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Sonja zählt
"Das hast Du ja wieder toll hinbekommen!" Sonja starrte entsetzt auf den Bildschirm. Wo eben das Inhaltsverzeichnis des Forums zu sehen war, gab es jetzt nur noch ein wildes Durcheinander.
"Das ist wieder typisch für Sie, Fräulein Nellewein," pflegte ihr Abteilungsleiter zu sagen, "ich verstehe gar nicht, wieso sie nicht blond sind." Diesen Satz brachte Herr Knoll (genannt Knöllchen wegen seiner eher unsportlichen Figur) nur, wenn er besonders sarkastisch sein wollte, aber er tat Sonja jedesmal weh. Sie wäre gerne blond und mit einer ansehnlichen (also für Männer ansehbaren) Figur begünstigt. Aber sie war halt klein und unscheinbar - von ihren braunen kaum zu bändigenden Haaren über ihre eher rundliche Figur ohne besondere Hervorhebungen bis hin zu ihren zu großen Füßen. Modische Schuhe in dieser Größe waren schon gar nicht zu bekommen und auch ihre Kleidergröße kam bei den Favoriten der Modeshops nicht vor. So trug ihr übliches Büro-Outfit - Schlabberpullover, Stretchhose und Birkenstock-Sandalen - auch nicht dazu bei, ihre eigenen Gefühle oder gar die ihrer Umgebung zu heben.
Dumm war Sonja nicht, aber sie träumte sich gerne weit weg von dieser grauen Realität und war dann unaufmerksam, fühlte sich prompt ertappt, wenn ihre Träume unterbrochen wurden und schon war ihr der nächste Fehler unterlaufen und zog eine Reihe von Folgefehlern nach sich. "Du lässt dich immer gleich ins Bockshorn jagen," sagte ihr dann ihre Freundin Silvia, zu der sie flüchtete, wenn es mal wieder passiert war - also wenigstens drei mal am Tag - "du hast überhaupt kein Selbstvertrauen und ziehst dir gleich jeden Schuh an."
"Du hast ja so recht", jammerte Sonja und wußte doch, daß sich nichts ändern würde. Ja, wenn sie so aussähe, wie Silvia - blond, mit geradezu magnetischer Wirkung auf männliche Besucher, jedenfalls bis diese feststellen mußten, daß ihnen Silvia auch hinsichtlich der Intelligenz überlegen war. Chefsekretärin war Silvia gewiß nicht wegen ihrer Figur geworden, die war allerdings eine hoch willkommene Zugabe, wie der Seniorchef gerne von sich gab.
Silvia hatte ihr vorgeschlagen, doch eine ihrer erträumten Geschichten im Internet zu veröffentlichen und kaum hatte sie sich an diesem verregneten Sonntag dazu durchgerungen, ihre Geschichte der Allgemeinheit vorzulegen, da machte sie gleich alles kaputt. Was sollte sie jetzt tun. Zu Silvia konnte sie nur in der Firma flüchten, also würde sie jetzt halt den Computer ausstellen und sich im Bett verkriechen. "Wäre ich bloß nicht aufgestanden heute morgen. Hätte ich doch bloß nicht auf Silvia gehört. Moment, da war doch was. Genau."
Am Freitag mittag, bei der letzten Flucht vor ihren Fehlern in Silvias tröstende Arme hatte sie ihr gesagt, "Nun höre mir mal zu. Du mußt mehr Selbstvertrauen gewinnen. Und ich denke, wir fangen jetzt damit an, das zu üben. Das nächste Mal, wenn du etwas falsch machst, läufst du nicht in Panik zu mir, sondern setzt dich ganz ruhig hin und zählst bis Hundert. Dann schaust Du Dir Deinen Fehler noch einmal an und wenn es dann nicht besser geworden ist, kommst Du zu mir."
Gut, zu Silvia konnte sie jetzt nicht gehen, aber zählen, das konnte sie. Sie sah zwar keinen großen Sinn darin, aber Silvia hatte es ihr aufgetragen und sie wollte auf die Ratschläge ihrer besten Freundin hören. Und so starrte sie auf den Bildschirm und zählte konzentriert bis 100 . Sie hätte lieber ihre Augen geschlossen, aber dann würde sie wieder anfangen, zu träumen und das ging bei ihr sehr schnell. Selbst beim Schäfchen zählen abends in ihrem Kuschelbett kam sie manchmal zwar bis zwanzig, aber meistens verhedderte sie sich schon bei acht in ihren Träumen.
Irgendwie hatte sie den Bildschirm ausgeblendet, obwohl sie ihn ansah. Das wurde ihr bewußt, als sie bei Hundert angelangt war und auf das Chaos im Forum schaute, aber dieses gar nicht mehr zu sehen war. Alles sah so ordentlich aus, wie vorher und auch ihr Beitrag war säuberlich eingetragen. Also hatte sie gar nichts falsch gemacht oder die Forenbetreuer hatten es wieder repariert. Sonja fiel ein Stein vom Herzen und sie ging in die Küche, um sich mit einem Cappuccino zu belohnen. Und als dann auch noch zwei aufbauende Kritiken zu ihrer Geschichte kamen, wurde es für sie ein richtig schöner Sonntag.
Montag morgen. Herr Knoll ging forschen Schrittes durch seine Abteilung, nachdem er an der Tür allen eine erfolgreiche Arbeitswoche gewünscht hatte. Und als er hinter seinem Schreibtisch saß, stand ihm das Bild in seiner Abteilung wieder deutlich vor Augen: Fräulein Nellewein hatte konzentriert vor ihrem Computer gesessen und war nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend gerannt. Das war ja unglaublich, ein unerwarteter Fortschritt, dachte Herr Knoll, hoffentlich bleibt das keine Montagsfliege.
Glücklicherweise wußte er nicht, daß Sonja gar nicht konzentriert arbeitete, sondern verzweifelt vor sich hin zählte, während sie versuchte, den Kaffee von dem Vertrag zu wischen. Sie hatte ihn am Freitag vor Feierabend noch gerade fertig geschrieben, Herr Knoll hatte ihn unterzeichnet und nun hätte sie die Papiere zum Chef bringen sollen - aber der Vertrag war hin. Da nützte auch das zweite Paket Tempos nichts mehr. Als Sonja endlich mit Tränen in den Augen bei Hundert angekommen war, rannte sie allerdings nicht zu Silvia. Ihr war beim Zählen eingefallen, daß sie den Vertragstext ordentlich abgespeichert hatte. Also würde sie ihn noch einmal ausdrucken und Herrn Knoll ihr Mißgeschick beichten. Das war ja nichts Neues für ihn und er würde wieder haarscharf an ihr vorbeisehen und einen seiner fiesen Sätze murmeln.
Als der Vertragstext auf dem Bildschirm erschien, fiel ihr Blick ganz zufällig auf einen eigenartig klingenden Satz. Ein Deutsch schreiben diese hohen Herren manchmal, dachte sie erst, schaute dann aber vorsichtshalber noch einmal in den Entwurf, nach dem sie den Vertrag geschrieben hatte. Je länger sie die Handschrift von Herrn Knoll ansah, desto mehr schien es ihr, daß der Satz vielleicht doch ganz anders heißen sollte.
Also nahm sie ihr bisschen Selbstvertrauen, das sie gerade gewonnen hatte, griff den Entwurf, ging zu Herrn Knoll und fragte ihn: "Entschuldigen Sie bitte, ich bin den Vertragstext noch einmal durchgegangen, bevor ich ihn weitergeleitet habe, und ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Satz richtig geschrieben habe."
Sie wurde immer leiser, weil Herr Knoll sie so erstaunt ansah, aber er schien dies gar nicht zu bemerken, schaute auf den Entwurf und sagte dann: "Sie haben völlig Recht, Frau Nellewein, da habe ich mich vertan. Das muß 'vermehrt' heißen und nicht 'verwehrt'. Ich muß sie wirklich loben," fügte er hinzu. "Sie denken mit. Machen Sie weiter so". Und er sah sie lächelnd an, statt wie sonst immer verkniffen an ihr vorbei zu starren.
Sonja kehrte zu ihren Schreibtisch zurück und zählte langsam bis 50, um nicht vor den Kolleginnen in Freudentränen auszubrechen. Erklären konnte sie es sich nicht, aber Zählen schien tatsächlich eine erfolgreiche Therapie zu sein.