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Verlassen
Der Wagen raste über die Straße, vorbei an fliegenden Bäumen und rauschenden Gräsern. Wolkenfetzen hatten sich über dem blauen Himmel verteilt; tränenhaft erstarrt.
Jack hatte das Radio lauter gedreht, und David Gilmour liebkoste seine Gitarre in ´Shine on you crazy diamond´. Eines der besten Soli, die Jack kannte; vollgepackt mit Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Es war seines und Francines Lied; bei diesem Lied hatten sie sich kennengelernt; bei diesem Lied hatten sie sich zum ersten Mal geliebt.
Jack spürte, wie seine Augen für einen kurzen Moment glasig wurden, und er fuhr blitzschnell mit dem Ärmel darüber. Vor knapp zwei Stunden hatte er Francine verlassen. Er hatte ihr Lebewohl gesagt und ihr alles erdenklich Gute für die Zukunft gewünscht. Vielleicht hatte er damit ja auch gemeint, daß sie bald endlich erlöst sein, und daß sie die sanfte Ruhe des Todes ereilen würde.
Vier Jahre und sechs Tage waren sie verheiratet gewesen; und jetzt hatte er sie verlassen. Sie hatte nichts dazu gesagt; nein, sie hatte seit vier Jahren nichts mehr zu ihm gesagt.
Denn genau sechs Tage nach ihrer Hochzeit war dieser Anruf gekommen.
„Guten Tag. Spreche ich mit dem Mann von Frau Francine Dennings? Mr. Jack Dennings?“
Und Jack hatte noch erheitert mit ´ja´ geantwortet; irgendwie klang es noch ein wenig seltsam: ´Der Mann von Francine Dennings!´ Er hatte tatsächlich eine Ehefrau; er, der eigentlich niemals heiraten wollte; er, den diese Frau liebevoll um den kleinen Finger gewickelt hatte, wie ein sanftes Tuch ein rohes Ei umhüllt. Er war verheiratet; und zwar mehr als glücklich.
„Ja“, hatte er gesagt, „Sie sprechen mit dem Ehemann von Francine Dennings. Was kann ich für Sie tun?“
Danach hatte er nur noch gelauscht; erstarrt, jeglicher innerer Regungen beraubt. Die Person am anderen Ende der Leitung hatte von dem Unfall berichtet; von diesem verdammten, beschissenen Unfall. Und sie hatte ihn gebeten, sofort ins Krankenhaus zu kommen.
Das war jetzt vier Jahre her. Die Ärzte hatten ihm niemals auch nur den Anflug einer Hoffnung gegeben; sie hatten Francine niemals den Anflug einer Hoffnung gegeben.
„Ihre Frau ist eigentlich schon tot“, hatte ihm der Mann in weißem Kittel schonungslos offenbart. „Da sind im Moment nur noch die Maschinen ...“
Nur noch diese Maschinen. Diese Maschinen, die er am Anfang so geliebt hatte; diese Maschinen, die Francine am Leben hielten, obwohl sie eigentlich schon tot war. Oh ja, er hatte diese Maschinen geliebt. Er hatte Gott dafür gehaßt, daß er so etwas zuließ, aber er hatte diese Maschinen geliebt.
Jeden Tag hatte er Francine im Krankenhaus besucht und hatte sie an seinem Leben teilhaben lassen. Er hatte ihr alles erzählt, so als säße sie ihm gegenüber auf ihrem weichen Sofa; und jeden Tag hatte er diese Maschinen angefleht, sie so lange am Leben zu halten, bis sie es selbst wieder schaffen würde. Die Maschinen hatten nicht aufgegeben; und seine Frau hatte es nicht geschafft.
Und irgendwann war da Marie. Marie war die Physiotherapeutin seiner Frau. Sie war die Frau, die Francine dabei half, daß ihre verkümmerten Muskeln nicht gänzlich zusammenschrumpften wie ein elender Fliegenpilz in der erbarmungslosen Sonne zur Mittagszeit.
Er war Marie dankbar für ihre Arbeit; zusammen mit den Maschinen mußten sie es doch schaffen; mußte Francine es schaffen.
Später – waren es Monate gewesen? – hatte er Marie einen Blumenstrauß mitgebracht und ihr für ihre liebevolle Arbeit gedankt. Ihre Wangen hatten sich ein wenig gerötet, und sie hatte schweigend den Raum verlassen.
Jack hatte sich zu Francine ans Bett gesetzt, und zum ersten Mal hatte er nur Mitleid verspürt. Oh mein Gott, wie ihm diese Frau leid tat ...
Erschrocken über dieses Gefühl waren ihm die Tränen gekommen. Wo war seine Liebe? Er war zusammengesunken und hatte in die leblose Armbeuge seiner Frau geweint.
Das war jetzt wiederum ein halbes Jahr her. Jack hatte in dieser Zeit immer noch jeden Tag Francine besucht; und jeden dieser Tage war sein Mitleid größer geworden. Sein Mitleid größer und seiner Liebe weniger. Jack hatte festgestellt, daß er selbst die Maschinen anfing zu hassen. War es aus dem Grund, daß sie es nicht fertigbrachten, Francine ins Leben zurückzuholen? Oder war es aus dem Grund, weil sie sie am Leben hielten? Am Leben hielten in dieser weit entfernten Scheinwelt zwischen freudigem Umherspringen und unbarmherzigem Dahinvegetieren. Ja, es war ein Dahinvegetieren, was diese Maschinen Francine gestatteten.
Und zeitgleich der abnehmenden Liebe zu Francine und dem ansteigenden Hass auf die Maschinen war ein neues Gefühl in ihm erkeimt. Es hatte lange gedauert, bis er es zuordnen konnte; aber tief in seinem Innern wußte er doch, was es war.
Es trat verstärkt auf, wenn er vor der Tür zu Francines Krankenzimmer stand; es trat verstärkt auf, weil er hoffte, Marie hinter dieser Tür zu finden.
Irgendwann hatte er sie auf einen Drink eingeladen; er war sich an diesem Tag vorgekommen, wie ein kleiner Schuljunge, der seiner Angebeteten einen dilettantischen Liebesbrief überreichen mußte.
Doch Marie hatte gelächelt; und dieses Lächeln war in Jacks Eingeweide explodiert, wie der schönste Vulkan auf einer karibischen Insel. Oh ja, er hatte wieder diese berühmten Schmetterlinge im Bauch gehabt.
Jacks Gefühle nach diesem Treffen waren unbeschreiblich; der schöne Vulkan in seinem Innern brodelte, spuckte Feuer, um kurz danach wieder in einem gleißenden Licht zu erscheinen, das Jack in den siebten Himmel beförderte.
Konnte er so was überhaupt machen?
Doch je öfter er Marie sah, um so sicherer war er, daß er es machen konnte; ja, daß er es machen durfte.
Seine Liebe für Francine war nie ganz verschwunden, und das würde sie wohl auch niemals sein. Jack hatte sich des Öffteren gefragt, was sein würde, wenn Francine jetzt wieder aus ihrem Koma erwachen würde. Aber mit jedem Tag nahm die Gewißheit in ihm zu, daß das wohl wirklich niemals der Fall sein würde.
Er würde Francine niemals vergessen; und das wollte er auch gar nicht. Aber er wollte ein neues Leben beginnen; und dieses neue Leben hieß Marie.
Er hatte eines Abends allen Mut zusammengenommen und hatte Francine von Marie erzählt. Und sie hatte mit ihren toten Augen durch ihn hindurchgesehen.
Und vor genau zwei Stunden hatte Jack wieder in diese Augen gesehen; und er hatte Francine erzählt, daß er sich von ihr scheiden lassen würde. Er hatte ihr erzählt, daß er mit Marie wegfahren würde, und er hatte ihr alles Gute für die Zukunft gewünscht.
Und Francine hatte wieder durch ihn hindurchgeschaut.
Oh, wie er Marie liebte. Sie hatte lange gezögert, als er ihr seine Liebe gestand. Doch er hatte gemerkt, daß auch sie genauso fühlte.
David Gilmour hatte sein Solo beendet, und der Radiosprecher unterbrach den Gesang für eine wichtige Verkehrsdurchsage. Jack schüttelte den Kopf; weg mit den trüben Gedanken. Gleich würde er Marie wiedersehen. Jack blickte auf die kleine Schachtel auf dem Beifahrersitz und lächelte. Er würde Marie einen Heiratsantrag machen.
Er hatte sich erkundigt, und seine Ehe mit Francine konnte aufgrund der schwerwiegenden Umstände annuliert werden. Wieder war da dieser Stich in seinem Herz, aber Jack wußte, daß er das Richtige tat. Und er fühlte sich gut dabei. Francine würde für immer in seinem Herzen bleiben; ein kleiner Platz, den sie ausfüllen würde.
Aber Marie war sein zukünftiges Leben.
Die sanfte Melodie des Autotelefons riß ihn aus seinen Gedanken. Marie!
Wieder machte sein Herz einen erfrischenden Sprung. Sie wollte seine Stimme hören.
Er liebte diese Frau.
Jack drehte das Radio leiser und drückte die Taste für die Freisprechanlage.
„Dennings?“
Die Stimme am anderen Ende räusperte sich. Es war nicht Marie.
„Ähm ... hallo Mr. Dennings.“ Wieder dieses verlegene Räuspern. „Kennen Sie eine gewisse Marie Marlow?“ ...