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- 24.01.2009
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Warum die Berge an manchen Stellen höher sind
Schön hat es Martina hier, denke ich und inhaliere den Anblick der Berge, die frische Luft und das Kuhglockengebimmel. Bayrisches Alpenland wie gemalt und ich mittendrin. Man könnte gleich und hier eine Kamera aufbauen und einen Heimatfilm drehen. Frau im Dirndl trifft auf neu eingetroffenen Tierarzt, natürlich ist der Junggeselle, und gemeinsam retten sie eine Gämse, die angeschossen zurückgelassen wurde. Happy End mit rosa Herzen und im Hintergrund des Abspanns üppig blühende Geranien an den Balkonen eines Holzhauses. Ja, genau so einen Film könnte man von Martinas Terrasse aus drehen.
Meine alte Schulfreundin legt mir ihre Hand auf die Schulter und holt mich aus meiner Gedankenwelt zurück in die Realität.
„'Tschuldigung. Wollt dich nicht erschrecken“, sagt Martina und reicht mir einen Pott Kaffee.
Ich schwenke den Blick von den Bergen zum Pool. Mein Sohn Finn tobt nach stundenlanger Autofahrt seinen Hippeldrang aus. Ja, Martina hat es schön hier. Schöne heile Welt. Familie, Haus, Garten, Pool. Einer der Gründe, warum ich noch nie von fast Dänemark bis nach fast Österreich gefahren bin. Ich wollte keine Auszeit aus meinem Leben für einen Schnupperkurs im: So könnte es auch sein - Leben.
Ausreden erfand ich viele; Finn krank, ich krank, Sturmwarnung, meine Pension ausgebucht, Handwerker im Haus, Auto kaputt, ein Regenwurm hat sich ein Bein gebrochen, weiß der Fuchs.
Dabei gönne ich das alles Martina. Ich freue mich für sie. Gerade jetzt freue ich mich für sie.
„Schön, dass die Jungs sich so gut verstehen“, sagt Martina, nachdem wir die Kinder ins Bett verfrachtet haben. Sie öffnet eine Flasche Merlot, stellt Käse, Obst und Brot auf den Tisch.
„Ja“, sage ich und fühle mich gleichfalls erleichtert. Finn ist fünf, Martinas Sohn Aron acht. Ob sich der Große mit dem Kleinen abgibt, war das unbekannte x in der Reiseplanung. Ich konnte nur hoffen, die zwei würden sich vertragen und mir dadurch ein paar Momente der Ruhe bescheren.
„Aron hat nicht viele Freunde“, sagt Martina. „Ich glaube, es liegt irgendwie daran, dass er seinem Alter voraus ist.“
„Voraus?“, frage ich.
„Na ja. Er ist seinen Spielgefährten einfach überlegen. Cleverer als sie, also nicht unbedingt intelligenter, weiß Gott nicht, aber irgendwie, ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll, soziale Intelligenz trifft es vielleicht.“
„Das ist sicher auch hart für dich“, sage ich. Für mich wäre es jedenfalls furchtbar, wenn Finn niemanden zum Spielen fände.
„Mir tut es einfach für Aron leid. Er kann doch nichts dafür.“
„Nein“, sage ich und sehe Aron vor mir, der groß und kräftig für sein Alter ist. Vielleicht gibt er sich ja tatsächlich mit einem Fünfjährigen ab, weil er ein ausgeprägtes Sozialverhalten hat. Aber warum meiden ihn Kinder seines Alters dann? So ganz kann ich mir keinen Reim drauf machen, aber ich nicke mitfühlend.
„Lass uns über dich reden. Du bist ja zum Entspannen hier, nicht um für mich die Psychotante zu spielen. Wie geht es dir?“
„Ich bin müde“, sage ich ehrlich, weil der Wein mir gerade den Rest gibt. „Von der langen Fahrt, von der Luft, von meiner Pension, vom Alleinsein, von allem eigentlich.“
Martina legt ihre Hand auf meine. "Eine Woche nur wir beide. Wie früher."
Ich lächle. Das ihr Mann gerade auf einem Kongress weilt, war mir mehr als recht.
„Ich verwöhne dich und du redest dir den ganzen Ballast von der Seele. Guck, der Watzmann da drüben, auf den schaufeln wir all deine Sorgen und die Bergsteiger freuen sich, weil sie noch ein paar Meter höher kraxeln können.“
Ich lächle über die Idee, die Alpen wären Sorgenberge. Wie viele beschissene Leben es wohl brauchte, sie zu dieser Größe aufzutürmen?
Martina lässt meine Hand los und schenkt uns Wein nach.
Ihre Bemutterung fühlt sich gut an und erst jetzt, in diesem Moment, stelle ich fest, was für ein Wrack ich eigentlich bin. Ein bisschen Wein, ein bisschen Käse, ein paar liebe Worte und ich könnte vor Rührung losflennen.
Am nächsten Tag fahren wir mit den Kindern zur Wimbachklamm. So mit dem tosenden Wasser unter uns und nur noch Rauschen in den Ohren, da denke ich an zu Hause. An die stürmischen Tage und Nächte bei uns am Meer und an das marode Dach meiner Pension, für das ich kein Geld habe. Ich sehe mich bei Unwetter am Fenster zittern, weil ich mich vor einer Ladung herabfallender Ziegel fürchte.
Nachmittags liegen Martina und ich faul in der Sonne. Mit eiskaltem Zitronenwasser, Melone und Schokoladeneis. Wir baden in Kindheitsgeschichten und stellen fest, wie grausam wir zu manchen Verehrern aus Jugendzeiten waren. Als das Telefon klingelt, verschwindet Martina im Haus. Ich schließe die Augen und genieße die Stille. Einfach nur Ruhe, wie schön sich das anfühlt, bis die Kinder auftauchen. Ich weigere mich, die Augen zu öffnen, den Moment wieder herzugeben und doch springe ich auf, als ich Arons Stimme höre.
„Setz dich und friss Gras! Wenn du nicht frisst, gibt es drei Stockhiebe!“
Um Finns Hals liegt eine Hundeleine. Mein Sohn kauert auf dem Rasen und zupft Löwenzahnblätter. Aron steht hinter ihm, einen Knüppel durch die Luft schwingend. Er hat sich ein Bettlaken um den Körper geschlungen, während mein Sohn nackt ist.
„Du musst das Gras in echt fressen“, herrscht Aron ihn an.
„Hör sofort damit auf“, schreie ich, während ich mich auf Finn stürze. „Lass die Leine los. Hörst du! Und leg den Knüppel weg.“
Ich nehme meinen Sohn in den Arm und öffne das Halsband.
„Du musst kein Gras essen“, sage ich und streichle sein Haar.
Finn guckt mich an, als wäre ich eine Irre.
„Aber wir spielen doch nur“, sagt er schließlich.
„Und was soll das für ein Spiel sein?“, frage ich.
„Aron ist Cäsar und ich bin sein Sklave“, erklärt mein Sohn mir stolz. Mir kommt die Galle hoch. Aron grinst und Finn befreit sich aus meiner Umarmung, legt sich die Leine wieder um den Hals. Ich nehme sie ihm erneut weg. „Geh ins Haus und zieh' dir was an. Das Spiel ist zu Ende.“
„Aber warum denn?“
„Weil ich es sage. Und jetzt geh. Bitte!“
Finn steht auf, zieht einen Schmollmund und stampft bockig davon.
„Und du mein Freund“, ich versuche ganz ruhig zu sprechen, was mir nur kläglich gelingt, „du unterlässt solche Spielchen. Hast du mich verstanden!“
„Du darfst mir nichts verbieten. Du bist nicht meine Mutter“, sagt Aron.
„Ich bin nicht deine Mutter, aber ich verbiete dir, Finn zu befehlen, er solle Gras essen. Ich verbiete dir, ihn nackt an einer Leine herumzuführen und ihm Stockhiebe anzudrohen.“
Aron beginnt zu schreien, als hinge sein Leben davon ab. Martina stürzt aus dem Haus, das Telefon noch am Ohr. Verdattert trete ich einen Schritt zurück und beobachte, wie sich Arons Gesicht tiefrot färbt und irgendwie aufbläht.
„Was?“, fragt Martina, als sie bei uns ist.
„Sie wollte mich schlagen“, heult jetzt Aron und zeigt mit dem Finger auf mich.
Mir bleiben vor Entsetzen alle Worte weg, und weil ich sprachlos bin, wedle ich wie bekloppt mit den Händen.
„Das ... ich wollt' nicht. Ich würde doch nie ...“, stammle ich schließlich.
Martina mustert mich, als wäre ich ein Schwein und sie muss jetzt entscheiden, ob es fett genug zum Schlachten sei. Ich gebe mir alle Mühe, ganz dünn auszusehen.
„Wirklich nicht“, beteuere ich nochmals.
Eine Frauenstimme quäkt aus dem Telefon: „Hallo? Alles in Ordnung? Was ist da los?“ Martina würgt kurzerhand das Telefonat ab und kniet vor ihrem Sohn nieder. Aron quetscht sich ein Tränchen aus dem Auge.
„Du darfst Mama jetzt nicht anlügen. Wollte Lena dich wirklich schlagen?“ Dabei streicht sie sanft über seine Wangen.
„Bestimmt wollte sie das. Sie war total gemein.“
„Schon gut. Mama ist jetzt da. Niemand wird dich schlagen, hörst du? Ich verspreche es dir.“ Dann gibt sie Aron einen Kuss. „Du darfst dir jetzt eine Tafel Schokolade holen. Aber gib Finn davon ab.“
Kaum hat Martina den Satz beendet, stürmt Aron in Richtung Küche.
„Ich hab, … ich wollt' wirklich nicht. Ich habe ihn nicht angerührt“, setze ich erneut an, aber Martina winkt ab.
„Er macht gerade eine schwierige Phase durch. Er ist so unglaublich sensibel“, sagt sie, aber ich kann hören, wie ein Rest Unsicherheit in ihrer Stimme mitschwingt.
Sensibel ist eine hübsche Umschreibung für sadistische Spielchen, denke ich, halte es aber aus irgendeinem Grund für unklug, Martina jetzt über die Situation aufzuklären. Ich werde es ihr sagen, später, wenn die Unsicherheit aus ihrer Stimme fort ist.
„Man könnte glauben, sie sind Geschwister“, sagt Martina.
Ich lege mir eine Decke über Beine und Füße, ich friere, während Martina noch immer im T-Shirt neben mir sitzt. Die Kinder sind im Baumhaus, wir sehen die Lichter ihrer Taschenlampen durch die Fenster tanzen. Seit heute Nachmittag bin ich unter Hochspannung, wenn Finn nicht in meiner Nähe ist. Der Abend im Baumhaus war die beste Idee, die ich hatte. Von der Terrasse aus habe ich die beiden im Blick. Finn und Aron. Vor allem Aron. Ich gucke ständig auf die Uhr und hadere, weil Finn schon seit einer Stunde ins Bett gehört. Aber auch er hat Urlaub, ich will ihm nicht den Spaß verderben.
„Und? Hast du dich schon ein bisschen erholt?“, fragt mich Martina und ich greife das Stichwort dankbar auf, schließlich muss ich ihr noch von den grausamen Spielchen ihres Sohnes erzählen. Als ich meinen Bericht abgeschlossen habe, verzieht Martina das Gesicht. Ich weiß nicht, wie ich es deuten soll, ob sie mir glaubt oder ob sie es mir übel nimmt, das Thema nicht als beendet anzusehen. Schließlich lacht sie.
„Was ist daran komisch?“, frage ich.
„Kinder sind grausam. Weißt du doch.“
„Das finde ich auch nicht komisch.“
„Du hast recht.“ Martina wird ernst. „Erinnerst du dich, wie wir deine Schwester am Wäscheleinenpfosten, am Marterpfahl, angebunden haben und dann zum Baden gingen?“
Natürlich erinnere ich mich. Am Abend schlug mein Vater mir zwei Mal ins Gesicht. Eine rechts, eine links. Es war das erste und einzige Mal, dass er mich schlug. Ich schweige.
„Wir haben sie in der prallen Sonne stehen lassen“, fährt sie fort.
Ich sehe Mutter vor mir, wie sie mit Karin aus dem Krankenhaus kam. Krebsrote Haut und einen Sonnenstich, so endete es damals für meine Schwester. Karin war sechs, ich neun. Ich wollte Karin einfach nur nicht mit zum Strand nehmen, einmal nicht meine kleine Schwester am Rockzipfel haben.
„Aber wie kommt Aron auf solche Spiele?“, frage ich. Meine Beweggründe von damals kenne ich, Arons dagegen sind mir ein Rätsel.
„Vielleicht hat er es von einem anderen Kind. Vielleicht aus irgendwelchen Geschichtsbüchern, Bildern aus dem Fernsehen, was weiß denn ich. Guck dir die beiden doch an. Sie sind ein Herz und eine Seele. Warum sollte Aron Finn etwas antun?“
Ich überlege, ob ich vielleicht doch zu dünnhäutig bin. Ob ich nicht zu sehr die Übermutter spiele? Aber verdammt, es war nicht in Ordnung, was wir damals mit Karin machten und heute war es mein Sohn, der Gras fressen sollte, der an der Leine hing und über dem Aron seinen Knüppel schwang. Vielleicht würde Martina es anders sehen, wenn die Rollen vertauscht gewesen wären.
„Bitte, Lena“, sagt Martina. „Du reibst dich auf. Du bist alleinerziehend, selbstständig, immer an der Kante zum finanziellen Desaster. Du kannst nicht die Welt verbessern, Kinder sind nicht immer nur niedlich.“
„Ich will die Welt nicht verbessern“, sage ich trotzig.
„Doch, das willst du. Und Hilfe kannst du auch keine annehmen.“
Wie kommt Martina jetzt darauf? Wieso sitze ich jetzt auf der Anklagebank? „Das ist nicht wahr!“
„Ach?“ Martina legt den Kopf schief und guckt mich skeptisch an. „Und warum wolltest du dann nicht, dass Karin für eine Woche in der Pension einspringt?“
„Es ist Karins Urlaub“, sage ich. „Sie braucht ihn doch auch, bei ihrem Job.“
„Sie selbst hat es angeboten. Für sie ist es in Ordnung. Verstehst du? Das Problem hat nicht Karin, sondern du.“
„Sonst noch was?“, frage ich und hoffe, wir können das Thema als beendet ansehen.
„Ja.“
„Was?“
„Geh' zur Bank und nimm eine Scheißhypothek für die Dachreparatur auf. Warte nicht, bis das Haus über deinem Kopf wegfault.“
In mir zieht sich alles zusammen. Die Kälte kriecht durch Decke und Strickjacke.
„Ich denk drüber nach“, sage ich. Zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage. Es ist höchste Zeit Finn ins Bett zu bringen.
Den ganzen nächsten Tag verbringe ich damit, mich zurückzuhalten, meinen Sohn nicht der totalen Kontrolle auszusetzen. Martina quält mich nicht mit Vorwürfen. Aron spielt keine komischen Spiele. Am Abend fühle ich mich wirklich schon viel besser als bei meiner Ankunft. Die Kinder sind wieder im Baumhaus, aber heute schicke ich Finn doch eher ins Bett, ich hatte den ganzen Tag das Gefühl, er sei nicht ganz fit.
Als ich später selbst hochkomme, ist mein Sohn noch wach. Alle Lampen im Zimmer sind angeknipst.
„Was ist denn los?“, frage ich.
„Ich habe so Angst vor dem Müller.“
„Vor welchem Müller denn?“
„Vor dem, der kleine Kinder isst.“
„Hat dir Aron von dem Müller erzählt?“
„Ja“, sagt Finn. „Der Müller hat nur ein Bein, ist aber trotzdem ganz schnell. Und er hat Glasaugen, mit denen er ganz gut gucken kann. Auch in der Nacht. Und er hat nur vier Zähne. Die sind aber von einem richtigen Löwen, gar keine Menschenzähne.“
„Das ist aber ein gruseliger Müller“, sage ich und wiege Finn sacht hin und her. „Und weißt du was? So einen Müller gibt es gar nicht. Das ist ein Märchen, was Aron dir erzählt hat.“
„So ein Märchen wie das von Hänsel und Gretel?“
„Genauso ein Märchen. Und es beginnt mit: Es war einmal.“
„Nein. Aron hat gesagt, der Müller lebt und holt sich jeden Monat ein Kind.“
Verflucht sei dieser Bengel. Kein Wunder, dass Aron keine Freunde findet.
„Da hat der Aron aber ganz kräftig geschwindelt. Glaub' mir, es gibt keinen solchen Müller. Man kann mit einem Bein auch überhaupt nicht laufen. Da fällt man nämlich um.“
„Aber er kann hopsen. So wie ein Känguru. Ganz schnell und ganz weit.“
„Das ist alles ausgedacht. Das stimmt nicht. Verstehst du? Es ist nur eine Geschichte.“
„Wirklich?“
„Ganz bestimmt“, sage ich. „Es gibt keinen Müller hier.“
„Bleibst du jetzt hier?“
„Ja. Ich passe auf uns auf. Versprochen.“
Finn kuschelt sich in seine Decke. Ich nehme seine Hand in meine, warte bis er eingeschlafen ist, lausche seinem Atem und bewache den kleinen Körper.
Gruselgeschichten gehören zu einem Sommerabend. Alles normal. Ja, genau das wird Martina sagen, wenn ich ihr von der Müllergeschichte erzähle, und genau deshalb werde ich ihr davon nichts erzählen. Am Ende zeigt ihr Finger nur wieder auf mich.
In der Küche schnipple ich den Salat, Martina bastelt Grillspieße, und wir lachen über jeden Scheiß, albern wie Teenager sind wir.
Und mitten hinein in meine gute Laune fragt Martina, ob ich es mir überlegt hätte, das mit der Hypothek. Bei dem Grundstück sei das mit der Bank ja nur eine Formalität.
„Und wenn ich die Raten nicht aufbringe?“, frage ich und meine gute Laune landet mit den Zwiebelschalen in der Schüssel für den Kompost.
„So arg?“
Ich nicke.
„Wenn du die Rate mal einen Monat nicht aufbringen kannst, zahle ich sie für dich. Zinnloser Kredit. Ich weiß, ich werde das Geld von dir zurückbekommen“, sagt Martina.
„Danke“, sage ich, und weiß, ich werde ihr Angebot nicht annehmen.
Aron rettet mich davor, das Thema weiter auszudiskutieren. „Finn hat mein Autogramm vom Neuer schwarz gemacht!“
Mein Sohn steht hinter ihm.
„Hast du das?“, frage ich ihn. Finn nickt. „Warum?“
„Weil Aron zu mir gesagt hat, ich bin ein blöder Schlappschwanz.“
Martina stöhnt, ich rolle mit den Augen.
„Wie? Schwarz gemacht?“, fragt Martina.
„Er hat es übermalt. Und jetzt sieht man die Schrift nicht mehr.“
„Oh“, sagt Martina. Zu mir sagt sie: „Das Autogramm hat er von ihm persönlich bekommen. Aron ist ein großer Bayern-Fan. Wie sein Vater.“
„Und nun?“, frage ich, irgendwie an alle in diesem Raum gerichtet.
„Finn muss mir ein neues Autogramm besorgen. Aber der Neuer muss es mir selbst geben, sonst zählt es nicht.“
Martina seufzt, ich stöhne.
„Und warum hat der Aron zu dir gesagt, dass du ein blöder Schlappschwanz bist?“, frage ich jetzt Finn.
„Weil ich immer beim Boxen verliere.“
„Ihr boxt?“ Sofort schrillen in mir die Alarmglocken.
„Playstation“, sagt Aron.
Ich atme auf. „Und wieso hast du es nicht verhindert, dass Finn das Autogramm bemalt hat?“
„Weil ich gespielt hab.“
„Allein?“, frage ich.
„Natürlich allein. Mit ihm macht das ja keinen Spaß.“
Martina holt eine Tafel Schokolade aus der Schublade und schickt die Kinder aus der Küche.
„Wir haben ein Problem“, sagt sie.
„Ich habe ein Problem. Weil ich nicht weiß, wie ich den Neuer dazu bringen soll, deinem Sohn persönlich ein Autogramm zu übergeben“, sage ich halb im Scherz, halb im Ernst.
„Du nimmst das nicht wirklich ernst, oder? Du hast ja keine Vorstellung davon, was diese Karte für Aron bedeutet.“
Nein, habe ich nicht. Aber es ist mir auch Schnuppe. Soll er doch froh sein, dass er ständig gegen den kleinen Finn gewinnt. Aber nein, der große Aron muss ihn auch noch beleidigen. Das alles sage ich nicht. Stattdessen sage ich: „Ich kann mich nur für Finn entschuldigen.“
„Das macht es für Aron nicht besser.“
„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Eine Schokoladenfabrik ausrauben?“ Das hätte ich nicht sagen sollen, denn Martina dreht sich weg und bastelt weiter an ihren Fleischspießen. Ich schnipple, nein hacke, weiter Salat. Wir schweigen eine gute Stunde und beim Abendessen versuchen wir so zu tun, als hätte das Gespräch in der Küche nie stattgefunden.
Am nächsten Tag wandern wir mit den Kindern zu einer Alm. Finn ist von all den Kühen ganz angetan, obwohl es die bei uns im Norden ja auch gibt. Nur stehen die Kühe hier nicht hinter Zäunen und bimmeln mit ihren schweren Glocken, wenn sie umherziehen. Martina ist in der Almstube, um Buttermilch, Kaffee und belegte Brote zu kaufen. Ich sitze an einem der Tische draußen und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Die Jungs spielen direkt hinter mir auf der Wiese.
„Hast du Lust auf eine Mutprobe?“, höre ich Aron fragen.
„Mutprobe?“, fragt Finn.
„Das ist eine Aufgabe und wenn man die erfüllt, ist man ein Held.“
„Ja“, sagt Finn.
„Siehst du die Kuh mit den Hörnern und dem Ring in der Nase?“
„Was ist mit der?“
„Geh zu der hin und ziehe ganz kräftig an dem Ring“, sagt Aron.
Entsetzt springe ich auf: „Auf keinen Fall machst du das!“
„Aber, dann bin ich ein richtiger Held“ strahlt Finn.
„Du sollst nicht jeden Mist glauben, den Aron dir erzählt.“ Mein Puls ist auf 180, innerlich sehe ich ein Rindvieh meinen Sohn zertrampeln. Der kleine Psychopath steht mit verschränkten Armen vor mir und grinst.
„Was soll der Scheiß?“, frage ich ihn.
„Schlag mich doch, wenn du dich traust.“
Und genau das tue ich. Ich hole aus und pfeffere ihm eine.
Hinter mir klirrt Geschirr. Martina muss in diesem Moment herausgekommen sein. Sicherlich liegen da jetzt eine Menge Scherben auf dem Boden.
Ich drehe mich nicht um. Ich suche nicht Martinas Blick oder nach Worten, die um Verzeihung bitten. Ich sehe die Alpen, die Wiese, die Kühe mit ihren Glocken, ich höre den Bach plätschern, mein Sohn weicht drei Schritte von mir, Aron brüllt los.