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Wie ein Blatt im Wind

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08.07.2023
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Wie ein Blatt im Wind

Ihr Atem wird langsamer. Ein seichtes, pfeifendes Geräusch entweicht ihren alten Lungen.
Ich lausche, wage nicht, mich zu bewegen, während ich darüber nachdenke, wie viele Male eine
neunzigjährige Lunge den lebensnotwendigen Sauerstoff ein- und ausgeatmet hat.
Ihr Körper fühlt sich ungewöhnlich an. Fremd. Kantig. Eine Skulptur aus Stein gemeißelt.
Dennoch vernehme ich einen angenehmen Geruch. Seife. Ein leichter Duft. Kein schweres Parfüm.
Frische Laken. Eine Blumenwiese im Frühling. Helena muss sich sehr um dieses letzte Bett bemüht
haben.
Sie bemüht sich immerzu. Keine Last sei ihr zu schwer, wenn es um ihre Großmutter ginge, hat sie
gesagt. Die Großmutter ist ihr das Einzige. Wie lange noch?
Stille umgibt uns. Totenstille. Der Tod klopft nicht an die Tür. Nein. Er schleicht sich durchs offene
Fenster, heimlich, kriecht unbemerkt durch die Ritzen zwischen den Holzdielen.
Stille. Nur das kaum wahrnehmbare Pfeifen ist zu hören. Das Leben pfeift ein letztes Lied. Kein
Trauerspiel. Ein Lied über den Frieden und die Liebe. Ein Lied von der Sehnsucht und der
Erfüllung. Ihr letzter Wunsch. Er hat sich erfüllt. Meinetwegen? Durch Zufall? Durch die Fügung
des Schicksals?
Eine letzte Melodie, die dieser alten Dame den Weg geleitet.
Ein stolzes Segelschiff, längst außer Dienst gestellt. Die letzte Ehre auf ihrem letzten Weg. Die
Segel eingeholt und vertäut. Fest verzurrt in ihrem Heimathafen. Liebevoll instand gehalten.
Helenas Hände. Ihr unerschütterliches Gemüt.
Ich lausche der alten Dame neben mir, sehe aus dem Augenwinkel ihr weißes Haar. Weiß wie das
Bettzeug, indem wir beide eng beieinanderliegen. Rein und weiß. Wie ihre Seele. Meine nicht.
Ihr Atem wird flacher. Stakkato. Das seichte Pfeifen. Die Melodie des Todes.
Ja, ich bin bei dir. Zurückgekehrt. Ich halte dich, bis die Melodie verstummt. Bis zum Schluss.
Sie öffnet ihre müden Augen. Unsere Blicke treffen sich. Ich schenke ihr ein Lächeln.
Stumm sagt sie mir, dass sie nun geht. Sie sieht mich an. Ich sehe in ein Meer. Endlos. Uferlos.
Gefüllt mit Glück.
Leb wohl, sage ich ihr. Nur mit dem Blick. Leb wohl, antwortet sie mir. Ihre Augen schließen sich.
Es ist so weit. Das Atmen endet. Ihre Lungen stellen den jahrzehntelangen Dienst ein. Ihr Herz
schlägt ein letztes Mal und geht fort.
Ich halte ihre Hand. Pergamentpapier. Adern ohne Puls. Uhr ohne Zeiger. Der Tod ist gnädig,
gewährt diesen letzten Moment, bevor er die alte Dame mitnimmt. Ins Unbekannte.
Ihr letzter Atemzug, ihr letzter Blick.
Ihren Mann nimmt sie mit ins unbekannte Reich. Dankbarkeit.. Ruhe sanft, du mir fremde alte
Dame. Ruhe sanft.
Dr. Carlsson schaute kurz zu Helena. Er nickte. Freundlich. Mitleidig.
Vier Wochen, vielleicht fünf, kaum mehr, hatte seine Prognose bei seinem letzten Hausbesuch
gelautet. Er behielt Recht. Helenas Großmutter verstarb dreißig Tage nachdem sie dem Doktor im
Beisein ihrer schlafenden Großmutter die Frage gestellt hatte. Die Frage nach der Zeit. Der
Verbleibenden.
Er ließ Helena wissen, dass es spekulativ wäre, nicht vorhersehbar. Aber angesichts der Tatsache,
dass sie nun endlich durch diesen Deutschen ihren Frieden gefunden hätte, könnte es absehbar sein.
Es klang abwertend, und es gefiel Helena überhaupt nicht, dass sich Dr. Carlsson so über Oliver
äußerte.
… durch diesen Deutschen.
Und ihre Frage wurde durch die vage Aussage auch nicht beantwortet. Es hätte alles bedeuten
können. Sie mochte Dr. Carlsson. Eigentlich. Sie kannten sich seit Jahren. Aber das, was er sagte,
wirkte unhöflich auf Helena. Hier ging es nicht um Oliver, hier ging es um ihre geliebte
Großmutter. Um ihre Krankheit, ihr Wohl, ihre Zeit, die davoneilte.
Sie verlor sich für einen Moment in Erinnerungen an jene Zeit, als es angefangen hatte. Die ersten
Anzeichen der Krankheit kaum wahrnehmbar. Ein dunkelnder Himmel im Sommer. Keine
Vorwarnung auf ein nie enden wollendes Unwetter. Die Diagnose dann wie ein heranziehendes
Gewitter. Helena war gerade einmal vierzehn Jahre alt. Als Blitze am Himmel zuckten, das Grollen
des Donners darauffolgte, endete Helenas Kindheit.
Liebe überdauert alles. Ich bleibe für sie bei ihr, bis zum Schluss.
Helena war im südlichen Schweden aufgewachsen. In einem Heim. Die Eltern, verlorengegangen.
Irgendwann. Irgendwo. Ihre Oma holte sie aus der Unerträglichkeit des Heimlebens und nahm sie
zu sich.
Die Antworten auf Helenas Fragen, wieder und wieder, suchend nach der Wahrheit und dem
Verbleib von Vater und Mutter, blieb die Oma ihr schuldig. Sie verloren sich in Vergesslichkeit und
den Wirren einer Krankheit, die von Biografien lebt. Sie frisst Erinnerungen, diese Krankheit. Stück
für Stück. Bis nur noch ein Vakuum bleibt.
Es war zu spät. Niemand sonst, der ihr hätte helfen können. Die Fragen nach ihren Eltern blieben
unbeantwortet.
»Kind, du wirst den Verlust ihres Gedächtnisses nicht aufhalten können«, sagte Dr. Carlsson. »Du
kannst es ihr nur so erträglich wie möglich machen. Es tut mir leid.«
Der Arzt bemerkte sofort ihren Unmut, versuchte seine Aussage über den Neuling zu relativieren,
indem er sie auf väterliche Art in den Arm nahm.
»Er ist bestimmt ein netter Kerl, dieser Oliver«, so meinte er abschließend, »und manchmal sind
Gottes Wege unergründlich. Deine Großmutter hat so viele Jahre gewartet. Wenn es das war, was
sie am Leben hielt, dann ─«
Helena unterbrach ihn, bedankte sich für sein Erscheinen und nutzte die Situation, um sich aus
seiner Umarmung zu befreien.
»Wir telefonieren, und vielen Dank, Doktor.«
Am Tage der Trauerfeier fanden sich sieben Personen im Hause von Helenas Großmutter ein.
Sieben. Helena und mich mitgerechnet.
Eine gedämpfte Atmosphäre aus mitleidigen Blicken und Beileidsbekundungen lagen wie dichter
Nebel im Raum, in dem wir uns versammelt hatten, um der alten Dame die letzte Ehre zu erweisen.
Ich hasste Trauerfeiern. Die beklemmende Stimmung machte aus mir einen unbeweglichen
Statisten.
Ich fühlte mich wie Buster Keaton aus der alten Zeit der Stummfilme. Blass, still, traurig.
Trauerfeiern ließen meine Charaktereigenschaften einfrieren. Eiszeit.
Nur ein paar wenige Personen aus der Nachbarschaft hatten sich zu der kleinen Trauerfeier
eingefunden. Unter ihnen der Pfarrer und ein Großonkel aus Göteborg. Ein dicker Onkel, dessen
Anzug grotesk wirkte. Er musste ihn das letzte Mal zu seiner Konfirmation getragen haben. Ein
Pinguin, der zu platzen drohte. Natürlich traf man ihn in unmittelbarer Nähe des Tisches an, auf
dem Helena liebevoll kleine Häppchen drapiert hatte. Leichenschmaus. Liebevoll in Szene gesetzt.
Zu viel von allem. Es hätte für ganz Südschweden gereicht.
Wen erwartete sie noch? Oder kannte sie die Essgewohnheiten des Onkels aus Göteborg? Er war
Geschäftsmann. Immobilienmakler. Als er sich während der Trauerfeier dem Pfarrer gegenüber
äußerte, was dieses kleine Häuschen in Strandnähe wohl »bringen« könnte, warf Helena ihm einen
missbilligenden Blick zu. Er redete ungeniert weiter. Diskretion? Fehlanzeige! Er war dick, und er
war laut. Ein unsensibler, übergewichtiger Pinguin, der den Weg hierher nur auf sich genommen
hatte, um den Marktwert des Hauses zu analysieren. Helenas Haus. Der dicke Pinguin bemerkte den
Blick, räusperte sich und beendete die rhetorische Fragestunde, indem er sich dem Buffet zuwandte
und ein paar Häppchen in sich hineinstopfte.
Helena hingegen war großartig. Diszipliniert, gefasst. Ihre Selbstbeherrschung machte sie noch
attraktiver, als sie ohnehin schon war. Selbst in dieser Situation. Traurige Schönheit. Du.
Abends dann, die Trauergäste hatten sich verabschiedet, und ich wurde langsam wieder ich selbst,
kam Helena auf mich zu, wütend, ohne Selbstbeherrschung.
»Was bildet der sich ein?«
Sie drehte die Visitenkarte des Großonkels in ihrer Hand und legte sie mit einer verachtenden Geste
auf die Anrichte neben dem Sofa, auf dem ich saß.
»Wer ist dieser Kerl?«
Sie sah mich an und konnte das kurze Grinsen nicht verhindern, welches ihr für den Bruchteil einer
Sekunde über ihr hübsches Gesicht huschte.
Ich sah es, zwang mich, es nicht zu erwidern. Ihr war es bewusst. Sofort. Forensische Analytikerin.
Immer wunderschön. Selbst unter Trauer.
»Vielleicht ist er gar kein Onkel? Wie auch immer ... Er wird hier gar nichts kaufen oder verkaufen.
Zum Glück ist er fort.«
Helena sprach in einem Englisch, das mich bei jedem Wort dazu brachte, mich neu in sie zu
verlieben. Ihr schwedischer Akzent ließ Eisberge schmelzen. Schwedisch zu lernen, dauerte seine
Zeit. Ich war bemüht, aber wir unterhielten uns meist in der englischen Sprache.
Ich saß da und lauschte ihren Worten, während meine Blicke dieses wunderschöne Wesen
aufnahmen und im Gedächtnis konservierten. Helena.
Mein Blick löste sich nur schwer von ihr, wanderte für einen kurzen Moment zu der Anrichte. Die
Visitenkarte war von hier aus nicht zu sehen. Das Foto von mir schon. Ein Passbild. Voller Falten.
Zu lange war es schutzlos in meiner Hosentasche mitgereist.
Ich schloss die Augen. Sie redete, äußerte sich weiter abfällig über den Pinguin, aber ich hörte sie
nicht mehr. Mein Gedankenkarussell nahm Fahrt auf. Mit dem Foto in der Flasche hatte alles
begonnen. Ein Abschiedsbrief an irgendwen. Das Meer als Bote. Danke dafür.
Als ich die Flasche bei Aalborg in den Fjord warf, war ich längst schon tot. Helena, meine Rettung.
Schwedische Schönheit. Griechische ebenso. Eltern ─ dort bekannt. Tochter von Zeus und Leda.
Eltern hier? Unbekannt. Die alte Dame. Gelöschte Biografie. Ihr Gedächtnis von einem gefräßigen
Tier verspeist. Alzheimer. Ohne Erinnerungen. Außer die an ihren Mann. Bis zum Schluss.
Helena redete über den dicken Onkel. Ich war in Gedanken weit weg.
Es gibt keine Zufälle. Das hier sollte so sein. Danke, Gott. Du wolltest mich noch nicht. Nein. Du
hattest andere Pläne. Für mich. Für die alte Dame, die so viele Jahre hatte warten müssen, bis ihr
Liebster zurückkehrte. Niemand glaubte mehr daran. Nur sie. Wer kehrte schon nach über sechzig
Jahren aus dem großen Krieg zurück? Niemand.
Niemand außer mir.
Und wahrscheinlich wollte ich gar nicht sterben, auch wenn ich lebensmüde war. Ich war einsam.
So wie die alte Dame.
Ich öffnete die Augen. Helena. Griechische Göttin. Sie fragte, ob ich ihr zugehört hätte? Nein, nicht
wirklich. Entschuldigung. Der Tag war anstrengend. Für uns beide. Ich war müde.
Wir gingen gemeinsam zu Bett. Ich küsste ihre Stirn. Sie war wundervoll, hatte den schweren Tag
gut gemeistert. Ihre Augen sagten Danke. Ihr Kuss sagte, ich will dich. Sie bekam mich.
Leidenschaftlich. Ganz.
Anschließend lagen wir da. Still. Dicht aneinandergeschmiegt. Dieses Wort anschmiegen. Unser
erster gemeinsamer Abend. Der Spaziergang. Unsere Hände hatten sich gefunden. Unsere Herzen
auch. Unten am Strand.
Wir schliefen gemeinsam ein.
»Kind, woher hast du das Foto deines Großvaters?«
Die Frage war eine Verwirrung. In sich.
»Welches Foto? Großvater? Oma, es tut mir so leid, dich so zu sehen.«
Entrückt der Welt, in der sie lebte. Je mehr ihr die Krankheit Erinnerungen aus dem Gehirn fraß,
umso öfter redete sie von Hendrik. Ihrem Mann. Helenas Großvater. Verschollen seit dem zweiten
Weltkrieg. Irgendwo oben an der finnischen Grenze zu Russland. Schnee und Eis. Hunger und
Sehnsucht.
Es gab ihn für Helena nur aus Erzählungen. Keine Erinnerungen. Kein Foto.
»Kindchen, das ist doch mein Hendrik.«
»Es tut mir so leid, Oma. Ich wünschte, er wäre hier. Bei dir. Du musst ihn so sehr geliebt haben.«
Er stemmte sich vehement gegen das Vergessen. War allgegenwärtig. Helena vergaß sie an manchen
Tagen. Ihn nicht. Er hatte sich eingegraben. Ließ nicht zu, dass er verschwand. Er war bei ihr.
Welches Foto?
Heute war einer dieser Tage, an denen sie Helena vergessen hatte.
»Ich bin es Oma, Helena. Wir sind daheim. In unserem Haus in Schweden.«
Wo denn Schweden wäre?
»Oma … hier! Hier, wo wir leben. Schweden. Am Meer. Möchtest du hinunter ans Meer? Ich hole
dir den Rollstuhl.«
Sie wollte nicht. Sie kannte Helena nicht. Sie war in einem unbekannten Land. In einer Welt, die
immer kleiner wurde. Erinnerungen sollten bis zum Schluss bleiben. Erinnerungen machten das
Leben aus.
Sie starrte auf das Foto.
Dieses Foto?
Das mit den vielen Falten, die sich wie weiße Äderchen über das Gesicht des fremden Mannes
zogen. Dennoch war er gut zu erkennen auf diesem Passbild.
Das Foto.
Zusammen mit der Nachricht in der Flaschenpost. Bis nach Südschweden war die Flasche
geschwommen, allein auf hoher See, bevor sie sie eines Morgens fand. Ein Fremder. Aus
Deutschland. Attraktiv, aber so einsam. Und traurig. Eine Tragödie. Ein Hilferuf.
Nun stand dieses Bild mit den weißen Falten auf der Anrichte im Hause Hansen. Gleich neben dem
kleinen Zettel, der voller verzweifelter Worte gekritzelt war. Sie hatte sich die deutschen Zeilen
übersetzen lassen.
Es waren Worte voller Tränen. Mit zittriger Hand geschrieben.
Worte, die Helena nachts wachwerden ließen. Worte voller Verzweiflung und Sehnsucht.
Dann schlich sie hinunter zur Anrichte. Wie ein kleines neugieriges Kind vor Heiligabend. Barfuß.
Oma schlief. Schweden schlief. Nur das Meer war noch wach.
Las die Worte. Wieder. Und wieder.
Ich weiß nicht warum.
Ich weiß nicht wohin.
Ich möchte tot sein.
Ein letzter Gruß an die Welt.
Sie ist nicht mehr meine.
Ich bin müde.
Vergesst mich bitte nicht.
Auf der Rückseite ein Name. Sein Name. Und das Foto. Beides zusammengerollt, damit es durch
den schmalen Flaschenhals gepasst hatte. Verschlossen. Mit einem Korken.
Wochen hätte die Nachricht nicht überstanden. Das Salz des Meeres. Es hätte den Korken langsam
gefressen. So wie die Krankheit der Großmutter Erinnerungen fraß.
Wie lange war diese Flasche übers Meer geschwommen? Warum?
Lebte er noch? Der Deutsche? Oliver. Warum das Foto? Die unbeantworteten Fragen blieben bei
ihr. Schliefen mit ihr ein. Nacht für Nacht. Seit Tagen.
»Woher hast du das Foto von meinem Hendrik? Wird er heimkommen? Es ist doch schon spät.«
Starrte. Wie so oft in letzter Zeit. Auf die Anrichte.
Erinnerungen schwinden Stück für Stück.
Gedächtnis kommt nie mehr zurück.
»Dieses Foto hier, Oma? Das ist der fremde Mann, dessen Flaschenpost ich unten zwischen den
Steinen im Wasser gefunden habe.«
Nein. Er sei der Verschollene. Ganz sicher.
»Sehen sie sich ähnlich, Oma?«
Ähnlich? Wem denn ähnlich? Nein. Es sei ihr Hendrik. Ihr Liebster. Schon immer.
»Ach Oma. Ich mache dir einen Pfefferminztee. Den magst du doch.«
Sie antwortete, sie hätte noch nie einen Pfefferminztee getrunken.
Helena überlegte im Stillen: »Hat der einsame Deutsche wirklich solche Ähnlichkeit mit meinem
Großvater? Wenn dem so ist, dann weiß ich was. Einen Versuch.«
Ich sah nichts mehr. Tränen trübten jeden Blick. Um mich herum nur Leere. Die Schönheit der
Natur, des Fjordes. Es drang nicht zu mir durch. Die Zeit in Hamburg, im Gefängnis, sie hatte ihren
Preis. Einen hohen Preis.
Die falschen Freunde. Die falschen Entscheidungen. Mutter. Es brach ihr das Herz.
Ich holte aus, weit aus. Die Flasche segelte im Wind. Schrieb einen Bogen in den Himmel, bevor sie
ins Wasser fiel.
Ich dachte an mich als kleiner Junge, der seine Welt entdeckte und Steine in den Bach warf, der sich
hinter dem Anwesen der Eltern durch die Wiesen fraß.
Robinson Crusoe. Ohne Freitag. Die Spuren im Sand, meine eigenen.
Vater schimpfte jedes Mal, wenn ich mit dem Schmutz der Natur nach Hause kam. Unbeherrscht.
Dabei wollte ich ihm immer imponieren, gerecht werden. Ihm davon berichten, was ich entdeckt
hatte. Aber er wollte keinen Entdecker. Er wollte einen Thronfolger für sein Imperium. Es machte
mich jedes Mal traurig.
Ich hatte andere Pläne mit mir. Ich wollte seinen Platz nicht. Er zeterte und schrie. Immer öfter. Je
älter ich wurde. Er sprach von Enterben und Entzweien, während Mutter versuchte, der Konsequenz
die Stirn zu bieten. Vergeblich.
Ich hatte mein Elternhaus in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang verlassen. Im Alter von
neunzehn Jahren. Für immer.
Bis auf Vincent, unsere Dogge, schliefen alle im Haus, als ich mich auf Strümpfen, mit den
Schuhen in der einen Hand und der Reisetasche in der anderen, auf und davon machte.
Der Hund bemerkte mich, als ich die riesige Treppe unserer Altherrenvilla hinabging. Die sechste
Stufe verriet mich. Das Knarren der Treppendiele ließ unsere gute Seele hochschnellen.
Vincent tat sich schwer, wenn es darum ging, zu unterscheiden, ob jemand das Haus verließ, um
etwas zu erledigen oder um mit ihm Gassi zu gehen.
Er kam also auf mich zu, dieses mächtige schwarze sabbernde Etwas, in freudiger Erwartung, aber
ich enttäuschte ihn an diesem Morgen ebenso wie meine Eltern. Er verstand den Hintergrund
meines frühen Aufbruchs falsch und fing aufgeregt an zu bellen.
Und hierzu musste man unser Haus kennen. Der Eingangsbereich mit seinen beidseitigen
Treppenaufgängen hatte das Fassungsvermögen und die Dimensionen einer Konzerthalle, und
dementsprechend war auch die Akustik, als er zu bellen begann.
Das Gebell eines Hundes mit einem Gewicht von etwa sechzig Kilogramm wäre in einem normalen
Wohnhaus schon als laut einzustufen. Aber in diesem riesigen Foyer klang es wie eine Mischung
aus Gewitter, Donner und dem Start eines Flugzeuges. Ich verließ mein Elternhaus wie ein
Einbrecher auf der Flucht.
Das Letzte, was ich sah, bevor die gewaltige Eichentür hinter mir ins Schloss fiel, war der
ungläubige und treue Blick unserer Dogge. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich sowohl
Vincent als auch meine Eltern nie wiedersehen würde.
Sonst wäre ich nicht weggefahren an jenem Sonntagmorgen im Juni. Aber hätte, wäre, wenn und
aber sind eben nur theoretische Varianten im Quadrat. Im Konjunktiv. Die große Unbekannte.
Hinter dem Steuer meines alten Mercedes‘ fühlte ich mich frei, sobald sich unser Anwesen aus dem
Rückspiegel verlor. Was für ein Moment, was für Emotionen. Losgesagt. Gesprengt, die Ketten der
gesellschaftlichen Konventionen.
Aus dem Radio dröhnte Elvis, und ich stieg lautstark mit ein. I did it my way. Ich weinte. Vor
Freude über die neugewonnene Freiheit. Vor Schmerz über den Abschied, der kein richtiger
Abschied war. Vielleicht auch aus Angst.
Ich trieb hinaus in die Welt. Wie ein Blatt im Wind.
Irgendwann und irgendwie »landete« ich in Hamburg.
Diese Stadt wurde mein erstes Reiseziel. Unvorhersehbar. Ich verliebte mich sofort in sie. Eine
schöne Stadt. Sie wurde gleichzeitig mein vorerst letztes Ziel, bevor man mich wegsperrte.
Zwei Jahre Hamburg. Leben. Lieben. Mit Leib und Seele. Wild und unbändig.
Es mangelte mir an nichts. Weder an Geld noch an Frauen oder Partys.
Das Motto eines Rockstars: Sex, Drugs and Rock’n‘ Roll, welches ich während meiner Zeit in
dieser Stadt hingebungsvoll zelebrierte, forderte seinen Tribut.
Auf eine Zeit der Partys und des Überflusses in Freiheit, folgten Jahre der Entbehrung und des
Eingesperrtseins.
Urteil: Sechs Jahre.
In der gesamten Zeit meiner Gefangenschaft verließ ich das Gefängnis nur ein einziges Mal. Um
der Beerdigung meiner Eltern beizuwohnen. Sie starben bei einem Verkehrsunfall, den mein Vater
verschuldet hatte. Ein Bier zu viel. Ein Blick zu wenig. Eine Sekunde, die alles veränderte.
Sie nahmen Vincent mit. In den Tod. Einen Teil von mir ebenso.
Das Vakuum hält sich lange. Bis heute. Verzeih mir, Mutter.
Im Nachhinein gibt es über die Zeit in Hamburg nicht viel zu sagen.
Es gab Gründe und Hintergründe. Lug und Betrug.
Es war wild und schön, und irgendwann zu viel.
Aber niemand wird unschuldig oder durch einen Justizirrtum weggesperrt. Das kommt allenfalls so
oft vor wie Regen in der Sahara.
Im Gefängnis hörte ich oft den Satz: »Ein bisschen Knast hat noch niemandem geschadet.«
Welch ein Hohn.
Sechs Jahre. Zu viel. Für mich. Hart war ich nie. Labil schon. Empfindsam. Sensibel.
Nur ein kleiner Junge, der Entdecker werden wollte.
Was ich im Gefängnis entdeckte, brach mich.
Vater, vergib mir. Ich hätte dich gern stolz gemacht.
Du liebenswerter Schweinehund.
Und so stand ich nach sechs Jahren Gefangenschaft vor dem Nichts.
Meine Habseligkeiten, die mir die Vollzugsbeamten bei meiner Entlassung wiedergaben, bestanden
aus meiner Armbanduhr, etwas Geld, einem Passbild von mir und einem Bernstein, mein
Glücksbringer. Wohl kaputt.
Ich war vorbestraft, mittellos, perspektivlos. Müde und gebrochen.
Ebenso ich war enterbt. Das Geld aus dem Pflichtanteil ging für die Anwälte drauf.
Alles was mir blieb, waren mein Auto, das die Jahre der Einlagerung gut überstanden hatte und
unser Ferienhaus an der dänischen Westküste. Nordjütland. Ganz oben im Norden.
Dort zog es mich hin.
Zu den schönen Erinnerungen aus Kindertagen. Unbeschwerte Zeiten am Strand. Mit Vater und
Mutter. Eine Rarität.
Ich glaube, ich wollte dort oben einfach für mich sein. Und sterben.
Wie, war mir noch nicht klar, aber ich hatte genügend Alkohol und Schlaftabletten im Gepäck.
Und den Mut würde ich auch noch finden. Sicher.
Die Flasche nahm Kurs aufs offene Meer, während ich ihr hinterher sah. Der Rest meines Lebens.
Abgefüllt in eine Flasche. Leb wohl.
Irgendwann, in der Zeit danach, erreichte mich ein Telefonat.
Ich war betrunken. Abwesend. Lag irgendwo in dem Ferienhaus. Das Klingeln wirkte surreal. Laut.
Zu laut. Aber unwirklich. Ich konnte das Schreien des Telefons nicht zuordnen. Ich konnte nichts
zuordnen. Welcher Tag?
Irgendwann verstummte es. Und ich fiel wieder in Ohnmacht. Zwei Flaschen Wein. Fünfzehn Bier.
Oder zwanzig. Vielleicht auch nur zwölf.
Als es erneut klingelte, wurde ich wach. Wach in Form von: Irgendetwas klingelt.
Nach gefühlten zwanzig Minuten bimmelte es immer noch. Halb bewusstlos begann ich zu orten
und zu suchen. Ich entdeckte das Telefon. Es stand draußen im Eingangsflur. Da lag auch meine
Jeans. So wie der gesamte Rest meiner Kleidung. Ich kroch nackt in den Flur und griff nach dem
Hörer. Was für ein jämmerlicher Anblick.
Eine Frauenstimme. Sanft. Fremdartig. Englisch. Aber so ganz anders.
Ob mein Name Oliver wäre, und ob ich derjenige wäre, der die Flaschenpost ins Meer geworfen
hätte?
Was für eine Flaschenpost, wollte ich wissen, und woher sie diese Nummer hätte?
Sie sagte, ich wäre der neunte Versuch. Wieder erfolglos. Sie müsste unbedingt herausfinden, wer
dieser Mann auf dem Foto aus der Flasche wäre. Es wäre wichtig. Wegen ihrer Großmutter. Die
Zeit würde ihr davoneilen.
Ich musste an meinen Bernstein denken und an die vergangenen Tage. Tage in Nebel gehüllt.
Dröhnende Kopfschmerzen. Übelkeit. Durst. Aber ich ließ nicht zu, dass sie auflegte, ihre Stimme
klang seltsam. Schön. Ich war noch ziemlich betrunken.
Ja, ich wäre das gewesen, ließ ich sie wissen, und dass ich nicht wüsste, warum ich das getan hätte.
Ja, der auf dem Bild sei ich, und auch die Zeilen seien von mir. Es ginge mir nicht gut,
entschuldigte ich mich und fragte sie, wer sie sei?
Ihr Name sei Frau Helena Hansen, und ob es mir möglich wäre, zu ihr nach Schweden zu kommen?
Es wäre für sie von größter Wichtigkeit. Es gab noch wichtige Dinge auf diesem Planeten?
Ob ich sie zurückrufen könnte? So in einer Stunde?
Nachdem wir das Gespräch beendet hatten, ging ich zum Kühlschrank. Torkelnd. Immer noch
jämmerlich. Immer noch nackt.
Der Durst raubte mir die Sinne. Nein, keinen Alkohol. Mineralwasser.
Ich wurde in Schweden gebraucht. Was für ein Gefühl!
Nachdenken. Nicht so einfach. Nachsehen, ob das Telefonat wirklich stattgefunden hatte. Das
Display des Telefons beantwortete meine Frage. Ja. Unser Familienname war wohl noch im
Telefonnetz verzeichnet.
Ihre Stimme war noch da. In meinem Kopf.
Unter der Dusche. Nachdenken. Was wollte sie genau? Keine Ahnung.
Zurückrufen. In einer Stunde. Das war vor einer halben Stunde.
Anziehen. Ich muss mehr trinken. Der Vorrat an Mineralwasser im Haus war, verglichen mit dem
des Alkohols, verschwindend gering. Ich trank, sah auf die Uhr und wählte die Nummer in
Schweden.
Da war sie wieder. Diese Stimme. Der Akzent. Wir vereinbarten ein Treffen.
Ob ich etwas zu schreiben hätte, damit ich mir den Weg und die Adresse notieren könnte?
Ja, hätte ich. Und ja, ich würde mich auch freuen. Bis Morgen.
Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg nach Schweden. Die Route über Land dauerte etwa
sechs Stunden. Mit der Fähre wäre ich schneller, aber ich mochte niemandem begegnen und eine
Konversation führen schon gar nicht. Das ließe sich auf einer Autofähre kaum vermeiden.
Ich nahm also die lange Fahrt über Land in Kauf und fuhr quer durch Dänemark in Richtung
Hauptstadt. Kopenhagen. Weiter über die Öresundbrücke nach Malmö, und von dort war es noch
etwa eine Dreiviertelstunde Autofahrt nach Ystad.
Unterwegs dachte ich über das gestrige Telefonat nach. Frau Hansen. Helena. Ihre Stimme hatte
mich verzaubert. Gab es so etwas? Ich war nüchtern, dennoch drehte sich alles in meinem Kopf.
Nichts reimte sich. Nichts passte sich. Fragmente aus Vergangenem, Zukünftigem und Möglichem.
Ihre Großmutter litt. Sehr. An Alzheimer. Am Verlust ihres geliebten Mannes.
Und sie, Helena, die Enkelin, litt ebenso. Seit Jahren wohl schon.
Vier bis fünf Wochen Lebenserwartung, hätte der Arzt gemeint. Die Zeit liefe ihnen davon, sagte
die junge Frau mit der reizenden Stimme.
Es gab scheinbar Ähnlichkeit zwischen dem Verschollenen und mir. Sie wollte mich in Ystad
treffen. Später dann sollte es ein gemeinsames Treffen mit ihrer Großmutter geben. Nur ein
Versuch.
Wann genau, wüsste sie nicht. Ob ich ihr helfen würde, hatte sie gefragt. Wer half wem?
Bei diesen Gedanken machte sich Nervosität in mir breit.
»Nein«, sagte ich laut zu mir, »keinen Alkohol«.
Um mich abzulenken, versuchte ich in Gedanken den Weg meiner Flaschenpost zu rekonstruieren.
Auf einer imaginären Seekarte zeichnete ich den Weg. Sie trieb hinaus aufs Meer. Richtung Westen.
Die Strömung musste sie hoch nach Norden getrieben haben. Skagerrak. Nordsee, Ostsee, quer
durch das Labyrinth der dänischen Inselwelt – bis runter nach Südschweden. Gestrandet vor Ystad.
Meinem vorläufigen Reiseziel.
Ein Zimmer würde sie dort für mich reservieren. In einer Pension, wenn es mir Recht wäre.
»Ja, gerne«, hatte ich geantwortet.
Ich schaute in den Rückspiegel, erkannte mich kaum wieder. Ich war blass und hatte Gewicht
verloren.
Ein bisschen Knast hat noch niemandem geschadet.
Mir wurde übel bei dem Gedanken an diese Aussage. Ich hoffte, dass diese Worte eines Tages aus
meinen Erinnerungen verschwinden würden.
Gegen achtzehn Uhr erreichte ich den Parkplatz in Ystad. Unser ausgemachter Treffpunkt. Meine
Nervosität war mir bis hierher gefolgt. Ich stieg aus, streckte mich, sah mich um. Ich hatte ein Bild
von Helena vor Augen. Unbewusst. Das Gehirn baute es nach eigenen Vorstellungen. Passend zu
der Stimme. Englisch mit schwedischem Akzent.
Und dann sah ich sie. Kein Zweifel. Das Bild im Kopf passte zur Realität. Unglaublich. Sie kam auf
mich zu, und unsere Blicke trafen sich.
Ich hatte davon gehört. Genau wusste ich es aber nicht. In diesem Moment begriff ich es. Helena
auch. Es gibt sie. Liebe auf den ersten Blick.
Als sich unsere Hände berührten, war es, als würde ein Funkenregen aus Sternen vom Himmel
hinabfallen. Wir sahen uns an, unfähig zu sprechen. Sekunden wie Stunden. Zeitraffer. Sie und ich
im Epizentrum aus nie dagewesenen Gefühlen, die für einen Moment die Erde zwangen,
stillzustehen.
Viel zu lange hielten sich unsere Hände, viel zu lange sahen wir uns in die Augen. Viel zu lange
schwiegen wir.
Dann brachen wir das Schweigen gleichzeitig und mussten darüber lachen.
Ja, das war sie! Die Frau zu der Stimme. Helena Hansen.
Und ja, ich sei der Mann auf dem Foto. Oliver.
Sie wollte mir gerne den Platz zeigen, an dem sie die Flaschenpost gefunden hatte. Es wäre nicht
allzu weit weg. Aus diesem Grunde hätte sie diesen Treffpunkt vereinbart.
Wir gingen runter zum Strand, und sie erzählte mir nochmal in Ruhe von ihrer Großmutter, dem
Passfoto und der Krankheit, die Erinnerungen frisst und nie mehr hergibt. Vom Leid. Und von der
Hoffnung, die sie sich von unserem Treffen versprach.
Das Meer rauschte. Ein Segen. So hörte man mein Herz nicht schlagen.
Als wir zu derjenigen Stelle gelangten, blieb sie stehen und deutete mit dem Finger zum steinigen
Abschnitt, der hier flach ans Ufer lief.
Dort hätte sie meine Flasche gefunden. Sie schaute zu der Ecke zwischen den Steinen, ich schaute
zu ihr. Sie spürte es, drehte sich mir zu. Wir wussten es. Beide. Lächelten uns an.
Ein umgestürzter alter Baum diente uns als Sitzfläche, während sie redete.
Spürst du den eigenartigen Zauber, der uns umgibt?
Wir sagten es nicht. Zu früh. Viel zu früh.
Sie wolle alles wissen, sagte sie. Über mich.
Ich ließ nichts aus, verschwieg nichts. War offen und ehrlich. Ihre Augen zwangen mich dazu.
Wunderschöne grüne Augen. Ein schönes Gefühl.
Sie lauschte meinen Worten. Als ich fast alles von mir preisgegeben hatte, ließ die Wärme des
Tages nach, und der Himmel bereitete sich langsam auf die Nacht vor.
Ob sie sich an meine Schulter lehnen wolle, fragte ich sie
»Sie meinen ›Anschmiegen‹?«
Anschmiegen, ja, das meinte ich.
»Sehr gern«, antwortete sie.
Ihr Akzent. Magie.
Sie rutschte ein Stück zu mir heran und legte ihren Kopf an meine Schulter, während Blau zu
Schwarz wurde und der Abendhimmel die Sterne zum Leuchten brachte.
Der Himmel kann warten.
Irgendwann mussten wir gehen.
Die Pension würde sonst schließen, und ich müsste dann im Auto schlafen, sagte sie zu mir und
lächelte mich dabei auf wundervolle Weise an.
Ich hätte mehr als nur einmal im Auto geschlafen, ließ ich sie wissen, und dass ich das nie mehr
wolle.
Am darauffolgenden Tag traf ich vor dem Haus, in dem die junge Schwedin zusammen mit ihrer
Großmutter lebte, ein.
Es war ein schönes schneeweißes Haus. Klein zwar, aber wunderschön gelegen. Fünfzig Meter bis
zum Meer, mit einem aus Holzbohlen befestigten Weg hinunter zum Strand. Grüne Fensterläden aus
Holz rahmten die Fenster und ließen das Haus schon von außen gemütlich erscheinen.
Helenas Plan beinhaltete, dass die Eingangstür für mich offen wäre und ich um drei Uhr
unangemeldet das Haus betreten solle. Sie würde dann an der Seite ihrer Oma auf mich warten.
Ich war noch nervöser als tags zuvor und wusste nicht, wie ich das überstehen sollte.
Auch war ich mir nicht sicher, ob ich das alles wollte, als ich so vor dem Haus stand. Zu viele
Gedanken und offene Fragen hämmerten in meinem Kopf.
Ich ließ sie unbeantwortet kreisen und schaute auf die Uhr.
Doch, sagte eine innere Stimme, das willst du. Das hier musst du. Das hier soll so. Es gibt keinen
Zufall.
Ich hörte auf die Stimme, holte tief Luft und betrat das Haus. Helena entdeckte mich. Sie nickte mir
zu, sagte aber nichts. Ihre Großmutter sah mich noch nicht. Sie saß in einem großen Sessel, schien
abwesend.
Ich ging auf die alte Dame zu und kniete mich direkt vor sie, um ihre Aufmerksamkeit zu
bekommen.
Mein Magen drehte sich vor Aufregung. Ein fremdes Haus, eine fremde alte Dame. Fremde
Eindrücke. Alles war fremd. Die ganze Situation.
Helena stand dicht am Sessel neben ihrer Oma. Ein kurzer Blick hinauf zu ihr. Ein Lächeln, so
wunderschön. Erneutes Nicken. Stille.
Ich schaute wieder zu der Großmutter. Und dann eine Regung. Nun bemerkte mich die alte Dame.
Endlose Sekunden voller Anspannung.
Dann durchbrach ihre Stimme die erdrückende Stille.
»Hendrik?«, fragte sie außer sich. Wiederholte sofort den Namen des Mannes, dem ich so sehr
ähnelte.
»Hendrik? Hendrik! Oh Gott!«
Ihr Körper zitterte voller Verwunderung, Verzweiflung, unsagbarer Freude.
Sie begann zu weinen. Tränen, die ich so noch niemals gesehen hatte. Auch bei mir sah man
Tränen. Ebenso in Helenas schönen Augen. Emotionen, die es so niemals zuvor gab.
Ich wusste kaum, wie ich dem Ganzen begegnen sollte. Das gestrige Gespräch mit der Schwedin
über die Vorgehensweise bei diesem einen Versuch hatte hier geendet.
Ich antwortete der alten Dame. Ein Impuls. Ich ließ sie wissen, dass ich es sei. Ihr Mann.
Zurückgekehrt, nach mehr als sechzig Jahren.
Bittersüß mischte sich Betrug mit Barmherzigkeit.
Sie hatte keine Fragen, was mein Alter betraf. Sie weinte nur vor Glückseligkeit. Gefangen in ihren
Erinnerungen, die ihr geblieben waren.
Ich nahm ihre Hände in die meinen und hielt sie. Stundenlang.
Es gibt keinen Zufall. Aber es gibt eine Bestimmung. Eine höhere Macht. Wir wissen gar nichts.
Ich blieb. Der alten Dame zu Liebe. Helena zu Liebe. Aus Liebe. Zu ihr.
Als dann die alte Dame drei Tage später ging, war ich bei ihr, lag neben ihr im Sterbebett und hielt
sie in meinen Armen. Als ihr Mann. Hendrik. Der die Zeit und auch ihr Vergessen überdauert hatte.
So sollte es sein. Und so wollte es – irgendwer.
Bis zum Schluss.

 

Ich bin ehrlich, den Text habe ich nur grob bis zur Hälfte überflogen. Doch ich wollte mir dennoch nicht nehme lassen, dir einige konstruktive Beispiele aufzuzeigen.

Einfache Tipps und Tricks, wie du deinen Text lebendiger gestalten kannst.

  1. Ihr Atem wird langsamer. Ein seichtes, pfeifendes Geräusch entweicht ihren alten Lungen.
  • Verbesserung: Ihr Atem wird ruhiger, begleitet von einem sanften Pfeifen, das aus ihren gealterten Lungen strömt.
  1. Ich lausche, wage nicht, mich zu bewegen, während ich darüber nachdenke, wie viele Male eine neunzigjährige Lunge den lebensnotwendigen Sauerstoff ein- und ausgeatmet hat.
  • Verbesserung: Ich lausche gespannt, wage es nicht, mich zu bewegen, während ich darüber nachdenke, wie oft eine Lunge im Alter von neunzig Jahren den lebensnotwendigen Sauerstoff ein- und ausströmen musste.
  1. Ihr Körper fühlt sich ungewöhnlich an. Fremd. Kantig. Eine Skulptur aus Stein gemeißelt.
  • Verbesserung: Ihr Körper fühlt sich ungewohnt an, fremd, fast kantig wie eine aus Stein gemeißelte Skulptur.
  1. Sie bemüht sich immerzu. Keine Last sei ihr zu schwer, wenn es um ihre Großmutter ginge, hat sie gesagt. Die Großmutter ist ihr das Einzige. Wie lange noch?
  • Verbesserung: Sie ist stets bemüht. Keine Last ist ihr zu schwer, wenn es um ihre Großmutter geht, hat sie gesagt. Die Großmutter ist alles für sie. Wie lange wird das noch so sein?
  1. Stille umgibt uns. Totenstille. Der Tod klopft nicht an die Tür. Nein. Er schleicht sich durchs offene Fenster, heimlich, kriecht unbemerkt durch die Ritzen zwischen den Holzdielen.
  • Verbesserung: Eine bedrückende Stille umhüllt uns. Der Tod klopft nicht an die Tür, er schleicht sich leise durch das offene Fenster und kriecht unbemerkt durch die Ritzen zwischen den Holzdielen.
Diese Beispiele sollen den Text flüssiger und präziser machen, indem sie bestimmte Formulierungen klären oder verbessern.


Gruß


Deine Terrasse zum Meer

 

Hallo @Owi Olson

Ich bin eigentlich nicht so der Typ für Romantik (zumindest in der Literatur, höhö), aber versuche trotzdem mal ein paar Dinge zu deiner Geschichte zu sagen. Als erstes vielleicht der Hinweis, dass dein Text auf einem mobilen Gerät, bspw. Handy, extrem zerrissen aussieht, also da stimmt irgendwas mit den Zeilenumbrüchen nicht ... Das ist fast unlesbar. Am Laptop sieht's aber gut aus. Ich denke, Du hast da manuell einige Umbrüche gesetzt, damit's am PC besser aussieht? Würde das mal kontrollieren, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wieviele Leute hier per Mobile zugreifen. Das nur als kleiner Hinweis vorneweg.

Zum Text an sich:

Der Anfang ist mir etwas zu lang, die Situation der sterbenden Grossmutter zu breitgetreten. Ich finde, da könntest Du einiges rauskürzen, um bisschen schneller und direkter in die Geschichte einzusteigen. Ich habe mich leider etwas beim Skippen erwischt und dann war dadurch auch etwas die Lust weg, den restlichen Text noch zu lesen. Hier mal ein paar Kürzungsvorschläge:

Ihr Atem wird langsamer. Ein seichtes, pfeifendes Geräusch entweicht ihren alten Lungen.
Ich lausche, wage nicht, mich zu bewegen, während ich [denke] darüber nachdenke, wie viele Male eine neunzigjährige Lunge den lebensnotwendigen Sauerstoff ein- und ausgeatmet hat.
Ihr Körper fühlt sich ungewöhnlich an. Fremd. Kantig. Eine Skulptur aus Stein gemeißelt.
Dennoch vernehme ich einen angenehmen Geruch. Seife. Ein leichter Duft.[KOMMA] kein schweres Parfüm.
Frische Laken. Eine Blumenwiese im Frühling. Helena muss sich sehr um dieses letzte Bett bemüht
haben.
Sie bemüht sich immerzu. Keine Last sei ihr zu schwer, wenn es um ihre Großmutter ginge, hat sie
gesagt. Die Großmutter ist ihr das Einzige. Wie lange noch?
Stille umgibt uns. Totenstille. Der Tod klopft nicht an die Tür. Nein. Er schleicht sich durchs offene
Fenster, heimlich, kriecht unbemerkt durch die Ritzen zwischen den [der] Holzdielen.
Stille. Nur das kaum wahrnehmbare Pfeifen ist zu hören. Das Leben pfeift ein letztes Lied. Kein
Trauerspiel. Ein Lied über den Frieden und die Liebe. Ein Lied von der Sehnsucht und der
Erfüllung. Ihr letzter Wunsch. Er hat sich erfüllt. Meinetwegen? Durch Zufall? Durch die Fügung
des Schicksals?

Eine letzte Melodie, die dieser alten Dame den Weg geleitet.
Ein stolzes Segelschiff, längst außer Dienst gestellt. Die letzte Ehre auf ihrem letzten Weg. Die
Segel eingeholt und vertäut. Fest verzurrt in ihrem Heimathafen. Liebevoll instand gehalten.
Helenas Hände. Ihr unerschütterliches Gemüt.
Ich lausche der alten Dame neben mir, sehe a
[A]us dem Augenwinkel [sehe ich] ihr weißes Haar. Weiß wie das Bettzeug, indem wir beide eng beieinanderliegen. Rein und weiß. Wie ihre Seele. Meine nicht.
Ihr Atem wird flacher. Stakkato. Das seichte Pfeifen. Die Melodie des Todes.
Ja, ich bin bei dir. Zurückgekehrt. Ich halte dich, bis die Melodie verstummt. Bis zum Schluss.
Sie öffnet ihre müden Augen. Unsere Blicke treffen sich. Ich schenke ihr ein Lächeln.
Stumm sagt sie mir, dass sie nun geht. Sie sieht mich an. Ich sehe in ein Meer. Endlos. Uferlos.
Gefüllt mit Glück.
Leb wohl, sage ich ihr. Nur mit dem Blick. Leb wohl, antwortet sie mir. Ihre Augen schließen sich.
Es ist so weit. Das Atmen endet. Ihre [Die] Lungen stellen den jahrzehntelangen Dienst ein. Ihr Herz
schlägt ein letztes Mal und geht fort.
Ich halte ihre Hand. Pergamentpapier. Adern ohne Puls. Uhr ohne Zeiger. Der Tod ist gnädig,
gewährt diesen letzten Moment, bevor er die alte Dame mitnimmt. Ins Unbekannte
.
Ihr letzter Atemzug, ihr letzter Blick.
Ihren Mann nimmt sie mit ins unbekannte Reich. Dankbarkeit..
Ruhe sanft, du mir fremde alte Dame. Ruhe sanft.
Also ich finde das gar nicht mal so schlecht geschrieben, es ist nur sehr umständlich, zumindest für meine Lesart. Ich würde da ordentlich reduzieren, damit man besser in den Text kommt. Die ganze Sinnlichkeit dieser Sterbeszene ist mir bisschen too much, zu bemüht auch, teilweise sind die Formulierungen etwas abgegriffen oder zu naheliegend. Also ich denke, es würde helfen, da einiges rauszunehmen, dann wirkt das auch besser, weil so verliert sich die Szene ziemlich in diesen Beschreibungen. Kannst es ja mal ausprobieren. Bei meinen Kürzungsvorschlägen habe ich versucht, möglichst nah an deinem Text und seiner intendierten Wirkung zu bleiben, vielleicht hilft es Dir ja was.

Ich habe jetzt auch nicht den gesamten Text gelesen, sondern nur den hier von mir zitierten Anfang, aber ich sehe durchaus Potential, wenn Du da bisschen nachschärfst und eben vor allem unnötige Dinge rausnimmst. Ich würde demnach meiner Vorkommentatorin bisschen widersprechen wollen, weil durch ihre Vorschläge der Text noch umständlicher und ausschweifender würde, so habe ich zumindest das Gefühl (also no offense, wir sind ja hier, um unsere Eindrücke zu posten und die können sich halt manchmal von LeserIn zu LeserIn unterscheiden).

An ein paar Ausdrücken oder Formulierungen habe ich mich zusätzlich bisschen gestossen:

Ihr Körper fühlt sich ungewöhnlich an. Fremd. Kantig. Eine Skulptur aus Stein gemeißelt.
Das habe ich nicht verstanden. Wieso wirkt ihr Körper wie aus Stein gemeisselt? Ist sie verkrampft? Das wird später nicht mehr aufgegriffen, es hat mich an der Stelle irritiert, ein Körper, egal wie alt, ist doch immer auch weich, oder nicht? Die Haut kann kalt wie Stein sein, aber ein Körper nicht versteinert (regungslos ja, aber es geht hier doch um die Berührung). Oder streicht er da über den Beckenknochen oder so, der halt stark heraussteht, weil sie so abgemagert ist? Würde ich aber dann präzisieren.

sehe aus dem Augenwinkel ihr weißes Haar. Weiß wie das Bettzeug
Hier finde ich den Vergleich an sich gar nicht schlecht, jedenfalls besser als so abgenudelte Begriffe wie schneeweiss oder schlohweiss, das ist imo also schon der richtige Weg.

das Bettzeug, indem wir beide eng beieinanderliegen
'indem' passt nicht so recht, oder ist er da mit der Sterbenden ins Bettzeug verschlungen? Ansonsten 'auf dem wir beide eng beieinanderliegen' oder sowas.

Ich halte ihre Hand. Pergamentpapier. Adern ohne Puls. Uhr ohne Zeiger.
Hier bin ich über 'Uhr ohne Zeiger' gestolpert. Alles vorher bezieht sich auf den Körper der Toten, aber das ist dann eher sowas in Richtung von ihre Zeit ist abgelaufen, das hat nichts mehr Körperliches, weshalb es für mich nicht reinpasst. Weil die Frau ist ja keine Uhr, deren Zeiger jetzt plötzlich fehlen oder die stehengeblieben sind. Ich würde das also anders formulieren. Hoffe, Du verstehst, was ich damit meine.

Ach ja: Der Titel erscheint mir sehr generisch, abgegriffen auch. Vielleicht findest Du da noch was Besseres? :)

Soviel von mir zum Anfang.

Grüsse,
d-m

 

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