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Opfer
Wer entscheidet über Leben oder Tod? Gibt es einen Gott, eine Göttin, irgendein höheres Wesen, das verantwortlich gemacht werden kann? Das Schuld daran ist, wer lebt und wie er lebt? Was ihm passiert oder eben nicht? Ich weiß es nicht. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich es überhaupt wissen möchte. Allerdings hätte ich da ein oder zwei Fragen an ihn. Sie. Es.
Der rote Strich läuft an meinem Arm entlang, rinnt zu Boden, wird zu einer sich rasch vergrößernden Lache. Ich beobachte die dicken Tropfen, die mich Stück für Stück in die Wirklichkeit zurückholen, die mich aufatmen lassen. Der Schmerz nimmt mir die Angst und dankbar empfange ich seinen Trost.
Manchmal denke ich, ich werde verrückt. Vielleicht bin ich es schon.
Ich weiß, mein Leben ist nicht mehr mein Leben. Wurde mir aus der Hand genommen und in den Dreck geworfen. Ich überlebe mühsam jeden Tag nur grade so und meine Angst vor der Nacht, vor der Dunkelheit, lähmt mich schon am Morgen. Raubt mir den Atem. Lässt mich verzweifeln. Tötet mich, Stück für Stück.
Während sich mein Blut auf dem Boden sammelt, erinnere ich mich. Wie immer, bevor mich der Schmerz daraus erlöst. Es war ein Donnerstag, Mitte Januar.
Ich war zu einem Lehrgang angemeldet, bei der Abfahrt schon spät dran gewesen, hatte immerhin noch über vier Stunden Autobahnfahrt vor mir. Ich war in Gedanken schon bei den Themen der nächsten Tage. Zwei Bekannte von früheren Lehrgängen waren auch angemeldet und ich freute mich, sie wieder zu sehen.
Kurz vor Pforzheim spürte ich einen Druck auf der Blase und ich sah auf die Uhr. Fast 19 Uhr. Bis Karlsruhe war's bestimmt noch eine Stunde Fahrt. Kurzentschlossen setzte ich den Blinker und rollte auf den nächsten Parkplatz mit Toilette. Zwei, drei Autos parkten dort bereits, auch LKWs. Ich beachtete sie nicht weiter, und ging zügig zum Häuschen. Die Toilette war leidlich sauber und ich beeilte mich. Draußen war es kalt, aber ich mochte den Winter immer. Mit raschen Schritten ging ich zu meinem Auto. Ich suchte gerade nach dem Schlüssel, als aus dem Dämmerlicht plötzlich drei Kerle auftauchten. Noch bevor ich sie richtig erkennen konnte, packte mich einer rechts, einer links und der dritte hielt mir von hinten den Mund zu. Seine Hand stank nach Zigaretten.
„Wenn du Theater machst, Süße, bring ich dich um!“ Theater? Ich war viel zu erschrocken, um überhaupt reagieren zu können. Die zischende Stimme dröhnte in meinen Ohren. Sie zerrten mich in die Finsternis außerhalb des schmalen Lichtbandes des Klohäuschens zu einem Laster, der nicht mal weit weg stand.
Der Laster war dunkel, dunkelrot? Irgendetwas stand auf dem Auflieger, aber was, konnte ich in meinem Entsetzen nicht entziffern. Der rechts von mir hantierte an der hinteren Tür des Aufliegers und ich nützte die Gelegenheit, um mich erstmals zur Wehr zu setzen. Ich versuchte es zumindest. Drehte mich weg, riss an meinen Armen, trat nach hinten. Da rein? Niemals!
Der Typ hinter mir, dessen Hand ich immer noch widerwärtig auf meinem Mund spürte, packte mich in den Haaren und zerrte meinen Kopf brutal in den Nacken. Der andere trat mir gegen die Beine, so, dass ich stürzte, dann kam der dritte und gemeinsam warfen sie mich in den Anhänger.
Ich schrie, laut, so laut ich konnte. Hilfe? Ihr Schweine? Ich weiß es nicht mehr. Im Nu war einer neben mir, kniete sich auf mich und schlug mir ins Gesicht. Mein Kopf flog zur Seite, krachte auf den Boden und ich sah Sterne. „Halt dein Maul!“ Es war dieselbe Stimme wie vorher. Ich hörte ein Geräusch und ein Lachen, dann drückte mir einer Paketband über die Lippen. Ich versuchte wieder zu schreien, aber nur eigenartige Geräusche kamen aus meinem Hals.
Mittlerweile war die Tür wieder zu, abgeschlossen, und ich sah mich den dreien gegenüber. Auf dem Rücken rutschte ich nach hinten. Als ich gegen eine Wand stieß, fingen die drei an zu lachen und kamen näher. Im Licht der funzeligen Leuchten im Inneren musterte ich sie. Drei ganz normale Männer, einer etwas jünger als ich vielleicht, die anderen beiden älter. Einer mit Schnurrbart. Einer in Blond, mit Bauch.
Ich blickte mich um, gab es hier irgendwo einen Ausgang? Einen Ausweg? Wie konnte ich nur aus diesem Albtraum entkommen?
Nun, es gab kein Entkommen für mich. Das Blut, das aus meinem Körper fließt, gönnt mir heute ein Entkommen. Der Schmerz, der mich neu gestaltet. Der mich wieder aus mir herausführt. Oder in mich hinein. Ich kann es nicht sagen. Habe so wenig Verbindung zu mir. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich in einer eigenen Welt, von den Anderen durch eine Wand getrennt. Von mir selbst getrennt. Ich fühle mich ... schuldig. Schäme mich. Ich hätte härter kämpfen sollen. Auch wenn meine Therapeutin sagt, dass es nicht gegangen wäre, dass es nichts geändert hätte. Vielleicht hätte ich in dem Moment, in dem ich am Boden lag und keine Kraft mehr hatte, um überhaupt schreien zu können, mich verweigern sollen, als sie mit brennenden Zigaretten über meiner nackten Haut knieten und fragten, ob es mir gefiel. Ich sagte ja. Ich sagte: ja! Ich hätte es geschrien, wenn ich es hätte können. Ja, weil ich dachte, sie bringen mich um. Ja, weil ich leben wollte. Ja, weil ich mich fragte, warum lebe ich noch? Heute wünschte ich mir, sie hätten es geschafft. Sie hätten es zu Ende gebracht, was sie so hoffnungsvoll begannen. Wünschte, sie hätten meinen Körper genauso getötet, wie meine Seele.
Ich wünsche mir oft, ich wäre tot.
In jeder Nacht, in der mich das Ungeheuerliche einholt, in der ich wach bin und doch träume, in der ich mich wiederfinde in diesem verdammten Laster. Nackt an Wände gefesselt. Voller Ekel und Entsetzen gegen mich selbst. Was habe ich getan, dass ich hier zum Opfer wurde? Was habe ich diesen Kerlen getan, dass sie mich - oder überhaupt eine Frau - derartig misshandeln?
Ich lag am Boden, konnte noch nicht mal mehr wimmern, als mich einer anstieß, mit der Schuhspitze.
„Geh!“, sagte er, „Geh!“
Gehen konnte ich nicht mehr, aber kriechen. Ich kroch zu meinen Sachen. Klaubte alles zusammen, kroch zur Tür, die er mir aufgemacht hatte.
„Bis zum nächsten Mal, Süße!“, johlten die anderen mir hinterher. Ich glaube, er, der Jüngste, der, der mich gehen ließ, warf mir einen mitleidigen Blick zu, als ich nach draußen auf den Boden fiel. Tränen hatte ich keine mehr. Ich hatte gar nichts mehr.
Irgendwie rappelte ich mich auf. Taumelte zu meinem Auto. Verlor einen Teil meiner Kleidung dabei, als ich mich in meiner Jacke verkroch. Ich fand meinen Autoschlüssel. Schloss auf. Stieg ein. Ich konnte nur denken: Weg hier, weg hier!
Heute kann ich es immer noch nicht glauben, aber scheinbar fuhr ich wie in Trance nach Karlsruhe. Parkte dort auf dem Parkplatz. Und blieb im Auto sitzen. Als man mich fand, war es nach Mitternacht. Um sieben war ich auf der Toilette gewesen.
Die Frau, die heute auf meinen Namen hört, ist nicht mehr die, die ihn davor getragen hat. Die ist tot. Gestorben unter den Händen, den Schwänzen, den Stiefeln und den Schlägen dreier Männer, an einem Donnerstag Abend im Januar. Und ich wünschte, ich wäre es auch.
Jeder Tag ist eine Anstrengung. Manchmal glaube ich, jeder neue Tag ist schrecklicher wie der zuvor. Aber es gibt auch Tage, an denen ich wieder gerne lebe. Leben will. Vielleicht werden sie einmal häufiger sein, wie die schwarzen, an denen nur mein Blut mich in die Welt zurückholen kann. Wenn ich mich gleich verbinde, nachdem ich dieses Tagebuch geschlossen habe, dann bin ich fast froh. Ich habe es geschafft, ich bin raus aus dem Laster. Meine Narben gehören nun zu mir. Ob ich will oder nicht.