was sollte sie jetzt tun. Zu Silvia konnte sie nur in der Firma flüchten, also würde sie jetzt halt den Computer ausstellen und sich im Bett verkriechen. "Wäre ich bloß nicht aufgestanden heute morgen. Hätte ich doch bloß nicht auf Silvia gehört. Moment, da war doch was. Genau."

Am Freitag mittag, bei der letzten Flucht vor ihren Fehlern in Silvias tröstende Arme hatte sie ihr gesagt, "Nun höre mir mal zu. Du mußt mehr Selbstvertrauen gewinnen. Und ich denke, wir fangen jetzt damit an, das zu üben. Das nächste Mal, wenn du etwas falsch machst, läufst du nicht in Panik zu mir, sondern setzt dich ganz ruhig hin und zählst bis Hundert. Dann schaust Du Dir Deinen Fehler noch einmal an und wenn es dann nicht besser geworden ist, kommst Du zu mir."

Gut, zu Silvia konnte sie jetzt nicht gehen, aber zählen, das konnte sie. Sie sah zwar keinen großen Sinn darin, aber Silvia hatte es ihr aufgetragen und sie wollte auf die Ratschläge ihrer besten Freundin hören. Und so starrte sie auf den Bildschirm und zählte konzentriert bis 100 . Sie hätte lieber ihre Augen geschlossen, aber dann würde sie wieder anfangen, zu träumen und das ging bei ihr sehr schnell. Selbst beim Schäfchen zählen abends in ihrem Kuschelbett kam sie manchmal zwar bis zwanzig, aber meistens verhedderte sie sich schon bei acht in ihren Träumen.

Irgendwie hatte sie den Bildschirm ausgeblendet, obwohl sie ihn ansah. Das wurde ihr bewußt, als sie bei Hundert angelangt war und auf das Chaos im Forum schaute, aber dieses gar nicht mehr zu sehen war. Alles sah so ordentlich aus, wie vorher und auch ihr Beitrag war säuberlich eingetragen. Also hatte sie gar nichts falsch gemacht oder die Forenbetreuer hatten es wieder repariert. Sonja fiel ein Stein vom Herzen und sie ging in die Küche, um sich mit einem Cappuccino zu belohnen. Und als dann auch noch zwei aufbauende Kritiken zu ihrer Geschichte kamen, wurde es für sie ein richtig schöner Sonntag.

Montag morgen. Herr Knoll ging forschen Schrittes durch seine Abteilung, nachdem er an der Tür allen eine erfolgreiche Arbeitswoche gewünscht hatte. Und als er hinter seinem Schreibtisch saß, stand ihm das Bild in seiner Abteilung wieder deutlich vor Augen: Fräulein Nellewein hatte konzentriert vor ihrem Computer gesessen und war nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend gerannt. Das war ja unglaublich, ein unerwarteter Fortschritt, dachte Herr Knoll, hoffentlich bleibt das keine Montagsfliege.

Glücklicherweise wußte er nicht, daß Sonja gar nicht konzentriert arbeitete, sondern verzweifelt vor sich hin zählte, während sie versuchte, den Kaffee von dem Vertrag zu wischen. Sie hatte ihn am Freitag vor Feierabend noch gerade fertig geschrieben, Herr Knoll hatte ihn unterzeichnet und nun hätte sie die Papiere zum Chef bringen sollen - aber der Vertrag war hin. Da nützte auch das zweite Paket Tempos nichts mehr. Als Sonja endlich mit Tränen in den Augen bei Hundert angekommen war, rannte sie allerdings nicht zu Silvia. Ihr war beim Zählen eingefallen, daß sie den Vertragstext ordentlich abgespeichert hatte. Also würde sie ihn noch einmal ausdrucken und Herrn Knoll ihr Mißgeschick beichten. Das war ja nichts Neues für ihn und er würde wieder haarscharf an ihr vorbeisehen und einen seiner fiesen Sätze murmeln.

Als der Vertragstext auf dem Bildschirm erschien, fiel ihr Blick ganz zufällig auf einen eigenartig klingenden Satz. Ein Deutsch schreiben diese hohen Herren manchmal, dachte sie erst, schaute dann aber vorsichtshalber noch einmal in den Entwurf, nach dem sie den Vertrag geschrieben hatte. Je länger sie die Handschrift von Herrn Knoll ansah, desto mehr schien es ihr, daß der Satz vielleicht doch ganz anders heißen sollte.

Also nahm sie ihr bisschen Selbstvertrauen, das sie gerade gewonnen hatte, griff den Entwurf, ging zu Herrn Knoll und fragte ihn: "Entschuldigen Sie bitte, ich bin den Vertragstext noch einmal durchgegangen, bevor ich ihn weitergeleitet habe, und ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Satz richtig geschrieben habe."

Sie wurde immer leiser, weil Herr Knoll sie so erstaunt ansah, aber er schien dies gar nicht zu bemerken, schaute auf den Entwurf und sagte dann: "Sie haben völlig Recht, Frau Nellewein, da habe ich mich vertan. Das muß 'vermehrt' heißen und nicht 'verwehrt'. Ich muß sie wirklich loben," fügte er hinzu. "Sie denken mit. Machen Sie weiter so". Und er sah sie lächelnd an, statt wie sonst immer verkniffen an ihr vorbei zu starren.

Sonja kehrte zu ihren Schreibtisch zurück und zählte langsam bis 50, um nicht vor den Kolleginnen in Freudentränen auszubrechen. Erklären konnte sie es sich nicht, aber Zählen schien tatsächlich eine erfolgreiche Therapie zu sein.

 

Hallo Jobär,
erst mal der Kleinkram:

Sonja starrte entsetzt auf den Bildschirm. Wo eben das Inhaltsverzeichnis des Forums auf dem Bildschirm zu sehen war, gab es jetzt nur noch ein wildes Durcheinander.
das zweite mal könntest Du gut weglassen. Der Leser weiß, dass es um den Bildschirm geht
Herr Knoll durchschritt forschen Schrittes seine Abteilung
liest sich nicht sehr schön.


Vermutlich war Silvia, obwohl Sonjas beste Freundin, irgendwann genervt von den ständigen Ausbrüchen der Prot. Kann man ihr auch nicht verdenken, bei bis zu dreimal täglich. Vielleicht hat sie mit der Idee des Zählens nur ein wenig Freiraum schaffen wollen für sich selbst. Möglicherweise hat sie aber auch nur eine simple Methode gesucht, Sonja wirklich zu helfen.
Schön, dass Sonja es geschafft hat, mit dieser einfachen Technik solche Erfolge zu erzielen.
Ja, manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die ein Leben nachhaltig verändern können.
Das hast Du mit Deiner Geschichte gut rüber gebracht.
Hat mir gut gefallen.
Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie :)

PS:

Erklären konnte sie es sich nicht, aber Zählen schien tatsächlich eine erfolgreiche Therapie zu sein.
Habe das früher zu Schulzeiten auch gemacht und muss sagen - es stimmt. :D

 

Hallo Kürbiselfe!

Vielen Dank für Deine Kritik. Hat mich gefreut, vor allem von jemand zu hören, dem diese Idee tatsächlich geholfen hat. Den Kleinkram habe ich verbessert - hoffentlich richtig.

Liebe Grüße

Jo

 

Hallo jobär,

eine wirklich nette Geschichte zur Problembewältigung im Alltag. Muss ich auch mal versuchen, das Zählen ;)

Habe ich gerne gelesen. Dein Stil ist flüssig und gut zu lesen, deine Prot wirklich gut charakterisiert. nicht zu lang und nicht zu kurz.
Mehr davon!
:thumbsup:


Liebe Grüße,

Ronja

 

Hallo Felsenkatze!

Das geht ja runter wie Öl! Vielen Dank für Deine aufbauenden Worte.

Liebe Grüße

Jo

 

Hallo Jobär,

eine nette Geschichte hast du geschrieben.

Ich kann auch bestätigen, dass es funktioniert. Als Kind habe ich immer Ärger bekommen, wenn ich mal wieder eine zu große Klappe hatte. Mein Dad meinte dann, wenn ich mich aufreger, dann soll ich erst bis 10 Zählen und dann erst antworten...

Hat mir gut gefallen!

Bella

 

Hallo Bella!

Freut mich, von noch jemanden zu hören, bei dem das Rezept geklappt hat. Und dabei wollte ich gar kein Rezept aufschreiben.

Gruß

Jo

 

Hallo Jo!

Also die Geschichte gefällt mir richtig gut! :)
Eine wirklich nette Geschichte, die vom Anfang bis zum Schluß alles hat, was sie braucht. Besonders (ich mag dieses Wort nicht, aber mir fällt grad kein treffenderes ein: ) süß finde ich den Schluß, wo sie dann bis 50 zählt, das finde ich wirklich gelungen! :)

Manchmal hast Du den Punkt außerhalb der schließenden Anführungszeichen, statt innen. Und wenn Du beim Sprecherwechsel eine neue Zeile nähmest, wäre es noch ein Stück besser zu lesen. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi!

Vielen Dank für Deine lieben Worte. :bounce:
Ich bin den Text noch einmal durchgegangen, habe die Zeichensetzung korrigiert und einige Absätze eingefügt.

Lieben Gruß

Jo

 

hallo Jo,

gefiel mir auch. Die Idee fand ich nett, die Umsetzung auch, aber die Wandlung ging mir etwas schnell. Die Einleitung schien mir schon fast zu lang, ich hätte gern noch mehr vom Hauptteil gelesen... vielleicht könntest du diese Wandlung etwas langsamer voranschreiten lassen... es gefile mir grad so gut, war schade, dass dann nicht noch ein bisschen eher ausgebaut wurde.

lg Anea

 

Hallo Anea!

Danke für Deine Kritik. Ich kann mich eigentlich nicht so recht auraffen, die Geschichte noch auszubauen, weil ich fürchte, es wird dann eine Sammlung von anekdotenhaften Geschichchen oder eine Fallstudie daraus. Ich denke auch, daß Sonjas Weg länger und komplizierter war, als ich es dargestellt habe, aber spannender mit all den Rückfällen und kleinen Erfolgen, die sich aneinanderreihen und ja auch weiter sich ereignen.

Die Geschichte soll ja anregen, es auch einmal zu probieren und erinnern an eigene Methoden und aus den Kommentaren entnehme ich, dass das auch klappt.

Liebe Grüße

Jo

 

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