Hey Novak und Peeperkorn, schöne Idee, das noch mal anzusprechen. Ich hatte mir zu der Diskussion einige Gedanken gemacht, wollte dann aber Jimmy nicht mit noch einer Meinung auf den Sack gehen, denn in den Kommentaren sollte es ja eigentlich um eine Besprechung seines Textes gehen und nicht um eine Stildebatte.
Nach einiger Recherche bin ich auf den aktuellen Stand der Theorie aufmerksam geworden, demzufolge es vier Erzählperspektiven gibt, wenn man die Literatur der letzten Jahrhunderte und die moderne Literatur analysiert: die Ich-Erzählperspektive, die Auktoriale Erzählperspektive, die Personale Erzählperspektive und die Neutrale Erzählperspektive.
Wenn ich Jimmy und die Diskussion richtig verstanden habe, dann orientiert er sich am Konzept des erzählerlosen Erzählens (Neutrale Erzählperspektive), das heißt auf die Darstellung der Innenperspektive wird radikal verzichtet, zumindest, was die Rolle des Erzählers betrifft, der sich jeglichen Kommentars oder Urteils, jeglicher Wertung oder Analyse der Ereignisse enthält. Die Innenperspektive einer Figur wird nur dann in verbalisierter Form besprochen, wenn eine Figur in direkter Rede über sich selbst spricht oder über das Innere einer anderen Figur mutmaßt, nehme ich an.
Ich sehe es so, dass diese Definition der Perspektive sehr praktisch ist, um Texte zu analysieren. Sie hat damit ihren eigenen Wert, aber ich denke, man sollte sich trotzdem klar darüber sein, dass es eine neutrale Perspektive niemals geben kann. Das ist nicht als Binsenweisheit gemeint, sondern geht sehr tief in das Verständnis von Wahrnehmung und Erkenntnistheorie. Ein paar Gedanken dazu.
1) Jede Erzählung beruht auf einem Menschen- bzw. Weltbild, im weiteren Sinne auf einer Ethik.
Das gilt unabhängig davon, ob sich der Autor dessen bewusst ist oder nicht. Bereits die Auswahl des Themas basiert auf einer Wertung, nämlich der, dass es unter unzähligen erzählbaren Geschichten, genau diese Geschichte ist, die das Erzählen verdient. Jeder Satz, jede Wendung basiert auf einer Wertung oder noch krasser gesagt auf einem Urteil des Autoren, denn er ordnet die Ereignisse gemäß einer bestimmten, von ihm intendierten Aussage. Und sei es nur die Aussage, dass die beschriebenen Ereignisse als Kontext betrachtet werden müssten.
Es gibt keine richtige, objektive Reihenfolge der Ereignisse, denn im Grunde genommen ist jede Reihenfolge willkürlich. Jedes Ereignis steht mit zahllosen anderen Ereignissen in Beziehung, und diese können beliebig kombiniert werden, um jede denkbare Aussage zu erhalten. Was wir machen, wenn wir Geschichten hinsichtlich ihrer Stringenz und Folgerichtigkeit untersuchen, basiert bereits auf der Vorwegnahme einer bestimmten Aussage, eines bestimmten Musters.
Ich habe das bei meiner letzten Geschichte genau verfolgen können. Wenn ein Kommentar sagt, die Geschichte habe kein richtiges Ende, dann wird der Ereignisverlauf anhand eines bestimmten Musters analysiert, das der Beschreibung der Ereignisse durch den Autor zugrunde zu liegen scheint. Leser empfinden das Ende dann als falsch, wenn es nicht zu dem Muster zu passen scheint, und diese Empfindung ist oft durchaus nachvollziehbar und gerechtfertigt.
Kurzum: Jedes Beschreiben ist bereits Wertung, Deutung, Interpretation, Moral, Anschauung.
2) Wie außen so innen.
Es ist völlig unmöglich, das äußere Verhalten eines Menschen grundsätzlich von seinem inneren Erleben zu trennen. Deshalb drücken sich in Gesten und Handlungen auch immer die Innenwelten der Figuren einer Erzählung aus. Aus diesem Grund ist es genau genommen irrelevant, ob der Autor auf die Darstellung von Gedanken verzichtet oder nicht. Eine Figur wird nicht automatisch authentischer, wenn man darauf verzichtet, ihre Gedanken zu beschreiben. Der negative Einfluss des Autors kann sich eben so gut in beschriebenen Verhaltensweisen einer Figur niederschlagen, nämlich dann, wenn er die Figur Dinge tun lässt, die nicht zu der Persönlichkeit der Figur passen.
Ich finde, das ist der große Wert der Diskussion, die Jimmy angestoßen hat, nämlich nach dem negativen Einfluss des Autoren zu fragen. Geht dieser selbstherrlich zu Werke und meint, er könnte seine Figuren so agieren, reden und denken lassen wie es ihm beliebt, dann gibt es Probleme mit der Glaubwürdigkeit der Geschichte.
Das erleben wir in Film und Literatur ständig, Leute reden auf eine Weise, die sich durch ihre (fiktive) Biografie einfach nicht rechtfertigen lässt. Sie treffen unglaubwürdige Entscheidungen, sind cleverer oder dümmer als sie eigentlich sein müssten, wenn man sie ernst nimmt.
3) Der Charakter muss zur Prämisse passen.
Wenn die Prämisse meiner Geschichte lautet Egal, wie sehr wir uns bemühen, unser Leben bleibt immer ein Glückspiel, dann sollte ich die Charaktere meiner Geschichte so wählen, dass sie diese Prämisse stützen. Wähle ich die falschen Charaktere aus und lasse sie Sachen tun, die ihnen als reale Person nie im Leben einfallen würden, erhalte ich eine widersprüchliche und nicht konsistente Aussage.
Das Problem vieler Geschichten besteht meiner Ansicht nach darin, dass die Autoren sich nicht klar darüber sind, was sie eigentlich behaupten wollen. Und dann basteln sie eine Figur zusammen, die sich nicht in den vorher festgelegten Ablauf der Ereignisse einfügen lässt. In der Not vergewaltigt ein Autor dann seine Figur und lässt sie lachhafte Sätze sprechen und unmögliche Dinge tun. So verstehe ich Jimmy, wenn er darauf hinweist, dass man da eben nicht eine Figur der Geschichte erlebt, sondern die Privatmeinung des Autoren vorgeführt bekommt.
Mein Fazit: Jede Erzählung ist Bewertung, ist Urteil, ist Standpunktbeziehen. Eine neutrale Beobachtung oder Schilderung von Ereignissen ist grundsätzlich unmöglich. Die Nicht-Einmischung des Autoren sollte darin bestehen, seine Figuren glaubhafte Erfahrungen machen zu lassen, ihnen keine Worte oder Gedanken anzudichten, die nicht zu ihnen gehören. Ob Innensicht oder Außenperspektive ist egal, die Handlungen müssen Handlungen der Figur sein, nicht Handlungen des Autoren. Die Persönlichkeit und die Biografie einer Figur muss von vorherein so ausgewählt werden, dass der Autor die Story erzählen kann, die er erzählen will.
Gruß Achillus