Was ist neu

Terminus

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08.07.2012
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Anmerkungen zum Text

9.4.24, Korrektur I, Tippfehler, Wortwiederholungen, umständliche Formulieren korrigiert
12.4.24, Korrektur II, Tippfehler, Satzzeichen, Wortdreher korrigiert

Terminus

Im Westen glühte der Smog über der Stadt. Schwarz glänzten die Türme der mittleren Bezirke im letzten Licht des Tages. Ausflugsschiffe, Gleiter und Frachter zogen hoch über der Skyline dahin.
Abri Sanara steckte sich eine Zigarette an. Sie stand vor Eric’s Diner, rauchte und schaute nach oben in den dunkelnden Dunst. Das bläuliche Licht eines asiatischen Hologrammgirls, das Sanara mit seinen schmalen Händen zu berühren schien, lag auf ihrem Gesicht.
»Du siehst müde aus«, sagte das Hologirl. Ein feines Echo sirrte in ihrer Stimme. »Komm ins Thai Ming. Wir kümmern uns um dich.«
Sanara beachtete die Projektion nicht.
»Luxus, Lust, Entspannung«, sagte das Hologirl und streckte Sanara ihre kaum bedeckten, absolut symmetrisch geformten Brüste entgegen. »Du wirst alle Sorgen vergessen.«
Sanara warf die Zigarette weg, spuckte durch das Hologramm und wandte sich ab. Sie betrat den Diner, ging an einer Reihe von Tischen entlang und setzte sich auf einen Platz am Fenster. Sie winkte dem Mann hinter dem Tresen. »Hey, Eric!«
Eric nickte und verschwand in der Küche. Im Diner war nicht viel Betrieb. In der Nähe der Tür saßen ein paar Arbeiter von den Docks, im hinteren Teil lungerten zwei Punk-Kids herum, vielleicht Späher einer Gang, die die Mainstreet im Auge behalten sollten.
»Hey, Ab!«, sagte Eric, als er an den Tisch trat. Er stellte eine Büchse Black Polecat und ein Tablett mit Fritten und Burgern vor Sanara ab. »Siehst blass aus.«
Sanara griff nach dem Bier, öffnete die Büchse und trank einen Schluck.
»Wie läuft’s mit der Jobsuche?«, sagte Eric und setzte sich auf den Platz gegenüber.
Sanara zog das Tablett mit den Fritten heran und begann zu essen. »Hab was in Aussicht«, sagte sie.
»Gut. Das ist gut.« Eric lächelte kurz, rieb sich die Stirn. »Hoffentlich nicht unten bei den Docks«, fügte er hinzu.
Sanara biss in einen der beiden Burger, kaute und schüttelte den Kopf. »Nee. Ich geh heute rüber zu Dusty. Hat was für mich, sagt er.«
»Dusty is ein Scheißkerl.«
»Kann sein. Aber er hat mich ab und zu den Laden putzen lassen.«
Eric lehnte sich vor. »Im Staxx geht ne Menge Scheiße ab. Besser, du reißt was am Markt auf. Die Chinesen brauchen immer Leute, die im Lager helfen.«
»Hm«, machte Sanara, kaute und sagte: »Kann mich da im Moment nicht sehen lassen.«
»Warum nicht?«
Sie winkte ab, räusperte sich, wies mit dem Kinn auf das Hologirl, das draußen vor dem Fenster mit einem Passanten sprach. »Die Holoschlampe geht mir auf den Sack. Wie viel zahlt dir das Thai Ming dafür?«
Eric zuckte die Schultern. »Nicht viel, aber jeder Dollar zählt.« Er deutete mit dem Daumen auf die Arbeiter an den Tischen hinter ihnen. »Kennst meine Kundschaft. Denkst du, die halten den Laden am Laufen?«
Als Sanara den Diner verließ, regnete es. Sie zog die Kapuze hoch und ging die Mainstreet hinunter bis zum Temple Square, wo nachts Hundekämpfe stattfanden, und dann weiter in die engen, stets belebten Gassen des Lower East End mit seinen Nudelküchen und Massagesalons. Zwischen den abgerissenen Figuren, den Pennern und Punks, den Nutten und den Dealern lief Sanara durch die anbrechende Nacht. Ihre schlanke Gestalt warf einen langen Schatten auf das feuchte Straßenpflaster.


Sie betrat das Staxx. Am Billardtisch kreidete ein hagerer Mann sein Queue, nickte ihr zu. Sie ging durch den Raum. »Hey, Dusty!«, sagte sie.
»Tach, Ab!«, erwiderte er.
»Ganz schön was los hier.« Sanara schaute sich um. Männer der Clans saßen an den Tischen, derbe Typen, wortkarg und mürrisch. Ein paar Chinesen spielten Mahjong und an den verzinkten Tresen gelehnt, standen fünf, sechs Tec-Freaks und starrten mit ihren synthetischen Augen finster in die Runde.
»Yep. Läuft so«, sagte Dusty, legte die Kreide beiseite, beugte sich über den Tisch und setzte zum Stoß an.
»Also, du hast was für mich«, sagte Sanara.
»Möglich.« Das Queue schnellte vor, die Kugel schoss über das Grün und knallte gegen eine andere. »Hab unten etwas erweitert und biete einen neuen Service an.«
»Du meinst, im Keller?«
Dusty nickte und ging um den Tisch. »Is das neuste Ding. Ne kleine Show.«
»Aha«, sagte Sanara und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt, wenn’s um Sex geht, bin ich raus.«
»Schon klar«, sagte er und zielte mit dem Stock in eine Ecke. »Hat damit nix zu tun. Jedenfalls nicht direkt.«
»Spuck’s schon aus, Dusty!«
Dusty machte seinen Stoß und richtete sich auf. Er legte das Queue auf den Tisch. »Besser, ich zeig es dir. Komm!«


Der Raum war kaum zehn Quadratmeter groß. Ledergepolsterte Wände, Kameralinsen und Sensoren in jeder Ecke, der Boden aus rutschfestem Polytextan. »Is das neuste Ding«, sagt Dusty noch einmal. »Kann man viel Qián mit machen im Moment.« Eine Holoprojektion erschien grünlich schimmernd in der Mitte des Raumes. Sie zeigte zwei Männer in erstarrter Pose, die sich mit erhobenen Händen gegenüberstanden.
»Is ne Aufzeichnung von gestern«, sagte Dusty. »Der Typ da rechts trägt ein Neuroimplantat. Ich lass mal laufen.«
Einer der beiden Männer packte den anderen und schleuderte ihn in eine Ecke des Raumes. Er schlug ein paar Mal zu. Schreie waren zu hören. Dusty stoppte die Aufzeichnung.
»Is alles halb so wild«, sagte er. »Viel Getue dabei.«
»Versteh ich nicht«, sagte Sanara. »Was soll daran neu sein?«
Dusty lächelte. »Neu daran is, dass sich ein User in das Neuroimplantat einloggen kann.«
»Und?«
»Verstehst du nicht? Der User sitzt zu Haus, entweder vor dem Display oder in der Holo-Sphere. Er bedient eine Konsole, steuert die Action. Lässt ein bisschen Dampf ab.«
»Er verprügelt den anderen Typen?«
»Genau.«
»Und da komme ich ins Spiel.«
Dusty hob die Hände. »Is nur ein Angebot. Gutes Geld.«
»Bist echt ein Scheißkerl, Dusty!«
»Wie gesagt, das meiste is nur Show. Wirst ein bisschen rumgeschubst. Klar, kassierst ein paar Schläge. Aber es sind hundert Dollar für dich drin in zwanzig Minuten.«
»Fick dich!«, sagte Sanara, drehte sich um und verließ den Raum.
»Du bist nichts Besonderes, Abri!«, rief Dusty ihr hinterher. »Nutz die Chance! Is vielleicht die letzte.«


Sanara ließ die Tür der Bar hinter sich zuknallen. »Wichser!«, stieß sie hervor. Noch immer ging Regen in grauen Schleiern auf den heruntergekommenen District nieder. Sanara marschierte die Straße hinunter, weiter hinein ins Lower East End-Viertel. Als sie den Wohnblock erreichte, in dem ihr Appartement lag, meldete sich Eric. Sanara zog den Kommunikator aus der Jackentasche.
»Bei dir alles okay?«, fragte Eric. Die Züge seines Gesichts leuchteten bernsteinfarben über dem Gerät.
»Ja, wieso?«
»Hat ne Schießerei gegeben in der Nähe vom Franklin Park.«
»Hab ich nicht mitgekriegt.«
»Okay, gut. Und wie lief es bei Dusty?«
»Hattest recht«, sagte Sanara. »Der Typ is ein Stück Scheiße.«
»Was wollte er denn?«
»Nicht so wichtig. Ich hau mich jetzt erst mal hin. Muss den Kopf freikriegen.«
»Okay. Bis dann, Ab.«
Sanara schlug mit der flachen Hand gegen den Kontakt des Türöffners. »Bitte ID-Scan«, sagte eine elektronische Stimme. Sanara trat vor die Linse, der grünliche Scanstrahl tastete über ihr Gesicht, die Tür sprang mit einem Summen auf.
»Entschuldigung, Miss!«
Sanara drehte sich um. Ein paar Schritte vom Haus entfernt stand ein gut gekleideter Mann mittleren Alters, sehr groß, die Hände in den Manteltaschen. »Ich würde Sie gern einen Augenblick sprechen«, sagte er lächelnd.
Sanara wandte sich ab. »Verpiss dich!«
»Mein Name ist Carney«, rief der Fremde ihr hinter. »John Carney.«
»Verpiss dich, John Carney!«, sagte sie und schlug die Tür hinter sich zu.


Am nächsten Morgen setzte das erste Licht den Dunst im Osten über der Stadt in Brand. Sanara trat auf die schmale Terrasse ihres Appartements im elften Stock. Eine Zigarette zwischen den Lippen stand sie, nur mit Slip und ausgeblichenem T-Shirt bekleidet, in der Kühle des neuen Tages und schaute in die Richtung der Zentralbezirke. Die schlanken Rümpfe der Jets und Gleiter, die dort über den gewaltigen Konstruktionen der Innenstadt schwebten, glitzerten in der Sonne.
Nach dem Frühstück rief sie Eric an.
»Wie geht’s dir?«, fragte er.
Sanara schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Manchmal ist alles so …« Sie schwieg.
»Hey, lass dich nicht hängen, Ab. Beiß dich durch! Hast du doch bis jetzt immer geschafft.«
»Schon, aber …«
Sie hielt inne. Ein Frachter, der zum Sinkflug angesetzt hatte und auf den Zollhafen zusteuerte, dröhnte über dem Wohnblock. Die Scheiben in den Fenstern klirrten.
»Ich versuch es heute doch mal bei den Chinesen«, fuhr sie fort, nachdem sich das Cargoschiff entfernt hatte. »Darf bloß Eddie nicht über den Weg laufen.«
»Eddie Chow? Wieso?«
»Hab grad ein bisschen Stress mit dem.«
»Ach ja? Warum denn?«
»Egal, Eric. Wir sehen uns heute Abend.«
»Pass auf dich auf, Ab!«
Gegen Mittag verließ sie ihr Appartement und machte sich auf den Weg zum Markt. Dort lief sie zwischen den Ständen umher, betrachtete die in Käfigen aus Bambus herumflatternden Sperlinge, die Auslagen der Händler, Kakifrüchte, Pitahayas, Gewürzmischungen, Kleider, Tec-Krempel, wie Nachtsichtgeräte, Infrarotscanner, Schockpistolen. Zwei, drei Mal sprach sie mit den Yao- und Bai-Frauen, aber keine hatte Arbeit für sie.
Sanara ging gerade an einem Wok-Stand vorbei, als sie Eddie sah. Sie drehte sich um und rannte los. Doch es war zu spät. Ein Pfiff hallte über den Markt und schon setzten ihr zwei chinesische Jungen auf Skateboards nach. Sanara schlüpfte durch das Tor eines Lagerhauses, sprintete an meterhoch gestapelten Paletten vorbei, stieß die Hintertür auf und sprang ins Freie. Ihre Lunge brannte, der Gewerbehof vor ihren Augen flimmerte in der Mittagshitze. Sie lief weiter und hörte hinter sich das Krachen der Skateboards. Die Jungen, Teenager mit tätowierten Unterarmen, holten sie einer halben Minute ein. Ein Tritt zwischen die Schulterblätter, Sanara verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte in vollem Lauf, der Asphalt riss ihre Hände blutig. Einer der Jungen sprang von seinem Board. Mit einem Kick wirbelte er das Brett in die Luft, fing es und schlug damit zu. Sanara hatte die Arme gehoben, aber die Wucht des Hiebes riss ihr die Hände weg. Der andere Junge spuckte auf den Boden und versetzte ihr einen Fußstoß gegen die Schläfe. Sie kippte zur Seite und blieb reglos liegen.


In der Restaurantküche von Frau Chow kam sie zu sich. Frau Chow stand am Fleischerbrett und hackte Hühnchen in kleine Stücke. Eddie, ihr Sohn, saß Sanara am Tisch gegenüber und rauchte. Einer der Jungen war auch da. Er lehnte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck nahe der Tür in einer Ecke.
»Ich kenn dich, seit deine Familie vor zehn Jahren hierhergezogen ist«, sagte Eddie. Er blies Rauch in den Raum und strich über sein Haar, das an einigen Stellen grau wurde. Hinter ihm knallte das Hackbeil von Frau Chow.
»Dein Vater hat manchmal im Lager gearbeitet. War ein guter Mann.«
Sanara fasste sich an die Schläfe und verzog das Gesicht.
»Ich habe dich bei mir arbeiten lassen, weil mir das mit deinen Eltern leidgetan hat«, fuhr Eddie fort. »Habe dir so viel gezahlt wie den Jungen.«
»Mister Eddie, ich …«, setzte Sanara an. Eddie hob die Hand und sie schwieg.
»Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie oft du im Lager geklaut hast?«, sagte er. »Ich habe darüber hinweggesehen.«
Er drückte seine Zigarette im Ascher aus. »Weil ich Mitleid mit dir und deiner Familie hatte. Und weil es bisher Kleinigkeiten waren. Bisschen Tee oder Reis, ein Paar Sandalen.«
Eddie erhob sich. »Doch du hast meine Geduld überstrapaziert, Ab.« Frau Chow unterbrach ihre Arbeit und musterte Sanara mit einem strengen Blick. Sie sagte etwas zu ihrem Sohn auf Mandarin und schwang wieder das Beil.
»Letzte Woche hast du Antiquitäten mitgehen lassen«, sagte Eddie. »Eine Schriftrolle, einen kleinen Jadekasten, eine Armeepistole. Was hast du damit gemacht?«
Sanara presste die Lippen zusammen. Sie blickte zu Frau Chow, dann zu dem Teenager in der Ecke und schließlich sah sie Eddie an. »Hab’s verkauft«, sagte sie.
Eddie nickte. »Dachte ich mir. Wie viel hast du dafür bekommen?«
»Hundertfünfzig.«
Der Junge pfiff durch die Zähne und Eddie schüttelte den Kopf.
»Verdammt, Ab!«, sagte er. »Diese Dinge waren gut doppelt so viel wert.«
»Sie kriegen das Geld«, sagte Sanara.
»Darauf kannst du wetten!«, erwiderte Eddie. »Und zwar die vollen dreihundert Dollar. Und jetzt geh mir aus den Augen!«


Das Hologirl vor dem Diner leckte sich über die Lippen und sagte zu Sanara: »Hey, Baby! Ich glaube, du brauchst einen Fick!«
Sanara starrte sie an und sagte: »Was weißt du schon, verdammte Nutte!«
»Ich könnte dir einen Discountcode geben. Damit kriegst du im Thai Ming zehn Extraminuten.« Das Holomädchen strich sich aufwärts über den Arm und legte den Kopf schräg.
»Schieb ab!«, sagte Sanara.
»Wir können uns auch ein bisschen unterhalten«, erwiderte das Hologramm.
»Ach ja? Worüber denn?«
»Du hast eine Verletzung, jemand hat dich geschlagen.« Das halbtransparente, bläulich schimmernde Gesicht wandte sich Sanara jetzt ganz zu, die Mandelaugen des Holo-Mädchens blickten sie freundlich an. »Ich sehe, dass es dir nicht gut geht.«
»Tja«, sagte Sanara. »Geht doch jedem hier beschissen.«
Das Holo-Girl nickte und schaute die Straße hinunter. »Die Leute hier sind seltsam. Ich habe in drei Tagen außer Eric niemanden getroffen, der nett zu mir war.«
In diesem Augenblick krachten zwei Blocks entfernt drei Schüsse. Das Schlagen von Autotüren war zu hören und kurz darauf raste ein schwarzer Buick die Mainstreet entlang. Sanara blickte dem Wagen hinterher.
»Die Leute reden davon, dass ein neuer Krieg zwischen den Banden ausbrechen wird«, sagte das Holo-Mädchen.
»Und?«
»Jetzt brauchen sie Geld. Und deshalb überfallen sie …«
Sanara drehte sich um und betrat den Diner.
»Oh, nein!«, sagte Eric, als er an ihren Tisch trat und das Essen brachte.
Sanara blies eine Strähne ihres widerspenstigen Haars aus dem Gesicht und schaute zur Seite.
Eric stellte das Tablett ab und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Wer hat das getan?«
Sanara lehnte sich zurück, kaute einen Moment lang auf ihrer Unterlippe und sagte dann: »Gab Ärger mit Eddie.«
»Er hat dich geschlagen?«
»Nah. Seine verblödeten Jungs haben mich erwischt.«
Eric atmete durch. »Scheiße, Ab!«
»Vergiss es bitte, Eric.«
»Aber, Ab!«
»Bitte!« Sanara begann zu essen. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Sanara mit vollem Mund: »Diese Holo-Bitch kotzt mich vielleicht an.«
»Lan? Ich finde sie okay.«
»Lan? Das Ding hat nen Namen?«
»Ja. Hab mich gestern ein bisschen mit ihr unterhalten.«
Sanara trank einen Schluck Bier, schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist doch nur ein quatschender Lampion. Ne Promoleuchte, mehr nicht.«
»Ihr Programm hat früher andere Sachen gemacht«, sagte Eric. »Dass sie jetzt fürs Thai Ming Reklame laufen muss, dafür kann sie nichts.«
»Ich hasse diese Scheiß-Holos, die Androiden, diese ganzen Fake-Typen.«
Eric zuckte mit den Schultern. »Manchmal glaub ich, die sind gar nicht so anders als wir.«
Sanara schlang ihr Essen runter und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.
»Also, was hast du jetzt vor?«, fragte Eric. In diesem Moment betrat der Mann, der sich als John Carney vorgestellt hatte, den Diner. Sanara beobachtete schweigend, wie er sich ihrem Tisch näherte.
»Guten Abend, Miss Sanara!«, sagte er. »Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«
Eric drehte den Kopf, schaute erst zu Carney hinauf, dann fragend rüber zu Sanara.
»Schon okay«, sagte sie. »Glaub ich.«
»Fein.« Eric erhob sich. »Dann lass ich euch in Ruhe reden.« Und an Carney gewandt: »Kann ich Ihnen was bringen?«
»Bringen Sie mir was zu trinken. Das, was sie hatte.«
Eric brummte etwas, wandte sich um und ging davon.
»Darf ich mich setzen?«
Sanara trank von ihrem Bier und nickte.
Carney öffnete seinen Mantel, nahm Platz und sagte: »Ich fasse mich kurz.«
Er zog eine holografierte Karte aus der Innentasche und drehte sie zwischen den Fingern seiner großen Hände. »Meine Auftraggeber sind an Ihnen interessiert. Sie haben mich ermächtigt, Ihnen ein außerordentlich großzügiges Angebot zu machen.«
Er legte die Karte auf den Tisch. Terminus, Inc. stand da. Das Konzernlogo rotierte ein paar Zentimeter über dem Tisch.
»Und das wäre?« Sanara betrachtete das glatte Gesicht des Mannes, seine symmetrischen Gesichtszüge, seine klaren, grünlich schimmernden Augen.
Eric kam und stellte eine Büchse Black Polecat vor Carney auf den Tisch. Er warf einen Blick auf das schwebende Hologramm der Visitenkarte, dann drehte er sich um und ging wieder.
»Man bietet Ihnen zwei Jahre Luxus, Glück und Frieden«, sagte Carney. Sanara lachte auf. Ohne darauf zu reagieren, fuhr Carney fort. »Es wird mit Sicherheit die beste Zeit Ihres Lebens.«
Sanara nickte. »Is klar«, sagte sie. Und mit einem Lächeln: »Was wollen Ihre Leute dafür von mir haben?«
»Ihren Körper«, erwiderte Carney. »Und zwar alles davon: Organe, Muskulatur, Skelettknochen.« Das Lächeln in Sanaras Gesicht verschwand.
»Im Grunde geht es allerdings um Ihre Zellen. Man ist an Ihrer Zell- und Genstruktur interessiert.«
Sanara schob die leere Bierbüchse von einer Hand in die andere. »Warum?«
»Weil Sie Resistenzen besitzen, die äußerst selten und wertvoll sind.«
»Ach, wirklich.«
»Die spezielle Struktur Ihres Gencodes findet man nur bei einem Menschen unter Zehntausenden.«
Sanara lehnte sich zurück. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wie genau würde dieser Deal aussehen?«, fragte sie.
»Man bietet Ihnen einen Platz in einem der konzerneigenen Neuro-Pools. Während dieses zweijährigen Aufenthalts wird ein perfekt auf Sie ausgerichtetes Erleben simuliert.«
»Simuliert?«
Carney machte eine wischende Geste. »Es ist nicht von der Realität zu unterscheiden. Außer, dass es dort im Grunde keine negativen Emotionen oder Gedanken gibt.«
»Bullshit!«, stieß Sanara hervor.
»Sie müssen mir nicht glauben«, erwiderte Carney. »Sie können es selbstverständlich kostenlos ausprobieren.«
Sanara stand auf. »Sagen Sie mir noch eins, John.«
»Ich gebe Ihnen gern jede Auskunft, die Sie interessiert.«
»Was passiert nach Ablauf der zwei Jahre in diesem Pool?«
Carney sah ihr mit ruhigem Blick ins Gesicht. »Man wird Ihrem Körper alle Organe, Muskeln und Knochen entnehmen, die Zellen extrahieren …«
»Was?«
»Ihre Existenz wird aufgelöst, Miss Sanara.«
Sanara starrte Carney an. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür. Sie winkte Eric und verließ den Diner.


Über das schwarze Wasser der Docks geisterten die Reflexionen der Lichter der Innenstadt. Ein brackiger Mief stieg vom Hafenbecken herauf. Die Männer, die hier um Mitternacht vor dem Büro von Ron Devlin standen und Arbeit beim Entladen der zahllosen Sampans und Dschunken suchten, zählten zum Bodensatz der Stadt. Einige von ihnen waren betrunken, redeten wirr und fluchten leise. Es stank nach Schnaps, Schweiß und Urin. Sanara, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, wartete, bis vor ihr die Tür aufging und man sie hereinwinkte.
Devlin saß hinter seinem schäbigen Schreibtisch. Ein Hafenvorarbeiter schloss hinter ihr die Tür, machte ein paar Schritte durch die Baracke und baute sich mit verschränkten Armen vor dem vergitterten Fenster auf.
»Schon mal hier gewesen?«, fragte Devlin, steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich in seinem quietschenden Stuhl zurück.
Sanara hielt das Kinn gesenkt und schüttelte den Kopf.
»Zieh mal die Kapuze runter, Junge«, sagte Devlin. »Will sehen, was für’n Fisch wir hier ham.«
Sanara zögerte.
»Mach schon«, sagte Devlin. »Bist nicht der erste Vierzehnjährige, der sich für’n Mann ausgeben will.«
Sanara zog die Kapuze vom Kopf, Devlin richtete sich auf, schnalzte mit der Zunge und der Vorarbeiter sagte: »Fuck!«
»Mach mal die Blende an, Sean«, sagte Devlin. Der Vorarbeiter drehte sich um, betätigte einen Schalter und das Fensterglas verdunkelte sich.
»Bist du irre, Mädchen?« Devlin strich die Asche von seiner Zigarette.
»Ich suche Arbeit«, sagte Sanara. »Dringend.«
»Das sehe ich«, erwiderte Devlin. Er musterte Sanara, sah dann rüber zu Sean. Der Vorarbeiter schüttelte den Kopf.
Devlin stand auf, ging um den Tisch. Er zog an seiner Zigarette und atmete aus. »Was glaubst du, wird passieren«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »wenn diese Typen da draußen begreifen, dass du ne Pflaume zwischen den Beinen hast?«
»Sir, ich …«
»Wie alt bist du? Sechszehn, siebzehn?«
»Neunzehn.«
»Aha«, sagte Devlin. Er ging zurück zu seinem Stuhl, zog ein Schubfach aus dem Schreibtisch und holte eine Pistole hervor.
»Hier werden jede Nacht drei, vier Jungen und Männer vergewaltigt«, sagte Devlin, die Kippe zwischen den Lippen. Er zog das Magazin der Waffe aus dem Griff und prüfte den Ladezustand.
»Zuerst schlägt man sie halbtot, dann fallen mehrere Typen über sie her. Manchmal ’ne ganze Gang.« Er stieß das Magazin zurück in den Schacht, spannte und sicherte die Pistole. »Wenn sie dich erwischen …« Er ging ein paar Schritte durch den Raum und reichte dem Vorarbeiter die Waffe. Er drehte sich zu Sanara um: »Setz die Kapuze wieder auf und halt den Kopf unten. Sean bringt dich zur dreizehnten Straße. Von da is es nicht weit bis zum Temple Square. Und dann mach, dass du nach Haus kommst, wo immer das is.«


Sanara lag im dunklen Appartement auf ihrem Bett und schaute durch die Fenster auf die erleuchtete Skyline der Stadt, die im allgegenwärtigen Dunst der Emissionen schwebte. Aus den Boxen der Anlage rieselte der Ambientsound von Radio Ocean auf sie herab: Meeresrauschen, Sphärenklänge, der klagende Gesang eines Wals. Durch die geöffnete Terrassentür drangen die Nachtgeräusche des Viertels, Schritte, die in den verwinkelten Gassen widerhallten, das Klingeln der Rikschafahrer, murmelndes Stimmgewirr, wenn die Tür einer Bar geöffnet wurde.
Gegen zehn rief Eric an. »Ich hab immer ein Scheißgefühl, wenn du nicht im Diner aufkreuzt«, sagte er.
»Sorry«, erwiderte Sanara. »Konnte mich heute nicht aufraffen.«
»Hast du den ganzen Tag im Bett gelegen?«
»Hab einfach keine Kraft mehr, Eric.«
»Es wird wieder besser, Ab. Glaub mir. Hast nur ne Durststrecke.«
»Kann sein.«
»Im Moment scheinen alle durchzudrehen, du musst aufpassen, wenn du unterwegs bist.«
»Okay.«
»Gab wieder einen Überfall. Ein kleiner Laden bei der Tompson Bridge.«
»Ich pass schon auf, Eric.«
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Im Com Kanal rauschte es leise. Sanara beobachtete einen Gleiter, der über Lower East End einschwenkte. Das schlanke Schiff zog einen feinen Kondensstreifen vor der Schwärze des Alls und bewegte sich mit Umkehrschub auf einen der Tower der Innenstadt zu.
»Warst du schon mal in den Zentralbezirken?«, fragte Sanara.
»Nee«, sagte Eric. Seine Stimme klang müde. »Kenne auch keinen, der da war. Wieso?«
»Die Leute da … Wissen die, wie wir hier leben?«
»Tja, keine Ahnung. Ich glaube, das spielt gar keine Rolle für die.«
»Warum nicht, Eric?«
»Is so als würdest du dich fragen, wie es unten am Hafen den Ratten geht.«
Wieder breitete sich Schweigen in dem kleinen Appartement aus.
»Okay, Eric«, sagte Sanara irgendwann. »Wir sehen uns morgen.«
»Gut, Ab. Aber komm wirklich vorbei.«
»Mach ich. Bestimmt.«
Sanara stand auf, ging im Zimmer umher. Um elf rief sie Dusty an.
»Ich mach den Job«, sagte sie. »Ich will hundertfünfzig für fünfzehn Minuten.«
»Okay, Baby!« Dusty lachte und legte auf.


Vor dem Staxx lag ein Mann auf der Straße. Sanara stieß ihn leicht mit dem Fuß an. »Verpiss dich!«, grunzte er und rollte sich auf die Seite.
Sanara betrat die Bar, ging die Treppe hinunter in den Keller und dann einen schmalen Gang entlang, in dem es modrig roch. Dusty empfing sie vor dem Umkleideraum. »Dein Outfit hängt im Schrank«, sagte er. »In zehn Minuten geht es los.«
»Wie wird das ablaufen?«, fragte Sanara.
»Mach dir keine Sorgen.« Dusty wandte sich zum Gehen. »Ich kann jederzeit dazwischen gehen, wenn der User durchdreht.«
Als sie sich kurz darauf im Spiegel betrachtete, strich sie mit den Händen über das weiße Gabardinekleid und schüttelte den Kopf. Sie schloss den Schrank, verließ die Umkleide und ging zum Showroom.
Dusty stand in der Mitte des Raums und sprach mit einem Mann, der Bundfaltenhosen, braune Slipper und ein weißes Hemd mit Krawatte trug.
»Okay«, sagte Dusty. »Ehepaar aus White Central, stinkreich. Er hat gerade mitbekommen, dass sie fremd geht und zeigt ihr, wer der Boss is.« Und mit einem Lächeln: »Ich weiß nicht warum, aber die Leute lieben dieses Szenario. Wird doppelt so oft gebucht wie alle anderen.«
»Ich bin Steve«, sagte der Mann und gab Sanara die Hand. Er hatte ein freundliches Gesicht. Dusty verließ den Showroom. Als der Holo-Countdown auf Null sprang, ging ein Ruck durch Steves Körper. Er sah Sanara mit einem seltsamen Blick an und sagte: »Ich habe dir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen.« Er ging ein paar Schritte um sie herum, hob den Arm und wies mit der Hand in unbestimmte Ferne. »Und so dankst du es mir?«
Es war ein Schlag mit der flachen Hand. Sanara riss die Arme hoch, doch Steve war schneller. Es knallte, Sanara schrie, taumelte und prallte gegen eine Wand.


Als Sanara einen halben Block vom Diner entfernt war, knickten ihre Knie ein. Sie stützte sich an einer Straßenleuchte ab und setzte sich auf das Pflaster der Mainstreet. Lan, das Holomädchen, erblickte sie und schlug die Hände vor den Mund. Einen Augenblick stand sie so, dann eilte sie auf ihren türkis schimmernden High Heels zu Sanara. »Süße, was ist passiert? Wie kann ich dir helfen? Ich werde Eric rufen.« Sanara hielt sie auf. »Warte«, sagte sie. »Lass mich einen Augenblick hier sitzen, bevor ich reingehe.«
Lan hockte sich zu ihr. »Was ist denn bloß passiert? Wer hat dir das angetan?«
In Sanaras zerschlagenem Gesicht tauchte ein Lächeln auf. »Ich hab hundertfünfzig Dollar verdient, heute Abend.«
Lan schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.«
Eine Träne lief an Sanaras Wange hinab. »Weißt du, ich bin nicht dumm«, sagte sie. »Ich habe sogar ein paar gute Sachen drauf.«
Lan schaute die Straße entlang. »Ich hole jemanden, der dir aufhilft«, sagte sie, aber Sanara schüttelte den Kopf. »Nein! Bitte, du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Doch, doch. Ich höre«, sagte Lan.
»Ich kann ein bisschen kochen«, flüsterte Sanara. »Ich mixe ein paar richtig gute Drinks. Beim Markt habe ich schon viel geholfen. Kann Kisten schleppen, fast wie ein Kerl.«
»Bitte lass mich Eric holen«, sagte Lan.
»Heute hab ich hundertfünfzig Mücken dafür bekommen«, sagte Sanara und fuhr mit der Zunge über die aufgeplatzten Lippen, »mich verprügeln zu lassen.«
»Ich bin gleich wieder da, Süße!« Lan stand auf und rannte los.
Kurz darauf kam sie mit Eric zurück. Er zog Sanara hoch, stützte sie und brachte sie ins Diner.


Sanara und Lan saßen sich an einem der hinteren Tische gegenüber. Eric stand bei ihnen. Er schloss den Verbandskasten. »Ich bringe den Scheißkerl um«, sagte er, nahm das Med-Kit und ging zum Tresen. Sanara biss die Zähne zusammen und suchte nach einer besseren Sitzposition. »Wusste nicht, dass du hier reinkannst«, sagte sie.
»Die Projektion ist in einem Fünfzig-Meter-Radius stabil«, erwiderte Lan. »Egal, ob drinnen oder draußen.«
»Und warum stehst du dann immer auf der Straße?«
Lan lächelte. »Naja, schau dich um. Gibt hier drinnen nicht viel Kundschaft fürs Thai Ming
Sanara nickte. »Ich wusste auch nicht, dass du Gefühle simulieren kannst.«
»Für mich sind sie nicht simuliert. Sie sind einfach da.«
Eine Weile sprach keine der beiden ein Wort. Eric trat an den Tisch und brachte ein Tablett mit Chicken Wings, Pommes und einer Büchse Black Polecat.
»Ich geh wieder raus«, sagte Lan und erhob sich. »Sag mir Bescheid, wenn du was brauchst.«
Eric setzte sich. Sanara sah dem Holomädchen hinterher, das an der Tür stand, zurückblickte, winkte und den Diner verließ.
»Sie hält sich für real«, sagte Sanara und befühlte ihren geschwollenen Wangenknochen.
»Sie weiß, dass sie nicht so ist, wie wir«, sagte Eric. »Aber sie macht das Beste daraus.«
»Hat sie das gesagt?«
Eric nickte.
»Vor zwei Tagen hat sie mir noch einen Rabatt-Fick im Thai Ming angeboten.« Sanara öffnete die Büchse, trank und begann zu essen. Sie kaute, verzog das Gesicht.
»Die Schmerzen gehen vorbei«, sagte Eric. »Ich kann Mike fragen, ob er dir ein paar Pillen gibt.«
»Mike?«
Eric machte eine Bewegung mit dem Kopf und wies auf einen fetten Kerl, der in der Ecke des Diners saß und Pizza in sich hineinstopfte. »Mein Schwager«, sagte er. »Hat ne Knarre in der Jackentasche und is mein Backup im Moment.«
»Wegen der Überfälle?«
Eric nickte. »Gestern hat es Paulie erwischt.«
»Paulie? Hat der den kleinen Shop oben beim Markt?«
»Ja. Drei Typen mit Macheten sind in seinen Laden gekommen. Haben ihm die Hand abgehackt und die Kasse geplündert.«
»Scheiße!«
»Mike arbeitet ab und zu im Labor«, sagte Eric und stand auf. »Ich frag mal, ob er dir was geben kann.«
»Okay«, sagte Sanara. »Ich nehm das Stärkste, was er hat.«


Am nächsten Morgen rief Sanara John Carney an. »Eric hätte Ihre Karte nie aufgehoben«, sagte sie, »wenn er Ihr Angebot kennen würde.«
»Ich verstehe«, sagte Carney.
»Das, was Sie mir über die zwei Jahre Glück und Frieden erzählt haben, hat mich beschäftigt.«
»Freut mich, zu hören. Wollen wir einen Termin machen? Für ein weiteres Gespräch oder einen Test?«
Sanara trat auf die Terrasse ihres Appartements. »Ich würde es gern ausprobieren.« Der Himmel über der Stadt glühte in mattem Orange. Im Osten schob sich die Sonne über den Horizont.
»Ausgezeichnet! Wann passt es Ihnen?«
»Wie wäre es mit morgen, so gegen zehn Uhr?«
»Wunderbar. Ich hole Sie mit dem Wagen ab.«
Es rauschte in der Leitung, als Carney aufgelegt hatte. Sanara steckte den Kommunikator in die Tasche und ließ den Blick über das Viertel schweifen.


Sanara schaute an ihrem unbekleideten Körper hinab. Vom linken Oberschenkel zog sich ein Hämatom in grünlich blauem Bogen hinauf bis zur Taille. Auch auf ihren Armen, Rippen und Brüsten schimmerten Blutergüsse in den Farben Violett bis Purpur. Sie blickte zu Carney, der neben ihr stand. Unter seiner Haut bewegten sich Datenströme in feinen Linien. Wie Rinnsale flossen Ziffern, Kanji-Zeichen und anderer Code über Brust und Schulter, den Bauch hinab und an den Innenseiten der Schenkel entlang.
»Sie sind ein Android«, sagte Sanara.
»Das ist richtig«, erwiderte Carney und wies auf den Neuro-Pool. »Sind Sie bereit?«
In dem Becken aus weißem Marmor, groß genug, um ein paar Schwimmzüge darin zu machen, fluoreszierte eine milchige Flüssigkeit.
»Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie mich gefunden haben«, sagte Sanara. »Woher wissen Sie von diesen Resistenzen meiner Zellen?«
»Ich bin neugierig«, entgegnete Carney. Auf seinem Körper lag der Widerschein des glühenden Neuro-Pools. »Glauben Sie, dies hier ist eine Art Betrug?«
»Antworten Sie auf meine Frage!«
»Unser Konzern hat die Klientendaten aller Entbindungskliniken der Stadt erworben.«
Sanara nickte. »Die Geburts-Scans.«
»Hätte ich Sie eher gefunden«, sagte Carney, »wäre der Wert Ihres Körpers höher gewesen. Man hätte Ihnen ein Angebot von fünf Jahren gemacht. Leider haben Sie nicht besonders gut auf Ihre Gesundheit geachtet.«
Er reichte Sanara die Hand. Einen Moment lang presste sie die Lippen zusammen, dann ergriff sie Carneys Hand und sie gingen die Treppen des Pools hinab. Als sie in der Mitte des Beckens standen, sagte Carney: »Lehnen Sie sich zurück. Ich stütze Sie.«
Eine Weile lag sie schwebend in der neuroaktiven Milch.
»Ich werde Ihren Kopf jetzt eintauchen lassen«, sagte Carney. »Dann beginnt es. Bereit?«


Über ihren Augen schloss sich die Flüssigkeit des Pools und Sanaras Blick weitete sich in klares Himmelsblau. Sie stand im Schatten einer Kiefer, das Harz des Baumes verströmte einen intensiven Duft. Sanara sah an sich hinab. Sie trug eine weiße Bluse, einen blauen Sommerrock und Sandalen aus Leder.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte Carney.
Sanara wandte sich zu ihm um. »Sie sind auch hier«, sagte sie und musterte seine Kleidung. Halbschuhe, dunkle Hosen und blaues Freizeithemd.
»Wir machen eine kleine Tour«, erwiderte er. »Danach lasse ich Sie in Ruhe.«
Von der Anhöhe, auf der sie standen, senkte sich ein Olivenhain einige hundert Schritte hinab bis zu einem schmalen Kiesstrand, und dahinter wogte in sanfter Bewegung das Meer. Möwenschreie waren bis hier herauf zu hören.
»Der Algorithmus hat es nach Vorbild des Mittelmeers konstruiert«, sagte Carney.
»Es ist wunderschön«, sagte Sanara.
Carney deutete auf einen Pfad, der sich zwischen Zedern, Kiefern und Ginster schlängelte. »Es sind nur ein paar Schritte bist zu Ihrem Haus«, sagte er.
Goldene Streifen Vormittagslicht schnitten schräg durch das Halbdunkel des Nadelwaldes. Insekten schwirrten in der harzigen Sommerluft. Sanara blieb mehrmals stehen, betrachtete die schuppigen Stämme der Kiefern, roch an Hibiskusblüten, die rot und violett im Unterholz leuchteten. Carney beobachtete sie schweigend.
Kurz darauf traten sie aus dem Wald.
»Hier werden Sie wohnen«, sagte Carney. »Wenn Sie es wünschen.«
Das Haus war aus dem Stein der Umgebung gebaut. Schiefergrau schimmerte es vor dem Blau des Himmels. Carney öffnete die Eingangstür und führte Sanara durch das Haus. Von der Terrasse aus blickten sie über das Meer. Sanara bemerkte einen mit Natursteinplatten befestigten Weg, der durch den Garten hinab zum Strand verlief.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte Carney, »das Ihnen gefallen wird.«
Sanara folgte ihm durch das Haus und dann über einen kleinen Hof zu einem Garagenanbau. Das Tor hob sich und Carney sagte: »Ein 1954er Cadillac Eldorado.«
Sanara betrachtete das smaragdgrüne Cabriolet. »Ich habe eine Erinnerung an diesen Wagen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, woher.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, entgegnete Carney. »Der Neuropool liest in Ihrem Gehirn Engramme aus und der Algorithmus verarbeitet sie. Es könnte etwas sein, das Sie als Kind in einem Hologramm gesehen haben, in einem Film oder auch nur etwas, das Sie sich vorgestellt haben.«
»Können wir damit fahren?«, fragte Sanara.
Bei Tempo einhundert lächelte Sanara, strich mit der Hand über die Ledersitze und betrachtete die dahinrauschende Landschaft. Der Fahrtwind zerzauste ihr Haar.
Carney steuerte den Wagen auf einer Straße am Meer entlang. »Ich zeige Ihnen später, wie man fährt«, sagte er. »Es ist nicht schwer.«
So fuhren sie eine Stunde unter dem wolkenlosen Himmel dahin. Schließlich bog Carney von der Straße ab und ließ den Wagen auf dem Parkplatz eines Strandlokals ausrollen.
»Lassen Sie uns einen Kaffee trinken«, sagte er. »Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.«
Während sie auf ihren Cappuccino warteten, beobachtete Sanara die anderen Gäste des Lokals. »An so einem Ort bin ich noch nie gewesen«, sagte sie.
Carney nickte. »Im zwanzigsten Jahrhundert wurden Erholungsreisen zum Meer allgemein sehr geschätzt.«
»Ich wusste nicht, dass es früher so sauber war«, sagte Sanara. Ihr Blick ging hinüber zum Strand und zu einer Gruppe junger Menschen, die im seichten Wasser Volleyball spielten.
Ein Kellner brachte den Kaffee. Er fragte, ob sie noch etwas wünschten und als Sanara den Kopf schüttelte, lächelte er, deutete eine Verneigung an, drehte sich um und ging. Sanara blickte ihm hinterher.
»Diese Leute hier sind so …« Sie stockte.
»Freundlich?«, fragte Carney.
Sanara zuckte die Schultern. »Es ist unheimlich.«
»Bevor ich Sie verlasse«, sagte Carney, »möchte ich drei Dinge ansprechen, die Sie wissen sollten, bevor Sie eine Entscheidung treffen.«
»Okay.«
»Diese Menschen hier wissen nicht, dass sie am Grunde eines Goldfischteichs leben. Sie haben von der realen Welt keine Ahnung.« Carney rührte im Kaffee und fuhr fort: »Ich rate Ihnen davon ab, Personen in der Simulation mit dieser Tatsache zu konfrontieren.«
»Ich verstehe«, sagte Sanara.
»Der zweite Punkt betrifft die Zeitspanne, die Sie hier verbringen.«
»Ihr Angebot lautet zwei Jahre«, sagte Sanara.
»Das ist richtig. Aber wie in der realen Welt verläuft die Zeit in der Simulation nicht vollkommen linear.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich empfehle Ihnen, Ihre Zeit nicht zu verschwenden. Wie draußen sind auch hier Achtsamkeit und Sorgfalt wichtig, bei allen Dingen, die Sie tun. Sonst werden die zwei Jahre hier sehr schnell vorbei sein und Sie könnten sich betrogen fühlen.«
Sanara nickte.
»Der letzte Punkt betrifft Ihren Tod.« Carneys Blick ruhte auf Sanara. »Sie werden nicht wissen, wann es passiert. Es gibt kein exaktes Datum. Draußen vergehen zwei Jahre. Hier drinnen kann es sich wie drei anfühlen oder auch wie zehn.«
»Und wie wird es passieren?«
»Das weiß niemand. Der Algorithmus improvisiert es gewissermaßen. Es wird nicht schmerzhaft sein, nichts Qualvolles. Kein Drama.«
»Kein Drama«, wiederholte Sanara.
»Haben Sie noch Fragen?«
»Werde ich hier Freunde finden?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Carney. »Wenn Sie es wünschen.«
»Wie sieht es mit Sex aus?«
»Alle Formen menschlicher Interaktion sind Teil der Simulation«, sagte Carney und trank seinen Kaffee aus. Er wartete noch einen Moment, dann sagte er: »Lassen Sie uns rausgehen. Ich zeige Ihnen, wie man den Wagen fährt, und dann können Sie den Rest des Tages so verbringen, wie es Ihnen gefällt.«
Etwa eine halbe Stunde später hatte sie den Dreh raus. Carney stieg aus und winkte. Sanara trat auf das Pedal. Der Schotter prasselte gegen den Karrosserieboden, die Reifen quietschten und der Wagen machte einen Satz. Eine Weile fuhr sie auf der Straße am Strand entlang. Dann wendete sie und kehrte zum Haus zurück. Sie ließ den Cadillac am Straßenrand stehen. Im Haus ging sie noch einmal durch jeden Raum, schaute durch jedes Fenster. Sie setzte sich auf die Terrasse und blickte aufs Meer. Über den Wellen schwebten Möwen im ablandigen Wind.


Eddie Chow betrachtete die fünf Geldscheine, die vor ihm auf der karierten Tischdecke lagen, zog ein Päckchen Blue Dragon aus der Brusttasche seine Sakkos und steckte sich eine Zigarette an.
»Danke«, sagte er. »Da fehlen aber immer noch zweihundert.«
Sanara nickte. Sie saßen einander in der Restaurantküche von Frau Chow gegenüber. Außer ihnen war niemand hier.
Eddie nahm einen Zug. »Ist das ehrlich verdient?«
»Ja, ist es«, erwiderte Sanara.
Eddie deutete mit der Hand auf ihr Gesicht. »Siehst schlimm aus. Steckst du in Schwierigkeiten?«
»Nein, alles okay bei mir.«
Eine Weile sprach keiner der beiden ein Wort. Eddie rauchte, blickte Sanara in die Augen, dann auf die Geldscheine und wieder zu ihr zurück.
»Die Leute reden«, sagte er. »Is ein kleines Rattenloch, in dem wir hier leben.«
Sanara zuckte die Schultern.
»Ich habe gehört, dass Dusty Leute dafür bezahlt, sich in seiner Show zusammenschlagen zu lassen.«
»Stimmt.«
»Insbesondere Frauen.«
»Ja.«
»Junge Frauen.«
»Haben Sie vergessen, was Ihre Jungs mit mir gemacht haben?«
Eddie blies Rauch aus und beobachtete, wie die Wolke unter der Lampe langsam aufwärts stieg.
»Das war etwas anderes«, sagte er.
»Tja, wenn Sie meinen.« Sanara erhob sich.
»Wenn du den Rest bezahlst«, sagte Eddie, »könnten wir noch mal von vorn beginnen.«
Sanara wandte sich zum Gehen, doch dann hielt sie inne. »Von vorn beginnen?«
Eddie nahm einen Zug, kniff die Augen zusammen und sagte: »Ich denke, du hast deine Lektion gelernt.«
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Sanara etwas erwidern, aber dann wandte sie sich um und ging davon.


Sanara lächelte. »Das heißt, der User will dich zurückhaben?«
Lan nickte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin.« Sie saßen im Diner. Sanara hielt einen Burger in der Hand und kaute. Eric stand ein paar Tische entfernt bei Mike.
»Das Thai Ming will mehr Geld haben als es für mich bezahlt hat«, sagte Lan, »aber wenn es klappt, kann ich nach Hause zurück.«
Sanara trank einen Schluck Black Polecat. »Und was wirst du dort machen?«
Lan dachte einen Moment lang nach. »Ich denke, es wird so, wie früher. Ich helfe meinem User, organisiere seine Termine, mache die geschäftliche Korrespondenz.«
»Wie ist er so, dein User?«
»Meistens ist er nett. Lebt allein. Arbeitet für eine Firma, die auch Geschäfte mit den Innenbezirken am Laufen hat.«
Sanara wischte sich mit einer Papierserviette die Lippen ab. »Wie alt ist der Typ?«
Lan schaute zur Decke, neigte den Kopf. »Ich schätze …«
»Also ein alter Sack!«, sagte Sanara.
»Nein! Höchstens vierzig oder so.«
»Wie gesagt«, lachte Sanara. »Ich wette, Sex steht auch auf der To-do-Liste.«
Lan zuckte die Schultern. »Das macht mir nichts aus. Eigentlich finde ich es ganz nett.«
»Ganz nett«, wiederholte Sanara. »Das is doch was!«
»Naja, drück mir die Daumen«, sagte Lan.
In diesem Moment wurde die Tür des Diners mit einem Knall aufgestoßen. Sanara blickte hoch und sah das Aufflackern von Mündungsfeuer. Es krachte, sie hockte sich unter den Tisch. Jemand brüllte, jemand schrie. Zwei Minuten später waren die Angreifer fort. Sanara und Lan standen vor Erics Leiche. Neben ihm lag sein Schwager Mike, seine Waffe steckte noch immer im Hosenbund.


Sanara stand auf der Terrasse ihres Appartements im elften Stock. Sie hielt den Kommunikator in der Hand.
»Dann haben Sie eine Entscheidung getroffen«, sagte Carneys Stimme.
Sanaras Blick glitt über die im letzten Tageslicht schimmernden Hochbauten der Innenstadt, weiter zu den leprösen Ghettos der Randbezirke, von denen Lower East End der heruntergekommenste war. »Ich habe eine Bedingung«, sagte sie.
»Und die wäre?«
»Ich nehme Ihr Angebot an«, sagte Sanara. »Aber ich will, dass der Algorithmus etwas in meine Simulation einfügt.«
»Ich bin nicht sicher, ob …«
Sanara schaltete das Gerät ab. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Abendluft.


Lan betrachtete ihre Hand im Sonnenlicht. »Es ist phantastisch, einen Körper zu haben«, rief sie gegen den Fahrtwind. Sanara saß am Steuer des Cadillacs. Sie fuhren auf einer Straße am Meer entlang.
»Es ist phantastisch, zu glauben, einen Körper zu haben«, rief Sanara zurück. Sie bog auf einen Schotterweg ab und hielt in der Nähe des Strandes. Eine Zeitlang schauten sie, in die Sitze des Cabriolet gelehnt, auf das im Nachmittagslicht glitzernde Wasser, den in der Ferne verschwimmenden Horizont und lauschten dem Klang der Wellen.
»Kannst du schwimmen?«, fragte Sanara schließlich.
Lan blickte sie an. »Ich weiß es nicht.«
Sanara lächelte und stieg aus dem Wagen. »Finden wir es heraus.«

 

Lieber @Achillus
Danke für die wirklich gute SF Story, die ich gestern atemlos in einem Rutsch durchgelesen habe und bei der sofort mein Kopfkino ansprang.
Tolles Worldbuilding, Tech trifft Menschlichkeit, verschiedene Gesellschaftsschichten in distopischem Setting, wer Luc Besson und Christopher Nolan kennt, müsste sich sofort heimisch fühlen. Nein ehrlich, mit klug gesetzten Worten zeichnest du eine atmosphärische Zukunftsdistopie, in der die obere Elite in der Mittelschicht Ersatzmaterial rekrutiert und zur Belohnung Matrixartigen Resturlaub verspricht.
Was mir besonders gefallen hat, war die aufblitzende Menschlichkrit, die sogar vor KI "Holosapiens" nicht Halt macht.

Im Westen glühte der Smog blutrot über der Stadt. Schwarz und erratisch glänzten die Türme der mittleren Bezirke im letzten Licht des Tages. Ausflugsschiffe, Gleiter und kleinere Frachter zogen hoch über der Skyline dahin.
Und schon bin ich drin in dieser Welt, sehe die Wohnsilos vor mir, das pulsierende Leben in den Gebäudeschluchten am Rande des anonymen Wohlstands.

Sie winkte ab, räusperte sich, wies mit dem Kinn auf das Hologirl, das draußen vor dem Fenster mit einem Passanten sprach. »Die Holoschlampe geht mir auf den Sack. Wieviel zahlt dir das Thai Ming dafür?«
Du führst dein Personal und ihre Charaktereigenschaften mit stimmigen Dialogen ein. Gefällt mir sehr gut.
Ein paar Chinesen spielten Mahjong und an den verzinkten Tresen gelehnt, standen fünf, sechs Tec-Freaks und starrten mit ihren synthetischen Augen finster in die Runde.
Androiden und Menschen auf Augenhöhe. Die Armut macht da keinen Unterschied.

»Is alles halb so wild«, sagte er. »Viele Getue dabei.«
Ja, ja und im Westen geht die Sonne auf. Fies, wie er Sanara da über den Tisch zieht.

»Verstehst du nicht? Der User sitzt zu Haus, entweder vor dem Display oder in der Holo-Sphere. Er bedient eine Konsole, steuert die Action. Lässt ein bisschen Dampf ab.«
»Er verprügelt den anderen Typen?«
»Genau.«
Kann ich mir gut vorstellen, wie so ein feister Zentralbezirkbonze für Kohle "Dampf ablassen" darf. Ätzend!
»Fick dich!«, sagte Sanara, drehte sich um und verließ den Raum.
»Du bist nichts Besonderes, Abri!«, rief Dusty ihr hinterher. »Nutz die Chance. Is vielleicht die letzte.«
Sanara scheint echt ganz unten zu sein und alle wissen das. Scheiss Situation, noch gewinnt das bisschen Selbstachtung.

»Bei dir alles okay?«, fragte Eric. Die Züge seines Gesichts leuchteten bernsteinfarben über dem Gerät.
»Ja, wieso?«
»Hat ne Schießerei gegeben, in der Nähe vom Franklin Park.«
»Hab ich nicht mitgekriegt.«
»Okay, gut. Und wie lief es bei Dusty?«
»Hattest recht«, sagte Sanara. »Der Typ is ein Stück Scheiße.«
Hier blitzt wieder ein Stück dieses Rests Menschlichkeit auf, in einer Welt, in der jeder versucht zu überleben, so gut es geht.
Sanara wandte sich ab. »Verpiss dich!«
»Mein Name ist Carney«, rief der Fremde ihr hinter. »John Carney.«
»Verpiss dich, John Carney!«, sagte sie und schlug die Tür hinter sich zu.
:lol: Ein Zitat stellvertretend für die vielen lebendigen, aussagekräftigen Dialoge. Sehr fein.

Sie hielt inne. Ein großer Frachter, der zum Sinkflug angesetzt hatte und auf den Zollhafen zusteuerte, dröhnte über dem Wohnblock. Die Scheiben in den Fenstern klirrten.
Herrlich, wie wenn man im 4DX Kino sitzen würde.
»Ich versuch es heute doch mal bei den Chinesen«, fuhr sie fort, nachdem sich das Cargoschiff entfernt hatte. »Darf bloß Eddie nicht über den Weg laufen.«
»Eddie Chow? Wieso?«
»Hab grad ein bisschen Stress mit dem.«
Oh, oh, man darf gespannt sein, um was es sich dreht. Gibt ja nur die zwei Sachen: Beziehung oder Geld. Mal sehen, es zieht mich jedenfalls weiter in der Story ...
In der Restaurantküche von Frau Chow kam sie zu sich. Frau Chow stand am Fleischerbrett und hackte Hühnchen in kleine Stücke. Eddie, ihr Sohn, saß Sanara am Tisch gegenüber und rauchte. Einer der Jungen war auch da. Er lehnte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck nahe der Tür in einer Ecke der Küche.
Wiederum sehr plastisches Setting, das Hackebeil hat dabei so was von Damokles. :D
»Ich habe dich bei mir arbeiten lassen, weil mir das mit deinen Eltern leidgetan hat«, fuhr Eddie fort. »Habe dir so viel gezahlt, wie den Jungen.«
»Mister Eddie, ich …«, setzte Sanara an. Eddie hob die Hand und sie schwieg.
Mister Eddie? Nicht Chow?
Oder ist das eventuell so eine Gangsache. Mister Vorname erhöht noch einmal den Stellenwert des Chefs. Jo, so müsste es sein und damit hab ichs mir wohl selbst erklärt, hr, hr.

»Hab’s verkauft«, sagte sie.
Eddie nickte. »Dachte ich mir. Wieviel hast du dafür bekommen?«
»Hundertfünfzig.«
Der Junge pfiff durch die Zähne und Eddie schüttelte den Kopf.
»Verdammt, Ab!«, sagte er. »Diese Dinge waren gut doppelt so viel wert.«
»Sie kriegen das Geld«, sagte Sanara.
»Darauf kannst du wetten!«, erwiderte Eddie. »Und zwar die vollen dreihundert Dollar. Und jetzt geh mir aus den Augen!«
Aha, geht ums Geld und nun wird klar, das Sanara in der Klemme steckt, sie braucht dringend einen Job. Scheiss drauf, irgendeinen.
Das Holomädchen strich sich aufwärts über den Arm und legte den Kopf schräg.
Tolle Geste, wie aus dem Marketinghandbuch.
»Ich sehe, dass es dir nicht gut geht.«
»Tja«, sagte Sanara, »geht doch jedem hier beschissen.«
Das Holo-Girl nickte und schaute die Straße hinunter. »Die Leute hier sind seltsam. Ich habe in drei Tagen außer Eric niemanden getroffen, der nett zu mir war.«
Und damit erhält das Hologirl brereits eine neue Rolle, obwohl künstlich generiert, reflektiert sie wie ein Mensch.
Sanara drehte sie sich um und betrat das Diner.
Typo
»Diese Holo-Bitch kotzt mich vielleicht an.«
»Lan? Ich finde sie okay.«
»Lan? Das Ding hat nen Namen?«
»Ja. Hab mich gestern ein bisschen mit ihr unterhalten.«
Sanara trank einen Schluck Bier, schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist doch nur ein quatschender Lampion. Ne Promoleuchte, mehr nicht.«
»Ihr Programm hat früher andere Sachen gemacht«, sagte Eric. »Dass sie jetzt fürs Thai Ming Reklame laufen muss, dafür kann sie nichts.«
»Ich hasse diese Scheiß-Holos, die Androiden, diese ganzen Fake-Typen.«
Eric zuckte mit den Schultern. »Manchmal glaub ich, die sind gar nicht so anders, als wir.«
Ein interessanter Abschnitt, wie Eric bereits zu einer differenzierten Ansicht neigt, während Sanara die ganzen "Fake-Typen" rundherum ablehnt. Ich meine, dass ein Hologramm-Girl von ihrem User fallen gelassen wird und sich daraufhin zu Reklameauftritten genötigt sieht, fühlt sich irgendwie menschlich an.
»Meine Auftraggeber sind an Ihnen interessiert. Sie haben mich ermächtigt, Ihnen ein außerordentlich großzügiges Angebot zu machen.«
Redet wie eine KI.
Sehr fein gezeichnet!
»Ihre Existenz wird aufgelöst, Miss Sanara.«
Sanara starrte Carney an. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür. Sie winkte Eric und verließ das Diner.
Nun hat sie bereits das zweite Angebote für einen Weg aus der Misere, doch beide scheinen noch keine wirkliche Option zu sein. Selbstachtung und Lebenswille scheinen immer noch vorhanden zu sein.

Zieh mal die Kapuze runter, Junge«, sagte Devlin. »Will sehen, was für’n Fisch wir hier ham.«
Was uns unverblühmt vor Augen führt, dass hier unten wohl niemand mit einem Mädchen rechnen würde.
»Wenn sich dich erwischen …«
sie

»Setz die Kapuze wieder auf und halt den Kopf unten. Sean bringt dich zur dreizehnten Straße. Von da ist es nicht weit bis zum Temple Square. Und dann mach, dass du nach Haus kommst, wo immer das is.«
Wieder ein Fünkchen Menschlichkeit in dieser rauen Welt. Sehr schön, gefällt mir äusserst gut.

»Warst du schon mal in den Zentralbezirken?«, fragte Sanara.
»Nee«, sagte Eric. Seine Stimme klang müde. »Kenne auch keinen, der da war. Wieso?«
»Die Leute da … Wissen die, wie wir hier leben?«
»Tja, keine Ahnung. Ich glaube, das spielt gar keine Rolle für die.«
»Warum nicht, Eric?«
»Is so, als würdest du dich fragen, wie es unten am Hafen den Ratten geht.«
Sehr schönes Gleichnis. Gefällt mir.

»Okay«, sagte Dusty. »Ehepaar aus White Central, stinkreich. Er hat gerade mitbekommen, dass sie fremd geht und zeigt ihr, wer der Boss is.« Und mit einem Lächeln: »Ich weiß nicht warum, aber die Leute lieben dieses Szenario. Wird doppelt so oft gebucht, wie alle anderen.«
Scheiss business, und man ahnt, wie's ausgeht.
Lan, das Holomädchen, erblickte sie und schlug die Hände vor den Mund.
Emotion pur, klasse gemacht, auch wenn es bloss generierte Gefühle sind. :D
Lan schaute die Straße entlang. »Ich hole jemanden, der dir aufhilft«, sagte sie, aber Sanara schüttelte den Kopf. »Nein! Bitte, du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Doch, doch. Ich höre«, sagte Lan.
»Ich kann ein bisschen kochen«, flüsterte Sanara. »Ich mixe ein paar richtig gute Drinks. Beim Markt habe ich schon viel geholfen. Kann Kisten schleppen, fast wie ein Kerl.«
»Bitte lass mich Eric holen«, sagte Lan.
»Heute hab ich hundertfünfzig Mücken dafür bekommen«, sagte Sanara und fuhr mit der Zunge über die aufgeplatzten Lippen, »mich verprügeln zu lassen.«
Resignation. Der Moment der Erkenntnis, trotz gewisser Stärken, der Gesellschaft so was von egal zu sein und den Rest an Stolz aufzugeben, um irgendwie an Geld zu kommen, um weiter existieren zu können.
Lan lächelte. »Naja, schau dich um. Gibt hier drinnen nicht viel Kundschaft fürs Thai Ming
Sanara nickte. »Ich wusste auch nicht, dass du Gefühle simulieren kannst.«
»Für mich sind sie nicht simuliert. Sie sind einfach da.«
Interessanter Aspekt. Wie fühlen sich generierte Gefühle an? Können KIs jemals überhaupt etwas empfinden? Oder sind menschliche Empfindungen auch nichts anderes als aus Mustererkennung abgeleitete generierte Aktivierung von Hormln-Drüsen. Hmmm ...

Am nächsten Morgen rief Sanara John Carney an. »Eric hätte Ihre Karte nie aufgehoben«, sagte sie, »wenn er Ihr Angebot kennen würde.«
»Ich verstehe«, sagte Carney.
Klasse zwischen den Zeilen versteckt, wie Carney seine Karte dagelassen hat.

»Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie mich gefunden haben«, sagte Sanara. »Woher wissen Sie von diesen Resistenzen meiner Zellen?«
»Ich bin neugierig«, entgegnete Carney. Auf seinem Körper lag der Widerschein des glühenden Neuro-Pools. »Glauben Sie, dies hier ist eine Art Betrug?«
»Antworten Sie auf meine Frage!«
Das schwarze würde ich ersatzlos streichen, wirkte auf mich irgendwie fehl am Platz, da Carney die Firma vertritt und auch sonst eher geschäftsmassig agiert. Da ist kein Platz für Ich.
Eine Weile lag sie schwebend in der neuroaktiven Milch.
»Ich werde Ihren Kopf jetzt eintauchen lassen«, sagte Carney. »Dann beginnt es. Bereit?«
Die einzige Stelle, die mich zweifeln lässt, wie der Simulationsvorgang durchgeführt wird. Da einfach in einen Pool und einmal bitte Nase zu mit Untertauchen, das war mir zu unlogisch. Aber seis drum, wir sind bei SF und wer weiss, zu was uns alles neuroaktive Milch in der Zukunft befähigen wird.

»Diese Menschen hier wissen nicht, dass sie am Grunde eines Goldfischteichs leben. Sie haben von der realen Welt keine Ahnung.«
»Ich verstehe«, sagte Sanara.
»Ich rate Ihnen davon ab«, fuhr Carney fort, »Personen in der Simulation mit dieser Tatsache zu konfrontieren.«
Warum? Mehr als ungläubiges Kopfschütteln wird die Simulation, die über die positiven Gefühle wacht wohl nicht generieren.
Aber wie in der realen Welt verläuft die Zeit in der Simulation nicht vollkommen linear
»Was meinen Sie damit?«
»Ich empfehle Ihnen, Ihre Zeit nicht zu verschwenden. Wie draußen sind auch hier Achtsamkeit und Sorgfalt wichtig, bei allen Dingen, die Sie tun. Sonst werden die zwei Jahre hier sehr schnell vorbei sein und Sie könnten sich betrogen fühlen.«
Wie das? Schlägt die Zeit Haken, bzw. gibt es Rückblenden/Sprünge?
Das finde ich nun doch etwas komisch, einerseits wird ein sorgloses Leben ohne negative Emotionen generiert, aber andererseits soll man dann doch etwas sinnvolles (was immer das sein soll) mit den verbleibenden 2 Jahren anfangen.
»Der letzte Punkt betrifft Ihren Tod.« Carneys Blick ruhte auf Sanara. »Sie werden nicht wissen, wann es passiert. Es gibt kein exaktes Datum. Draußen vergehen zwei Jahre. Hier drinnen kann es sich wie drei anfühlen oder auch wie zehn.«
Gibt es keine Uhren in der generierten Welt?
Oder ist die Idee, dass in den 2 Jahren auch zehn Jahre Platz haben, wenn man (wie immer man das auch anstellen soll) achtsam und sorgfältig durch den Alltag treibt.
Zwei Minuten später waren die Angreifer fort. Sanara und Lan standen vor Erics Leiche. Neben ihm lag sein Schwager Mike, seine Waffe steckte noch immer im Hosenbund
Jo, Entscheidung gefallen. Sanaras Welt und ihr letzter emotionaler Hafen lösen sich im Pulverdampf auf.
Lan betrachtete ihre Hand im Sonnenlicht. »Es ist phantastisch, einen Körper zu haben«, rief sie gegen den Fahrtwind. Sanara saß am Steuer des Cadillacs. Sie fuhren auf einer Straße am Meer entlang.
»Es ist phantastisch, zu glauben, einen Körper zu haben«, rief Sanara zurück.
Herrlicher Schlusspunkt zum Nachdenken in einem sehr süffig geschriebenen SF-Story, bei der mir trotz ihrer Länge nie langweilig wurde.

Sehr gerne gelesen,
liebe Grüsse, dotslash

 
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Lieber @Achillus ,

CyberPunk! Oh ja! Das schöne Subgenre hat ja seit etwas über einem Jahr ein grandioses Revival erlebt und deine Geschichte stellt sich hier auch wunderbar in den gegebenen, literarischen Kontext (womit ich keineswegs! meine, dass du dich daran orientiert hast, sondern eben eine gute Positionierung erreichst). Dabei fehlt ausnahmsweise der multinationale Konzern als unbesiegbarer Antagonist im Hintergrund, aber es gibt - durchaus in etwas persönlicherem Rahmen und mehr 'gritty' - verschiedene Klein-Kartelle. Und auch, wenn du sehr viele Genre-Boxes tickst, wirkt die Geschichte unverbraucht und frisch.

Würde ich Werbung machen wollen, sagte ich: Für die Liebhaber von C. S. Friedmans This Virtual Night (2. Hälfte), Bigelows Strange Days (auch, wenn es dann nicht so hart kommt) und auch Bora Chungs schöner, überraschender Kurzgeschichte "Goodbye, My Love" aus Cursed Bunny.
Den Text könnte ich mir auch sehr gut im Druck vorstellen, das ist ein rundes Ganzes mit einem gut angelegten Spannungsbogen und einem tollen Ende. (Ich habs nicht kommen sehen.)
Gerade bei guten Geschichten lohnt sich kleinteiliges Frickeln, ich hab ein paar Vorschläge, schau, was du gebrauchen kannst.

Anders als der sehr geschätzte Dot @dotslash fand ich das mit der nicht-linearen Zeit übrigens sehr schön, und das klang für mich nach einer schönen spekulativen Aussage / Erklärung, die sich auch anderseits nicht in Details verliert.

Im Westen glühte der Smog blutrot über der Stadt.
Ich sehe durch das Glühen schon etwas Rot-Oranges, dann muss ich auf dunkler nachjustieren - halte ich für kontraproduktiv, weil du mit dem Verb das Adjektiv eigentlich überflüssig machst - raus? (Echt lustig, ich habe mich in letzter Zeit auch an einigen CyberPunk-Dystopien versucht und eine fängt fast identisch an, das find ich echt cool: Der Nachthimmel am Horizont erglüht über den Zugmaschinen, Baggern und Kränen – Māra ist sicher, dass sich die Großbaustelle von Norden her ins Land frisst, immer näher an den verlassenen Stadtkern Londons rückt.)
Im Westen glühte der Smog blutrot über der Stadt. Schwarz und erratisch glänzten die Türme der mittleren Bezirke im letzten Licht des Tages. Ausflugsschiffe, Gleiter und kleinere Frachter zogen hoch über der Skyline dahin.
erratisch? Sicher? -> Zufällig, verwirrt, verstreut?
Ich kenne das eher aus dem Englischen, z. B. behaving oder driving erratically.
mittlere Bezirke :confused: -> zentrale Bezirke
Das klein beim Frachter hier und das groß bei dem später würde ich kicken, weil ich hier wieder korrigieren muss, das nicht für so wichtig halte und dann es relativ ist (ich keinen Bezugspunkt habe), wie groß oder klein so ein Frachter ist. (Das klein des Erzählers muss nicht meines aus heutiger Sicht sein.)
Abri Sanara steckte sich eine Zigarette an. Sie stand vor Eric’s Diner, rauchte und schaute nach oben in den dunkelnden Dunst.
Das klingt sehr unschön, unhandlich. Dunst kommt ja noch einige Male - wie wäre es mit Dunkel / Dunkelheit / Dämmerung?
»Luxus, Lust, Entspannung«, sagte das Hologirl und streckte Sanara seine kaum bedeckten, absolut symmetrisch geformten Brüste entgegen. »Du wirst alle Sorgen vergessen.«
Der Duden erlaubt das Femininum bei Mädchen, und ich würde das nutzen. Seine Brüste klingt ohne Trans-Kontext einfach komisch.
Sanara warf die Zigarette weg, spuckte durch das Hologramm und wandte sich ab. Sie betrat das Diner, ging an einer Reihe von Tischen entlang und setzte sich auf einen Platz am Fenster. Sie winkte dem Mann hinter dem Tresen.
»Hey, Eric!«
Nach Thesen keinen Zeilenumbruch, weil dieselbe Figur etwas tut und dann was sagt - das verwirrt sonst auch, weil man denkt, jemand anderes spräche.
»Hey, Ab!«, sagte Eric
Schöner Name, auch schöner Vorname in der Langfassung, aber ich fliege jedes Mal raus, weil ich die Kurzform von abdominal muscles lese, man Wort so eben ständig sieht, und sei es nur bei Anzeigen neben den News. Eben auch, weil das hier in einem englischsprachigen Kontext spielt. Davon hab ich mich im gesamten Text nicht lösen können.
Sanara biss in einen der beiden Burger, kaute und schüttelte den Kopf. »Nee. Ich geh heute rüber zu Dusty. Hat was für mich, sagt er.«
»Dusty is ein Scheißkerl.«
»Kann sein. Aber er hat mich ab und zu den Laden putzen lassen.«
Eric lehnte sich vor. »Im Staxx geht ne Menge Scheiße ab. Besser, du reißt was am Markt auf. Die Chinesen brauchen immer Leute, die im Lager helfen.«
Ich mach mal nen ketzerischen Vorschlag: Das Milieu, in dem das hier spielt, ist ja recht skrupellos und ausbeuterisch, oder zumindest opportunistisch. Das ist nun recht heftiges Foreshadowing: Der Dusty ist selbst in diesem Umfeld ein gemeiner Hund. Aber letztlich bietet er dann ja gar nix so Schlimmes an. Denn: Seit sicher 15 Jahren gibt es sexuelle Folter und Mord an Säuglingen und Kindern vor der Kamera, und die Kunden reichen dafür ein Drehbuch ein (mit oder ohne Livestream). Oder diese ganze Crush-Industrie, die ähnlich läuft. Jetzt sind wir in der näheren Zukunft, in einer augenscheinlich recht gesetzlosen Welt und jemand wird von Semikriminellen als richtig böser Typ angesehen - und dann geht es um ein lockeres, einvernehmliches und bezahltes kurzes Geprügelt-werden? Hm.

Den Dusty könnte man vielleicht weniger hart zeichnen, sodass der Vorschlag eher überraschend kommt. Jedenfalls wäre es dann nicht so, dass die Aktion unter der Erwartung bliebe.

Sie betrat das Staxx und ließ den Blick über die Bar schweifen. Ein hagerer Mann am Billardtisch, der gerade sein Queue kreidete, nickte ihr zu. Sie ging durch den Raum. »Hey, Dusty!«, sagte sie.
»Tach, Ab!«, erwiderte er.
Wie später noch mal: Das kann raus, denn was der Erzähler beschreibt ist schon klar auch das, was wir mit ihren Augen sehen.
-> Sie betrat das Staxx. Am Billardtisch kreidete ein hagerer Mann sein Queue, nickte ihr zu.
Was sagst du?
»Ganz schön was los hier.« Sanara schaute sich um. Männer der Clans saßen an den Tischen, derbe Typen, die meisten wortkarg und mürrisch.
Clanmitglieder? Mitglieder befreundeter Clans?
Mit 'die meisten' kann ich nix anfangen, in so einem Schnelleindruck muss es imA nicht so arg genau sein. Dann frage ich mich: Und die anderen quatschen ohne Punkt und Komma? Eigentlich reichte mir 'derbe Typen', weil das bereits die weiteren Adjektive beinhaltet.
Ein paar Chinesen spielten Mahjong und an den verzinkten Tresen gelehnt, standen fünf, sechs Tec-Freaks und starrten mit ihren synthetischen Augen finster in die Runde.
Klar finster. Solche Typen gucken immer finster - überlass das lieber dem Leser, weil das synthetisch bei den Augen eine sehr viel coolere Info ist, mit der ich viel mehr anfangen kann.
Statt verzinkter Thesen vielleicht Aluminiumthresen? Ich hab nicht grundsätzlich was gegen Adjektive / Adverbien, aber hier im Text gerätst du anzahlmäßig in einen kritischen Bereich.
»Is das neuste Ding«, sagt Dusty noch einmal. »Kann man viel Schotter mit machen, im Moment.«
Schotter klingt ziemlich 60es. Vielleicht durchaus ein Kunstwort nehmen? Zumal die sicher kein Bargeld mehr verwenden.
»Is alles halb so wild«, sagte er. »Viele Getue dabei.«
Hehe!
»Versteh ich nicht«, sagte Sanara. »Was soll daran neu sein?«
Dusty lächelte. »Neu daran is, dass sich ein User in das Neuroimplantat einloggen kann.«
»Und?«
»Verstehst du nicht? Der User sitzt zu Haus, entweder vor dem Display oder in der Holo-Sphere. Er bedient eine Konsole, steuert die Action. Lässt ein bisschen Dampf ab.«
»Er verprügelt den anderen Typen?«
»Genau.«
Ich dachte ganz zuerst, du gingst mit der Szene in Richtung Cybrothel Berlin. Hab das grad in einer sehr unterhaltsamen Doku gesehen (Sex Actually with Alice Levine, S2 E1).
So richtig heftig ist das natürlich nicht, aber die Kunden sind wohl durchaus spießige Ottonormalverbraucher, oder? Kommen die aus der Sozialsphäre der Reichen? Wo eben Gewalt sanktioniert wird? Sonst finde das recht harmlos (siehe eben: Realität heute sowie Strange Days bereits von 1995).
Noch immer ging Regen in grauen Schleiern auf den heruntergekommenen District nieder.
Ich würde statt der vielen Adjektive, die betonen, wie kaputt und dystopisch alles ist, lieber ein paar kurze Beschreibungen (Substantive) nehmen. Und Grauschleier ist ein Wort in anderem Kontext (Gardinen, Stoff), das würde ich kicken. Die Schleier finde ich wieder sehr gut, das ist sehr bildlich.
»Okay, gut. Und wie lief es bei Dusty?«
»Hattest recht«, sagte Sanara. »Der Typ is ein Stück Scheiße.«
»Was wollte er denn?«
Hier wieder: Dusty ist der mega harte Kerl, aber er kommt mir im Umfeld deiner Geschichte eigentlich eher harmlos vor, und so naiv wirken auf mich weder Sanara noch Eric oder Chow.
»Mein Name ist Carney«, rief der Fremde ihr hinter. »John Carney.«
Sehr, sehr cool - stand Lon Charney Pate? Würde gut passen als kleine Frankenstein-Referenz. Der Typ ist richtig gut gezeichnet, imA die deutlichste Figur von allen.
Am nächsten Morgen setzte das erste Licht den Dunst im Osten über der Stadt in Brand. Sanara trat auf die schmale Terrasse ihres Appartements im elften Stock. Eine Zigarette zwischen den Lippen stand sie, nur mit Slip und ausgeblichenem T-Shirt bekleidet, in der Kühle des neuen Tages und schaute in die Richtung der Zentralbezirke. Die schlanken Rümpfe der Jets und Gleiter, die dort über den gewaltigen Konstruktionen der Innenstadt schwebten, glitzerten in der Sonne.
Gefällt mir sehr, sehr gut. Durchaus Genre-typisch, aber dennoch persönlich und sehr visuell rund.
»Wie geht’s dir?«, sagte er.
fragte
Ich weiß, man kann Fragen auch mit einer Statement-Betonung sprechen, da dann das ? weglassen. Aber hier geht das imA nur als echte, deutliche Frage.
Sanara schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Manchmal ist alles so …« Sie schwieg.
»Hey, lass dich nicht hängen, Ab. Beiß dich durch! Hast du doch bis jetzt immer geschafft.«
»Schon, aber …«
Sie hielt inne. Ein großer Frachter, der zum Sinkflug angesetzt hatte und auf den Zollhafen zusteuerte, dröhnte über dem Wohnblock. Die Scheiben in den Fenstern klirrten.
»Ich versuch es heute doch mal bei den Chinesen«, fuhr sie fort, nachdem sich das Cargoschiff entfernt hatte. »Darf bloß Eddie nicht über den Weg laufen.«
»Eddie Chow? Wieso?«
»Hab grad ein bisschen Stress mit dem.«
»Ach ja? Warum denn?«
»Egal, Eric. Wir sehen uns heute Abend.«
Das Bild mit dem Frachter gefällt mir extrem gut, schönes Bild (wie gesagt: groß wäre nicht nötig, v.a. bei dem Lärm).
Ansonsten kann imA der Text an einigen Stellen (v.a. bei Dialogen mit den Männern: Dusty, Chow und Eric) mehr Tempo vertragen.
Was du hier enorm gut vorbereitest, ist die zunehmende Ausweglosigkeit, finanzielle Zwangslage, da zieht sich die Schlinge zu, das ist sehr gut gemacht insgesamt. Das würde aber auch rauskommen (vllt. sogar besser), wenn du einiges Hin und Her abkürzt - meine: Wörtliche Reden statt so viel kurzem Pingpong eher in etwas längeren Statements und dafür weniger Wechseln. "Ach ja, warum?" und die vielen Nachfragen sind ja eher dazu da, das Gespräch am Laufen zu halten und das bremst aber stark aus. Ich verliere in den Momenten auch etwas das Interesse, obwohl mich die Geschichte an sich mitgerissen hat. Willst du damit Härte vermitteln, geh doch lieber über Ellipsen.
Sanara hatte schützend die Arme gehoben, aber die Wucht des Hiebes riss ihr die Hände weg.
No shit, Sherlock! Auch in diesen Szenen durchaus mehr in temporeiches, elliptisches Erzählen gehen. Nicht dies im Tempo wie das Bargespräch. Der Hieb riss vllt. statt da dem Genitiv, was immer etwas durchdacht = mit Zeit erzählt wirkt.
Sie rannte weiter und hörte hinter sich das Krachen der Skateboards. Die Jungen, Teenager mit tätowierten Unterarmen, holten sie einer halben Minute ein. Ein Tritt zwischen die Schulterblätter, Sanara verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte in vollem Lauf, der Asphalt riss ihre Hände blutig. Sie drehte sich um und sah, wie einer der Jungen von seinem Board sprang. Mit einem Kick wirbelte er das Brett in die Luft, fing es und schlug damit zu. Sanara hatte schützend die Arme gehoben, aber die Wucht des Hiebes riss ihr die Hände weg. Der andere Junge spuckte auf den Boden und versetzte ihr einen Fußstoß gegen die Schläfe. Sie kippte zur Seite und blieb reglos liegen.
lief / rollte oder sank
Klingt sonst zu niedlich.
Zum lila markierten: Siehe oben zum Umweg über den Blick. Lieber direkt.
In der Restaurantküche von Frau Chow kam sie zu sich. Frau Chow stand am Fleischerbrett und hackte Hühnchen in kleine Stücke. Eddie, ihr Sohn, saß Sanara am Tisch gegenüber und rauchte. Einer der Jungen war auch da. Er lehnte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck nahe der Tür in einer Ecke der Küche.
Wortwiederholung. Der letzte Satz ist mir viel zu kleinteilig.
Statt Eddie, ihr Sohn ginge auch gut: Ihr Sohn Eddie ... (Da wären noch andere Stellen im Text, vllt. mal ein Auge draufwerfen.)
Hinter ihm knallte das Hackbeil von Frau Chow.
Haha, das ist ein so derart gutes Bild. Und mehr Figurenzeichnung brauchst du nicht. Sehr klasse!
strich über sein Haar, das an einigen Stellen bereits grau wurde.
strich sich übers graumelierte Haar
(Klar wird es mit der Zeit grau).
»Ich kenn dich, seit deine Familie vor zehn Jahren hierhergezogen ist«, sagte Eddie. Er blies Rauch in den Raum und strich über sein Haar, das an einigen Stellen bereits grau wurde. Hinter ihm knallte das Hackbeil von Frau Chow.
»Dein Vater hat manchmal im Lager gearbeitet. War ein guter Mann.«
Sanara fasste sich an die Schläfe und verzog das Gesicht.
»Ich habe dich bei mir arbeiten lassen, weil mir das mit deinen Eltern leidgetan hat«, fuhr Eddie fort. »Habe dir so viel gezahlt, wie den Jungen.«
»Mister Eddie, ich …«, setzte Sanara an. Eddie hob die Hand und sie schwieg.
»Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie oft du im Lager geklaut hast?«, sagte er. »Ich habe darüber hinweggesehen.«
Er drückte seine Zigarette im Ascher aus. »Weil ich Mitleid mit dir und deiner Familie hatte. Und weil es bisher Kleinigkeiten waren. Bisschen Tee oder Reis, ein Paar Sandalen.«
Eddie erhob sich. »Doch du hast meine Geduld überstrapaziert, Ab.« Frau Chow unterbrach ihre Arbeit und musterte Sanara mit einem strengen Blick. Sie sagte etwas zu ihrem Sohn auf Mandarin und schwang wieder das Beil.
»Letzte Woche hast du Antiquitäten mitgehen lassen«, sagte Eddie. »Eine Schriftrolle, einen kleinen Jadekasten, eine Armeepistole. Was hast du damit gemacht?«
Sanara presste die Lippen zusammen. Sie blickte zu Frau Chow, dann zu dem Teenager in der Ecke und schließlich sah sie Eddie an. »Hab’s verkauft«, sagte sie.
Eddie nickte. »Dachte ich mir. Wieviel hast du dafür bekommen?«
»Hundertfünfzig.«
Der Junge pfiff durch die Zähne und Eddie schüttelte den Kopf.
»Verdammt, Ab!«, sagte er. »Diese Dinge waren gut doppelt so viel wert.«
»Sie kriegen das Geld«, sagte Sanara.
»Darauf kannst du wetten!«, erwiderte Eddie. »Und zwar die vollen dreihundert Dollar. Und jetzt geh mir aus den Augen!«
Zu diesem Dialog siehe Anmerkung oben: Zu viel Pingpong. Das grenzt auch an Infodump, und dann hab ich mit Eddie ein Problem: Der wirkt auf mich null chinesisch. Anders als seine Frau.
So, wie du die Sprache des Androiden angemessen gestaltet hast, würde ich Eddie ganz extrem effizienter und weniger laberig reden lassen. Ich sehe da einen dickbäuchigen Weißen vor mir, eher sowas aus einem italienischen Feinkostladen. Ja, okay, mögen auch Klischees sein. Aber du hast quasi Pech, dass ich einige Jahre mit einem Chinese-American zusammen war, mit dem chinesischen Teil seiner Familie viel mehr zu tun hatte und auch mit ihm regelmäßig in vielen Chinatowns (Westküste, auch NY) unterwegs war.

Ich hab das immer als extrem effizientes, energiesparendes Reden erlebt (für Europäer vllt. sogar unhöflich / harsch wirkend, obwohl das nicht immer bzw. unbedingt so gemeint ist). Beispielhaft ist mir ein Satz des Onkels meines damaligen Partners im Gedächtnis geblieben (der Onkel war Biker und in mafiösen Strukturen unterwegs, aber zu Hause war alles recht gutbürgerlich). Seine Frau bot uns Kaffee an und fragte ihn, ob er auch eine Tasse wolle. Er sagte: "Don't waste my time!" Weil es kein Alkohol war. Das kam ganz knapp und harsch, aber nicht aggressiv, und diese Art begegnete mir überall. Will sagen: So, wie der Android seine effiziente, aber höfliche, Art zu sprechen hat, könnte Eddie effizient und harsch-knapp klingen. Dann vermittelte das auch mehr Ernsthaftigkeit, Gefahr (Im Sinne von: Wenn sie das Geld nicht zurückzahlt ...).

Ach ja: Da du sehr betont das amerikanische Setting ausschmückst - was ja super ist und sehr gut passt -, solltest du auf das Siezen verzichten. Das kegelte mich jedes Mal raus. Linguistisch gesehen wird jede Sprache erst komplexer und dann simplifizierter, und das Englische hat zum jetzigen Zeitpunkt das Sie (thou = Ihr) schon lange abgeschafft, da ist es extrem unwahrscheinlich, dass die wieder ein Sie einführen. Das dann ja auch eher ein Ihr / Euch wäre.

»Tja«, sagte Sanara, »geht doch jedem hier beschissen.«
Ich finde klasse (das wird viel zu selten gemacht), dass du die Redebegleitsätze mittig positionierst. Hier kann ich mir auch vorstellen, das bei identischem Wortlaut mit einem Neuansetzen dezidierter / knapper klingen zu lassen:
»Tja«, sagte Sanara. »Geht doch jedem hier beschissen.«

spuckte durch das Hologramm
Das finde ich ja so gut! SF-Elemente werden viel zu wenig genutzt, um sie mit alltäglichen Gesten / Handlungen zu verbinden. Genau das zeigt ja die Selbstverständlichkeit des Zukunftsentwurfes (wobei du ja in der sehr, sehr nahen unterwegs bist).
Über das schwarze Wasser der Docks geisterten die Reflexionen der Lichter der Innenstadt.
Das an sich schöne Bild zerredest du achteraus. die - der - der : da besser was bügeln.
Sanara lag im dunklen Appartement auf ihrem Bett
... lag im Dunklen auf dem Bett (oder so?). Manchmal einen Tick zu wortreich / umständlich / kleinteilig.
Sanara lag im dunklen Appartement auf ihrem Bett und schaute durch die Fenster auf die erleuchtete Skyline der Stadt, die im allgegenwärtigen Dunst der Emissionen zu schweben schien.
Scheinen ist nicht so dolle. Ist ja auch klar, dass es ein visueller Eindruck ist, das würde ich weniger 19th Cent. ausdrücken - denn an sich ist auch das eine schöne Szene und ein gutes Bild.
Aus den Boxen der Anlage rieselte der Ambientsound von Radio Ocean auf sie herab: Meeresrauschen, Sphärenklänge, der klagende Gesang eines Wals
Klar ist in SF nicht alles Zukunft. Aber mir fehlt eines im Text: Du bist in der Zukunft, aber es gibt keine kulturellen Referenzen, die tatsächlich zukünftig sind. Eher noch sind es solche aus den 60ern bis 80ern. Hier wäre ein toller, leicht verständlicher Punkt, mit einer bislang nicht existierenden Musikrichtung zu punkten.

Als der Holo-Countdown auf Null sprang, ging ein Ruck durch den Körper von Steve.
Ungelenk, aber an sich ein guter Spannungsmoment. ->
... durch Steves Körper.
Es war ein Schlag mit der flachen Hand. Sanara riss reflexhaft die Arme hoch, doch Steve war schneller. Es knallte, Sanara schrie, taumelte und prallte gegen eine Wand.
Zu den Kampf/Verletzungsszenen s.o.
Als Sanara etwa zwanzig Schritte vom Diner entfernt war, knickten ihre Knie ein.
Klar, genau zwanzig Schritte ist pedantisch. Aber dass der Erzähler hier schätzen muss, finde ich ungünstig. Vielleicht konkreter: An der Straßenecke, ein Haus weiter, nach einem halben Block ... oder so?
»Ich bin gleich wieder da, Süße!« Lan stand auf und rannte los.
Auch sehr altmodisch. Außerdem Vorsicht: Das Wort ist im SF-Kontext sehr auffällig, es wird aber von zwei Figuren verwendet: Lan und einem Mann (ich glaube, Dusty).
»Für mich sind sie nicht simuliert. Sie sind einfach da.«
Vom Effekt und dem Emotionalen her würde ich das gegendrehen (ggfs. mit Bindestrich statt Punkt dann):
»Sie sind einfach da. Für mich sind sie nicht simuliert.«
Wie ein verängstigtes Kind presste sich Lower East End gegen die stahl- und chromglänzenden Bauten der Innenstadt.
:confused: Das grenzt imA an eine Stilblüte (im Kontrast zum ganzen Rest des Textes). Der Vergleich fällt auch völlig aus der Erzählhaltung, und - auch, wenn ich selbst Texte mit quasi-personifizierten Gebäuden schreibe - das kriege ich so nicht zusammen. Auch von der Symbolik her imA zweifelhaft, zudem ja verdreht, weil von der Baugeschichte her die Chromglanzhäuser die 'Kinder' der älteren Bauten wären.
»Das ist richtig«, erwiderte Carney, hob die Hand und wies auf den Neuro-Pool.
Hast du weiter unten noch mal mit dem Arm heben. Wenn jemand irgendwohin weist, wird klar der Arm gehoben, und dann müsstest du ihn nach dem Weisen wieder sinken lassen und schon bist du in Teufels Küche. :-) Also: besser kicken.
groß genug, um ein paar Schwimmzüge darin zu machen, fluoreszierte eine milchige Flüssigkeit mit bläulichem Glimmen.
Auch bissl lange Kette, ich verliere das Bild. Zumindest: glimmte bläulich? Oder so, dass es eine Verbkette statt einer Kette mit immer Adjektiv + Substantiv wird?
»Hätte ich Sie eher gefunden«, sagte Carney, »wäre der Wert Ihres Körpers höher gewesen. Man hätte Ihnen ein Angebot von fünf Jahren gemacht. Leider haben Sie nicht besonders gut auf Ihre Gesundheit geachtet.«
Das ist sehr cooles Foreshadowing, aber es macht auch ihre Lage deutlich bedrückender. Hat fast einen Countdown-Effekt und das macht ihre Entscheidung dann auch umso glaubwürdiger.
Carney hob den Arm und deutete auf einen Pfad,
s.o. Besser raus.
Carney öffnete die hölzerne Eingangstür und führte Sanara durch das Haus.
eine / die Holztür? Oder sowas. Grad auch schlecht, weil hölzern im übertragenen Sinne was anderes bedeutet.
»Können wir damit fahren?«, fragte Sanara.
Bei Tempo einhundert lächelte Sanara, strich mit der Hand über die Ledersitze und betrachtete die dahinrauschende Landschaft. Der Fahrtwind zauste in ihrem Haar.
Klar mit der Hand.
Ich glaube, so geht das mit dem Zausen nicht. ... zerzauste ihr Haar.
Während sie auf ihren Cappuccino warteten, beobachtete Sanara die anderen Gäste des Lokals. »An so einem Ort bin ich noch nie gewesen«, sagte sie.
Hier wäre interessant gewesen, ob sie Cappuccino kennt, oder das was Fremdes für sie ist.
Carney nahm den Löffel, rührte in seinem Kaffee und sagte: »Diese Menschen hier wissen nicht, dass sie am Grunde eines Goldfischteichs leben. Sie haben von der realen Welt keine Ahnung.«
»Ich verstehe«, sagte Sanara.
»Ich rate Ihnen davon ab«, fuhr Carney fort, »Personen in der Simulation mit dieser Tatsache zu konfrontieren.«
Das würde ich auch lieber zusammenziehen, weil das eindrücklicher wirkt, das ist eine so tolle Passage, das sollte nicht zerredet werden:
»Diese Menschen hier wissen nicht, dass sie am Grunde eines Goldfischteichs leben. Sie haben von der realen Welt keine Ahnung.« Carney rührte im Kaffee und fuhr fort: »Ich rate Ihnen davon ab, Personen in der Simulation mit dieser Tatsache zu konfrontieren.«
Was sagst du?

»Ihr Angebot lautet zwei Jahre«, sagte Sanara.
»Das ist richtig. Aber wie in der realen Welt verläuft die Zeit in der Simulation nicht vollkommen linear.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich empfehle Ihnen, Ihre Zeit nicht zu verschwenden. Wie draußen sind auch hier Achtsamkeit und Sorgfalt wichtig, bei allen Dingen, die Sie tun. Sonst werden die zwei Jahre hier sehr schnell vorbei sein und Sie könnten sich betrogen fühlen.«
Sehr schön gemacht, weil du kontinuierlich Spannung aufbaust.
»Der letzte Punkt betrifft Ihren Tod.« Carneys Blick ruhte auf Sanara. »Sie werden nicht wissen, wann es passiert. Es gibt kein exaktes Datum. Draußen vergehen zwei Jahre. Hier drinnen kann es sich wie drei anfühlen oder auch wie zehn.«
Das weckt insofern große Spannung, als dass ich mich frage, ob aus den zwei Jahren nicht nur gefühlte drei oder zehn werden können, sondern auch ein halbes - war das deine Intention?
Just saying: Ich bin echt kein Freund von Blicken als Akteuren. Ist ziemlich klar, dass er sie anguckt.

Es wird nicht schmerzhaft sein, nichts Qualvolles. Kein Drama.«
Haha, sehr gut! (Der erste Satzteil könnte auch raus, dann noch ein bissl peppiger.)
»Die Leute reden«, sagte er. »Is ein kleines Rattenloch, in dem wir hier leben.«
Sanara zuckte die Schultern.
Ich halte es gar nicht für nötig, ständig die Figuren betonen zu lassen, wie abgeranzt die Umgebung ist / ihre Welt ist.

Sanaras Blick glitt über die im letzten Tageslicht schimmernden Hochbauten der Innenstadt, weiter zu den leprösen Ghettos der Randbezirke, von denen Lower East End der heruntergekommenste war. Schmutzig, verwahrlost, sich selbst überlassen kauerte das Viertel am Rande der gewaltigen Einöde, die jenseits der Metropole lag.
Siehe ganz am Anfang: Man sieht Leser ja eh, was sie sieht. Lieber direkt. Und: gleitende / wandernde Blicke ist eh ziemlich meh.
Fettes: weniger ist mehr. Ist ja nicht so, dass man solche Settings gar nicht kennen würde.
»Ich habe eine Bedingung«, sagte sie.
»Und die wäre?«
»Ich nehme Ihr Angebot an«, sagte Sanara. »Aber ich will, dass der Algorithmus etwas in meine Simulation einfügt.«
»Ich bin nicht sicher, ob …«
Sanara schaltete das Gerät ab. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Abendluft.
Sehr geil, das danach hab ich echt nicht kommen sehen!

Auch hier könnte man eine Schleife rausnehmen:
»Ich nehme Ihr Angebot an«, sagte sie. »Unter einer Bedingung: Dass der Algorithmus etwas in meine Simulation einfügt.«
»Ich bin nicht sicher, ob …«
Sanara schaltete das Gerät ab. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Abendluft.

Dann passte der Beginn viel besser zum Auflegen, finde ich.

Was für ein grandioses, geiles Ende! Und nicht zu süßlich andererseits.
Ich finde es ohnehin ganz wunderbar hingeleitet / entwickelt, wie das Hologirl immer persönlicher/runder wird und sich Sanaras Haltung weniger merklich, aber eben auf wichtige Art verändert. Das ist eine absolut tolle Idee und das sind mit diesen Details auch echt ganz frische Figuren. Wirklich großes Lob. Zumal CyberPunk durch die Genrebedingungen einladen könnten, hier etwas ins Klischee zu rutschen, das umgehst du gerade bei den Frauen und auch bei Carney wirklich richtig gut.

Uff, das wurde mal wieder viel länger als geplant! Ich hoffe sehr, dass du damit etwas anfangen kannst. Wie gesagt: Das könnte sehr gut im Druck irgendwo erscheinen, vllt. wenn ein paar kleine Redundanzen raus kämen und ein paar zukunfts-orientiertere Ideen (wie die Musik, und vllt. ein Getränk etc.) reinkämen.

Ein sehr schönes Stück CyberPunk, hat mich irre gefreut zu lesen und ich freue mich eh, dass du wieder mehr schreibst!
Alles Liebe und schöne freie Tage,
Katla

 

Hallo @Achillus,

ich belästige dich erst mal mit Textkram:

Schwarz und erratisch glänzten die Türme der mittleren Bezirke im letzten Licht des Tages.
Erratisch glänzen? Laut meiner Synonymliste passt das nicht.

Sanara warf die Zigarette weg, spuckte durch das Hologramm und wandte sich ab
Das ist stark! Besser kann man ein Hologramm, das man (noch!) verachtet, nicht beschreiben!

Als Sanara das Diner verließ
Den Diner.

Zwischen den abgerissenen Figuren, den Pennern und Punks, den Nutten und den Dealern lief Sanara durch die anbrechende Nacht
Ein "und" kannst du sparen.

»Hat damit nix zu tun. Jedenfalls nicht direkt.«
Guter Spannungsaufbau.

Lower East End - Viertel.
Lower East End-Viertel

Am nächsten Morgen setzte das erste Licht den Dunst im Osten über der Stadt in Brand.
Schön, wieder mal eine gute bildhafte Beschreibung zu lesen.

»Pass auf dich auf, Ab!«

»Doch du hast meine Geduld überstrapaziert, Ab

Dieses nachgestellte "Ab" kommt etwas zu häufig vor.


Sie stürzte in vollem Lauf, der Asphalt riss ihre Hände blutig. Sie drehte sich um und sah, wie einer der Jungen von seinem Board sprang. Mit einem Kick wirbelte er das Brett in die Luft, fing es und schlug damit zu. Sanara hatte schützend die Arme gehoben, aber die Wucht des Hiebes riss ihr die Hände weg. Der andere Junge spuckte auf den Boden und versetzte ihr einen Fußstoß gegen die Schläfe. Sie kippte zur Seite und blieb reglos liegen.
Manche Satzanfänge mit "Sie" kannst du vermeiden.

»Manchmal glaub ich, die sind gar nicht so anders, als wir.«
Interessant, gute Vorbereitung auf die Gesprächsabschnitte zwischen dem Holo-Girl und Sanara.

Das schlanke Schiff zog einen feinen Kondensstreifen vor der Schwärze des Alls und bewegte sich mit Umkehrschub auf einen der Tower der Innenstadt zu.
Die Schwärze wird man nicht sehen, bei dem Dunst?

Jetzt könnte ich noch eine Menge Zitate von gelungenen Textpassagen anführen (oft wird leider nur Negatives aufgeführt), will es aber bei den bisherigen belassen.

Eine gute, atmosphärische, glaubhafte SF-Geschichte ist dir gelungen! Die Darstellung des Innenlebens der vorkommenden Personen (und Pseudo-Personen) ist überzeugend. Sanara kämpft, wägt ab, ohne Klischees zu bedienen. Wie oft vermisse ich Originalität oder Tiefe. Dein Text bietet beides: Die Entscheidung, das Angebot des Androiden anzunehmen, hat durchaus philosophische Qualität.

:thumbsup::thumbsup::thumbsup:

LG,

Woltochinon

 

Hallo @Achillus

Ein möglicherweise langes, mieses Leben gegen zwei Jahre voller Glück – wer würde da noch zögern? Oder?

Ich bin gerne in deine düstere Welt eingetaucht und fand sie stimmig und, wie man so sagt, atmosphärisch dicht dargestellt. Viele nette Details, die Handlung mit dem Chinesen, das Holo-Girl, es wurde nie langweilig, obwohl der Text ziemlich lang ist.

Aber ein bisschen Meckern muss sein.

Du hast dir über einen großen Teil der Geschichte hinweg redlich Mühe gegeben, die Lebensumstände von Abri/Sanara (welcher Vorname stimmt denn nun eigentlich?) so richtig schlecht zu zeichnen. Das braucht es ja auch, damit ihre Wahl am Ende plausibel wird. Immerhin gibt sie ja ein möglicherweise langes Leben auf. Sie wohnt aber in einem Appartement, nimmt dort ihr Frühstück ein, hat eine tolle Aussicht auf die Skyline, lässt sich aus den Boxen der Anlage von Ambientsound berieseln – nicht schlecht. Die Bleibe will ich auch!

Punkt zwei meiner Kritik betrifft den Grund, den der Android für das Interesse des Konzerns angibt. Mit Klontechnologie sollte das fast heute schon zu machen sein, oder? Aus dem Klon könnte man die benötigten Muskeln, Knochen und so weiter entnehmen und die arme Abri/Sanara müsste gar nicht sterben. Will sagen, für die Geschichte wichtige wissenschaftliche Fakten sollten plausibel in die Geschichte integriert sein, gerade in einer Science-Fiction-Story. Da könntest du aus meiner Sicht noch nachbessern.

Nun noch Kleinigkeiten:

»Habe dir so viel gezahlt, wie den Jungen.«
Wird doppelt so oft gebucht, wie alle anderen.
Das kam noch ein paar Mal vor, auch in Verbindung mit als.
Ohne Komma, da mit der vergleichenden Konjunktion kein Nebensatz eingeleitet wird.

Grüße
Sturek

 

Hallo Dotslash! Vielen Dank für Deinen Kommentar, ich habe mich sehr darüber gefreut. Nachdem ich mit dem Schreiben fertig war und gesehen habe, wie lang die Geschichte geworden ist, kam mir der eine oder andere Zweifel, ob das Ding überhaupt von jemandem gelesen wird.

Tolles Worldbuilding, Tech trifft Menschlichkeit, verschiedene Gesellschaftsschichten in distopischem Setting, wer Luc Besson und Christopher Nolan kennt, müsste sich sofort heimisch fühlen.

Das hatte ich gehofft. Allerdings trieb mich auch die Frage um, ob jemand mit dem Text was anfangen kann, der diese Referenzen nicht kennt.
Was mir besonders gefallen hat, war die aufblitzende Menschlichkrit, die sogar vor KI "Holosapiens" nicht Halt macht.

Das hat ein bisschen mit meinen Experimenten mit ChatGPT zu tun. Ich war erstaunt darüber, wie empathisch die KI wirkt. Auch wenn ich weiß, dass sie es nicht wirklich nicht.

Kann ich mir gut vorstellen, wie so ein feister Zentralbezirkbonze für Kohle "Dampf ablassen" darf. Ätzend!

Ja, das Zynische daran fand ich, dass es mal wieder die Schwächsten der Gesellschaft sind, die sich zum Vergnügen der Elite gegenseitig fertigmachen.

Aha, geht ums Geld und nun wird klar, das Sanara in der Klemme steckt, sie braucht dringend einen Job. Scheiss drauf, irgendeinen.

Das war eine Grundfrage der Story: Was sitzt Sanara im Nacken? Ist es Armut, Gewalt, ein gesundheitliches Problem? Ich habe mich für die Armut entschieden, weil die wie ein Verstärker aller zusätzlichen Probleme wirkt. Darüber hinaus glaube ich, dass sozialer Frieden, dass eine gerechte Gesellschaft erst durch die Überwindung von Armut möglich wird. Und hier sieht man das Gegenteil davon.

Und damit erhält das Hologirl brereits eine neue Rolle, obwohl künstlich generiert, reflektiert sie wie ein Mensch.

Das Hologirl beginnt von einem reinen Funktionsträger (Werbung) zu einem sozialen Akteur zu werden. Ich fand, dass man diesen Wandel an der Figur gut darstellen kann.

Wieder ein Fünkchen Menschlichkeit in dieser rauen Welt. Sehr schön, gefällt mir äusserst gut.

Ursprünglich hatte ich geplant, den Hafenmeister noch begründen zu lassen, warum er so handelt. So etwa: Ich habe eine Tochter in deinem Alter. Aber dann fand ich es besser, das wegzulassen. Ich fand, dass es glaubhaft ist, dass hier auch mal einer etwas tut, um dem Mädchen zu helfen.

Das schwarze würde ich ersatzlos streichen, wirkte auf mich irgendwie fehl am Platz, da Carney die Firma vertritt und auch sonst eher geschäftsmassig agiert. Da ist kein Platz für Ich.

Guter Hinweis, denke ich drüber nach.
Die einzige Stelle, die mich zweifeln lässt, wie der Simulationsvorgang durchgeführt wird. Da einfach in einen Pool und einmal bitte Nase zu mit Untertauchen, das war mir zu unlogisch. Aber seis drum, wir sind bei SF und wer weiss, zu was uns alles neuroaktive Milch in der Zukunft befähigen wird.

Ich verstehe Dich. Das ist ziemlich reduziert dargestellt. Mein Gedanke dabei war, dass die Art und Weise, wie man diese Virtuelle Realität kreiert bei ausfürlicher Beschreibung auf eine Menge Tec-Blabla hinausläuft. Aber vielleicht habe ich es hier zu kurz gefasst.

Warum? Mehr als ungläubiges Kopfschütteln wird die Simulation, die über die positiven Gefühle wacht wohl nicht generieren.

Im Grunde sollte das andeuten, dass Sanara in der Simulation auch »mitspielen« muss. Es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden können. Beispielsweise, dass die KI-Charakere in der Simulation nicht wissen, wer sie wirklich sind. Das hatte den Hintergrund, dass ich verhindern wollte, eine zu realistische Simulation zu schaffen. Es ist immer noch so etwas wie ein sehr fortgeschrittenes Computerspiel.

Wie das? Schlägt die Zeit Haken, bzw. gibt es Rückblenden/Sprünge?
Das finde ich nun doch etwas komisch, einerseits wird ein sorgloses Leben ohne negative Emotionen generiert, aber andererseits soll man dann doch etwas sinnvolles (was immer das sein soll) mit den verbleibenden 2 Jahren anfangen.

Mit »nicht linear« hatte ich gemeint, dass die Empfindung für die vergehende Zeit nicht gleichmäßig/ einheitlich ist. Wenn man es falsch anfängt, vergeudet man die Zeit, die einem bleibt. So wie in der Realtität.

Gibt es keine Uhren in der generierten Welt?
Oder ist die Idee, dass in den 2 Jahren auch zehn Jahre Platz haben, wenn man (wie immer man das auch anstellen soll) achtsam und sorgfältig durch den Alltag treibt.

Ja, das ist der Punkt. Ein Tag wird auch in der Simulation damit beginnen, dass die Sonne aufgeht. Und am Ende des Tages geht sie unter. Ob dann aber in der realen Welt auch ein Tag vergangen ist, hängt von Sanaras Umgang mit den Dingen ab.

Herrlicher Schlusspunkt zum Nachdenken in einem sehr süffig geschriebenen SF-Story, bei der mir trotz ihrer Länge nie langweilig wurde.

Du hast mir mit Deinen Gedanken und Hinweisen eine große Freude gemacht, danke Dotslash!

Gruß Achillus

 

Hallo @Achillus

Ich habe mich sehr gefreut, dass hier eine SciFi Story aufgetaucht ist! Als schreibender habe ich immer noch Probleme mit diesem Genre. Hatte mich bei meiner ersten Story diesbezüglich ganz schön verhoben.

Als Leser ist mir alles aus dieser Richtung aber immer willkommen. Und du hast hier ein ganz exzellentes Potpourri angerührt. Cyberpunk, das Thema Androiden/Roboter/KI und alternative/virtuelle Realität hast du gekonnt zu einer spannenden Story gemixt.

Besonders schön fand ich es, dass du immer kleine Zitate/Verneigungen vor Klassikern eingebaut hast. Blade Runner, natürlich. Matrix, Strange Days usw. Die wichtigste Verbeugung kommt am Schluss, dazu gleich mehr. Erst mal zu einzelnen Punkten:

Im Westen glühte der Smog blutrot über der Stadt.
Das wollte ich fast kritisieren, weil der Einstieg übers Wetter halt so gängig ist. Aber im weiteren Verlauf habe ich verstanden, warum das sogar so sein muss. Ich komme noch darauf zurück.

spuckte durch das Hologramm und wandte sich ab.
Das ist klasse charakterisiert. Diese erste Abneigung und das Desinteresse gegenüber dem Holo. Ich weiß als Leser ja noch nicht, was kommt und hätte mich vermutlich ähnlich verhalten.

Sie zog die Kapuze hoch und ging die Mainstreet hinunter bis zum Temple Square, wo nachts Hundekämpfe stattfanden und dann weiter in die engen, stets belebten Gassen des Lower East End mit seinen Nudelküchen und Massagesalons.
Jetzt fehlt nur noch Harrison Ford. Großartige Verbeugung!

Am nächsten Morgen setzte das erste Licht den Dunst im Osten über der Stadt in Brand.
Ab hier begreife ich langsam, dass die Wetterbeschreibungen ein Stilmittel sind. Macht mich neugierig. Super, wie du mich hier als Leser an die Leine nimmst.

betrachtete die in Käfigen aus Bambus herumflatternden Sperlinge, die Auslagen der Händler, Kakifrüchte, Pitahayas, Gewürzmischungen, Kleider, Tec-Krempel, wie Nachsichtgeräte, Infrarotscanner, Schockpistolen.
Das ist einer von zwei kleinen Kritikpunkten die ich habe. Ist ein bisschen zu viel Aufzählung. Die Hälfte würde auch reichen, aber ist nur meine Meinung.

raste ein schwarzer Buick die Mainstreet entlang.
Hier stolpere ich auch. Du beschreibst lange und anschaulich die Flugfahrzeuge der Stadt. Und dann kommt ein uraltes KFZ. Das reißt mich ein wenig aus der Welt. Ich meine, natürlich können die noch mit alten Autos herum fahren. Aber da fehlt mir die logische Erklärung, warum das so ist.

Das Konzernlogo rotierte ein paar Zentimeter über dem Tisch.
Das hatte ich in meiner Story auch drin. Sehr cool, und wird ja angeblich wirklich entwickelt.

Über das schwarze Wasser der Docks geisterten die Reflexionen der Lichter der Innenstadt.
Nacht. Und jetzt habe ich es begriffen: Das Wetter spiegelt Sanaras Seelenleben. Vielleicht interpretiere ich da zu viel. Aber es passt einfach so gut zu den nachfolgenden Ereignissen. Sie begibt sich in den düstersten Sumpf der Stadt. Natürlich scheint da keine Sonne.

»Is so, als würdest du dich fragen, wie es unten am Hafen den Ratten geht.«
Genial heftiger Satz. Und auch gut auf unsere reale Welt übertragbar. Wann interessiert man sich schon für Hungernde in Haiti? Für die Toten und Verletzten in Syrien? In der Ukraine? So lange man selbst im warmen Nest sitzt, kann man das gut ausblenden.

Lan, das Holomädchen, erblickte sie und schlug die Hände vor den Mund. Einen Augenblick stand sie so, dann eilte sie auf ihren türkis schimmernden High Heels zu Sanara. »Süße, was ist passiert? Wie kann ich dir helfen? Ich werde Eric rufen.
Das ist jetzt für mich der zentrale Punkt der Geschichte. Und auch der Höhepunkt. Weil Sandra sch tatsächlich in das Holo verliebt. Sie durchläuft alle Phasen: Distanz/Ablehnung, Interesse, Zuneigung und schließlich der Wunsch nach Verbindung. Es gefällt mir richtig gut wie du dabei mit der Frage der Menschlichkeit umgehst. Wenn man es genau betrachtet, fühlt sie sich zu einem Computerprogramm hingezogen. Zu 0 und 1 also. Und trotzdem verhält sich genau dieses "unmenschliche" emphatischer und humaner als viele menschliche Bewohner dieser Stadt. Zum Ende der Geschichte scheint Abri das auch selbst zu begreifen. Warum mit Menschen umgeben, wenn die virtuellen Lebewesen netter sind?

Der Himmel über der Stadt glühte in mattem Orange.
Wieder das Wetter. Morgenstimmung. Weil Abri einen möglichen Ausweg sieht. Einen Hoffnungsschimmer.

Es könnte etwas sein, das Sie als Kind in einem Hologramm gesehen haben, in einem Film oder auch nur etwas, das Sie sich vorgestellt haben.«
Das ist die größte Verbeugung. Der Satz stammt ja beinah 1:1 aus Vanilla Sky. Und hier wie dort geht es um die Frage, was erstrebenswerter ist. Ein Leben in der Realität, dass immer unzulänglich bleiben wird und Schmerz verursacht? Oder die (virtuelle) Traumwelt in der alles perfekt nach eigenen Regeln abläuft? Du machst es noch einen Tick heftiger als in Crowes Meisterwerk. Wo Tom Cruise rein theoretisch ewig hätte schlafen und träumen dürfen, weiß Abri von Beginn an, dass dieses Schlaraffenland enden wird. Womöglich sogar schneller als ihr lieb ist. Aber sie nimmt es in Kauf, weil die Welt "da draußen" einfach so mies ist. Besser geplant sterben und eine gute Zeit verbringen.

Sehr gelungen! Ich bin weit davon entfernt, so gut zu erzählen und zu schreiben. Beeindruckend!

Liebe Grüße
Rainbow Runner

 

Hallo Katla! Vielen Dank für Deinen Kommentar zur Geschichte. Ich habe mich sehr über Dein ausführliches Feedback gefreut.

Ja, das ist schon ein faszinierendes Genre. Ich habe mich von mehreren Einflüssen inspirieren lassen: Philip K. Dick (Der dunkle Schirm, Bladerunner, Das Orakel vom Berge, Zeit aus den Fugen) oder M. John Harrison (Nova) sowie Matrix, Ghost in the Shell usw.

Zu Deinen Korrektur-Hinweisen/ Vorschlägen kann ich erst was Konkretes sagen, wenn ich mich an die Überarbeitung setze. Ich schicke aber schon mal voraus, dass ich den Text nicht noch mal komplett aufreißen werde. Auf jeden Fall sind Deine Gedanken dazu sehr wertvoll. Gerade bei so einer Geschichte sieht man als Autor irgendwann den Wald vor Bäumen nicht mehr, deshalb sind Deine Hinweise sehr willkommen.

Der Duden erlaubt das Femininum bei Mädchen, und ich würde das nutzen. Seine Brüste klingt ohne Trans-Kontext einfach komisch.

Ja, das hat mich beschäftigt. Werde ich auf jeden Fall machen.

Seit sicher 15 Jahren gibt es sexuelle Folter und Mord an Säuglingen und Kindern vor der Kamera, und die Kunden reichen dafür ein Drehbuch ein (mit oder ohne Livestream). Oder diese ganze Crush-Industrie, die ähnlich läuft. Jetzt sind wir in der näheren Zukunft, in einer augenscheinlich recht gesetzlosen Welt und jemand wird von Semikriminellen als richtig böser Typ angesehen - und dann geht es um ein lockeres, einvernehmliches und bezahltes kurzes Geprügelt-werden? Hm.

Das sehe ich etwas anders. Wahrscheinlich bewegt sich Dusty sogar im Rahmen der Gesetze. Dennoch hat sein Handeln etwas reichlich Schäbiges. Er ist nicht »böse« im Sinne eines Killers/ Gangsters, er ist eben ein Scheißkerl, der keine Skrupel hat, sich am Leiden der Schwächsten zu bereichern. So hatte ich mir das gedacht.

Wie später noch mal: Das kann raus, denn was der Erzähler beschreibt ist schon klar auch das, was wir mit ihren Augen sehen.
-> Sie betrat das Staxx. Am Billardtisch kreidete ein hagerer Mann sein Queue, nickte ihr zu.
Was sagst du?

Finde ich gut.

Mit 'die meisten' kann ich nix anfangen, in so einem Schnelleindruck muss es imA nicht so arg genau sein. Dann frage ich mich: Und die anderen quatschen ohne Punkt und Komma? Eigentlich reichte mir 'derbe Typen', weil das bereits die weiteren Adjektive beinhaltet.

Ja, das leuchtet ein. Werde ich sicher machen.

Ich würde statt der vielen Adjektive, die betonen, wie kaputt und dystopisch alles ist, lieber ein paar kurze Beschreibungen (Substantive) nehmen. Und Grauschleier ist ein Wort in anderem Kontext (Gardinen, Stoff), das würde ich kicken. Die Schleier finde ich wieder sehr gut, das ist sehr bildlich.

Ja, denke ich auf jeden Fall drüber nach. Ich hatte nicht bemerkt, dass es etwas zuviele Adjektive geworden sind.

Was du hier enorm gut vorbereitest, ist die zunehmende Ausweglosigkeit, finanzielle Zwangslage, da zieht sich die Schlinge zu, das ist sehr gut gemacht insgesamt. Das würde aber auch rauskommen (vllt. sogar besser), wenn du einiges Hin und Her abkürzt - meine: Wörtliche Reden statt so viel kurzem Pingpong eher in etwas längeren Statements und dafür weniger Wechseln.

Sehr interessanter Punkt. Ich hatte das gleiche Gefühl. Das geht immer hin und her mit den Statements. Ich habe das deshalb gemacht, weil es dem natürlichen Sprechen ähnlicher ist. Bei langen Aussagen wirkt das häufig so künstlich, insbesondere in diesem Umfeld. Da reden die Leute nicht druckreif sechs, sieben Sätze. Ich denke da mal drüber nach.

dann hab ich mit Eddie ein Problem: Der wirkt auf mich null chinesisch.

Das war beim Schreiben für mich auch ein schwieriger Punkt. Ich wollte die typische Chinatown-Figur vermeiden. Man steckt sonst schnell in rassistischen Klischees. Aber ich verstehe vollkommen, was Du meinst. Mache mir dazu mal Gedanken.

Ach ja: Da du sehr betont das amerikanische Setting ausschmückst - was ja super ist und sehr gut passt -, solltest du auf das Siezen verzichten. Das kegelte mich jedes Mal raus. Linguistisch gesehen wird jede Sprache erst komplexer und dann simplifizierter, und das Englische hat zum jetzigen Zeitpunkt das Sie (thou = Ihr) schon lange abgeschafft, da ist es extrem unwahrscheinlich, dass die wieder ein Sie einführen. Das dann ja auch eher ein Ihr / Euch wäre.

Das kann ich mir nun wieder gar nicht vorstellen. Ich sehe ja viele amerikansche Filme in der Synchro. Habe da noch nie bemerkt, dass die auf das »Sie« verzichten.

Klar ist in SF nicht alles Zukunft. Aber mir fehlt eines im Text: Du bist in der Zukunft, aber es gibt keine kulturellen Referenzen, die tatsächlich zukünftig sind. Eher noch sind es solche aus den 60ern bis 80ern. Hier wäre ein toller, leicht verständlicher Punkt, mit einer bislang nicht existierenden Musikrichtung zu punkten.

Guter Punkt. Ich fand das in dem Roman »Nova« gut, da gab es eine Menge erfundener Musikstile. Aber ich bin nicht sicher, ob das in diesem Zusammenhang passt. Ich hatte ja einen bestimmten Sound vor Augen/Ohren. Mal schauen.

Ich finde es ohnehin ganz wunderbar hingeleitet / entwickelt, wie das Hologirl immer persönlicher/runder wird und sich Sanaras Haltung weniger merklich, aber eben auf wichtige Art verändert.

Danke, schön, dass es nachvollziehbar rüberkommt. Ich hatte zwischenzeitlich Zweifel, ob diese Lan-Sanara Ebene wirklich greifbar wird.

Ein sehr schönes Stück CyberPunk, hat mich irre gefreut zu lesen und ich freue mich eh, dass du wieder mehr schreibst!

Danke, Katla! Hat mich sehr gefreut. Deine Hinweise sind Gold wert. Dass Du Dir so viel Mühe gegeben hast, weiß ich sehr zu schätzen.

Lieber Gruß
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Achillus,

deine Story hat mich als jemanden, der gern mal SF liest, richtig gut gefallen. Sie braucht etwas, bis sie ins Rollen kommt, rollt dann aber mit voller Kraft. Es finden sich in der Geschichte jede Menge Ebenen, insofern ein Text mit sehr viel Tiefe, das Ganze ist allerdings mit leichter Hand eingefügt, quasi spielerisch. Das zu lesen ähnelt einer Entdeckungsreise, ohne dass man darauf hingewiesen wird, wo man hinschauen soll. Das gefällt mir. Alles entfaltet sich mit einer logischen Konsequenz und wenn man dann hier und dort genauer hinschaut, stellt man fest, du hast nur weitergedacht, was schon ist.

Ich habe die Kommentarstellen 'on the fly' während des ersten Lesens übernommen.

Schwarz und erratisch glänzten die Türme
Ungewöhnliche Verwendung des Worts 'erratisch' ... ?

»Gut. Das ist gut.« Eric lächelte kurz, rieb sich die Stirn. »Hoffentlich nicht unten bei den Docks«, fügte er hinzu.
Sanara biss in einen der beiden Burger, kaute und schüttelte den Kopf. »Nee. Ich geh heute rüber zu Dusty. Hat was für mich, sagt er.«
»Dusty is ein Scheißkerl.«
»Kann sein. Aber er hat mich ab und zu den Laden putzen lassen.«
Nur beispielhaft rausgegriffen, der Dialog. Die Figuren kann ich im Text alle gut 'hören', insofern: Alles lebt!

»Versteh ich nicht«, sagte Sanara. »Was soll daran neu sein?«
Dusty lächelte. »Neu daran is, dass sich ein User in das Neuroimplantat einloggen kann.«
»Und?«
»Verstehst du nicht? Der User sitzt zu Haus, entweder vor dem Display oder in der Holo-Sphere. Er bedient eine Konsole, steuert die Action. Lässt ein bisschen Dampf ab.«
»Er verprügelt den anderen Typen?«
»Genau.«
»Und da komme ich ins Spiel.«
Dusty hob die Hände. »Is nur ein Angebot. Gutes Geld.«
»Bist echt ein Scheißkerl, Dusty!«
Man sollte sich nicht auf die Neurosen eines anderen einlassen ... sehr krank das alles, und hat einen doppelten Boden, denn statt zu erforschen, was zur Deviation führt oder wie man sie beseitigen kann -- bietet man an, sie auszuagieren; selbstverständlich nur, um ganz wertfrei Geld damit zu verdienen. :thumbsup:
Ja, das ist das, was passiert.

»Ich hasse diese Scheiß-Holos, die Androiden, diese ganzen Fake-Typen.«
Eric zuckte mit den Schultern. »Manchmal glaub ich, die sind gar nicht so anders, als wir.«
Schön hingestellt :thumbsup:. Das ist eine der Stellen, wo mehrere Ebenen drinstecken. Denn erst mal, scheint es eine Aufwertung zu sein, dass der Android nicht "so anders ist als wir". In Wirklichkeit ist er ja aber anders als eine Vielzahl der "echten" Menschen, siehe oben, nämlich menschlicher als diese. Korrekt bestünde die Aufwertung also aus dem Gegenteil: Er ist anders als wir. Denn:

»Du hast eine Verletzung, jemand hat dich geschlagen.« Das halbtransparente, bläulich schimmernde Gesicht wandte sich Sanara jetzt ganz zu, die Mandelaugen des Holo-Mädchens blickten sie freundlich an. »Ich sehe, dass es dir nicht gut geht.«
Er interessiert sich für die anderen, merkt, wie es ihnen geht, fragt nach und kümmert sich darum. Wenn das mal nicht anders ist ... Es blüht die Neudefinition des Worts 'menschlich': achtlos, empathielos, desinteressiert, profitorientiert

»Man bietet Ihnen zwei Jahre Luxus, Glück und Frieden«, sagte Carney. Sanara lachte auf. Ohne darauf zu reagieren, fuhr Carney fort. »Es wird mit Sicherheit die beste Zeit Ihres Lebens.«
Sanara nickte. »Is klar«, sagte sie. Und mit einem Lächeln: »Was wollen Ihre Leute dafür von mir haben?«
»Ihren Körper«, erwiderte Carney. »Und zwar alles davon: Organe, Muskulatur, Skelettknochen.«
Konsequent weitergeführt, wenn Tiere und Menschen als Dinge gesehen und behandelt werden, geht natürlich auch das. 'Human ressources' eben, heißt doch schon so. Material, das arbeitet, kämpft und stirbt. Kann man dann natürlich auch ausschlachten, wenn das benötigt wird. :thumbsup:


»Wenn sich dich erwischen …«
:thumbsup:
»Wie alt bist du? Sechszehn, siebzehn?«
»Neunzehn.«
Das hätt ich allerdings gern früher gewusst, wie alt sie ist.


»Die Leute da … Wissen die, wie wir hier leben?«
»Tja, keine Ahnung. Ich glaube, das spielt gar keine Rolle für die.«
»Warum nicht, Eric?«
»Is so, als würdest du dich fragen, wie es unten am Hafen den Ratten geht.«
:thumbsup: So ist es. So war es auch immer, nur wird das gern verschleiert. Im Grunde geht es nur darum, wer ist Schädling, wer ist Nützling (also, wen kann man benutzen)?
Gut rausgefeilt, das.


»Okay«, sagte Dusty. »Ehepaar aus White Central, stinkreich. Er hat gerade mitbekommen, dass sie fremd geht und zeigt ihr, wer der Boss is.« Und mit einem Lächeln: »Ich weiß nicht warum, aber die Leute lieben dieses Szenario. Wird doppelt so oft gebucht, wie alle anderen.«
Genau. Ist auch egal, warum die das lieben. Es ist krank, es wird gebucht, Profit ist drin, wird gemacht. Und die, die zusammengeschlagen wird, ist ein ... Ding, eine Sache, ein Objekt.

Lan hockte sich zu ihr. »Was ist denn bloß passiert? Wer hat dir das angetan?«
In Sanaras zerschlagenem Gesicht tauchte ein Lächeln auf. »Ich hab hundertfünfzig Dollar verdient, heute Abend.«
Na, sagte ich doch. Den klarsten Blick hat die unmenschliche Maschine ;)


»Sie hält sich für real«, sagte Sanara und befühlte ihren geschwollenen Wangenknochen.
Wieder so eine Stelle. Gefällt mir ausgezeichnet. Sich für real halten -- das tun wir ja alle. Das ist nun wieder nichts 'anderes'.

»Vor zwei Tagen hat sie mir noch einen Rabatt-Fick im Thai Ming angeboten.« Sanara öffnete die Büchse, trank und begann zu essen. Sie kaute, verzog das Gesicht.
»Die Schmerzen gehen vorbei«, sagte Eric. »Ich kann Mike fragen, ob er dir ein paar Pillen gibt.«
»Mike?«
Schön auch diese ambivalente Darstellung der Figur.

»Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie mich gefunden haben«, sagte Sanara. »Woher wissen Sie von diesen Resistenzen meiner Zellen?«
»Ich bin neugierig«, entgegnete Carney. Auf seinem Körper lag der Widerschein des glühenden Neuro-Pools. »Glauben Sie, dies hier ist eine Art Betrug?«
»Antworten Sie auf meine Frage!«
»Unser Konzern hat die Klientendaten aller Entbindungskliniken der Stadt erworben.«
Sanara nickte. »Die Geburts-Scans.«
Klar.

»Hier werden Sie wohnen«, sagte Carney. »Wenn Sie es wünschen.«
Das Haus war aus dem Stein der Umgebung gebaut. Schiefergrau schimmerte es vor dem Blau des Himmels. Carney öffnete die hölzerne Eingangstür und führte Sanara durch das Haus. Von der Terrasse aus blickten sie über das Meer. Sanara bemerkte einen mit Natursteinplatten befestigten Weg, der durch den Garten hinab zum Strand verlief.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte Carney, »das Ihnen gefallen wird.«
Sanara folgte ihm durch das Haus und dann über einen kleinen Hof zu einem Garagenanbau. Das Tor hob sich und Carney sagte: »Ein 1954er Cadillac Eldorado.«
Sanara betrachtete das smaragdgrüne Cabriolet. »Ich habe eine Erinnerung an diesen Wagen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, woher.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, entgegnete Carney. »Der Neuropool liest in Ihrem Gehirn Engramme aus und der Algorithmus verarbeitet sie. Es könnte etwas sein, das Sie als Kind in einem Hologramm gesehen haben, in einem Film oder auch nur etwas, das Sie sich vorgestellt haben.«
»Können wir damit fahren?«, fragte Sanara.

Schön wär's, wenn das Weltall so konstruiert wär, auch hier ist der Witz ja, dass ...
»Der zweite Punkt betrifft die Zeitspanne, die Sie hier verbringen.«
»Ihr Angebot lautet zwei Jahre«, sagte Sanara.
»Das ist richtig. Aber wie in der realen Welt verläuft die Zeit in der Simulation nicht vollkommen linear.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich empfehle Ihnen, Ihre Zeit nicht zu verschwenden. Wie draußen sind auch hier Achtsamkeit und Sorgfalt wichtig, bei allen Dingen, die Sie tun. Sonst werden die zwei Jahre hier sehr schnell vorbei sein und Sie könnten sich betrogen fühlen.«
Sanara nickte.
»Der letzte Punkt betrifft Ihren Tod.« Carneys Blick ruhte auf Sanara. »Sie werden nicht wissen, wann es passiert. Es gibt kein exaktes Datum. Draußen vergehen zwei Jahre. Hier drinnen kann es sich wie drei anfühlen oder auch wie zehn.« .. oder vierzig?
(wie wird sie sterben?) »Das weiß niemand. Der Algorithmus improvisiert es gewissermaßen. Es wird nicht schmerzhaft sein, nichts Qualvolles. Kein Drama.«
»Kein Drama«, wiederholte Sanara.
»Haben Sie noch Fragen?«
»Werde ich hier Freunde finden?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Carney. »Wenn Sie es wünschen.«
... dies genau die Situation ist, in der wir uns alle ohnehin befinden, nur schöner, weil Gott hier auf Wünsche eingeht. Philosophisch! Allerdings, um die Parallelität vollkommen herzustellen, sollte man in diesem Pool noch Sanaras Wissen um die Virtualität ihrer Existenz ausschalten, dann ist es die Grundsituation menschlicher Existenz.
Die Phänomenologen biete die Basis.

»Es ist phantastisch, zu glauben, einen Körper zu haben«, rief Sanara zurück.
Ja. Auch das tun wir doch alle :)
----
Viele Bonbons in dieser Geschichte! Echt ne Fundgrube!

;)


Gruß von
Flac

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Achillus,

ich bin großer SF-Fan, von trashiger B-Ware bis zu philosophierenden Androiden, und mir haben Tempo und die wiedererkannten Elemente der Geschichte gut gefallen. Am Anfang hatte ich sofort Blade Runner vor Augen (wer tiefer im Genre steckt mag jetzt anmerken, bei welchen filmischen oder literarischen Vorgängern der sich bedient hat, so feel free), wegen dieser Kombination aus Gleiter, Häuserschluchten und asiatischem Mädchen. Der neuere BR hat ja der Kontinuität halber an der wirtschaftlichen Supermacht Japan festgehalten, obwohl die Welt inzwischen ganz anders verteilt ist, da kannst du als jetzt Schreibender umswitchen zu den Chinesen, die eben nach aktuellem Stand künftig den Ton angeben werden. Du sagst es zwar nicht direkt, aber „das Chinesische“ ist ja schon sehr präsent hier – gut eingebaut. Dieses Noir zudem – scheiß Wetter, dreckige Gassen, erstmal eine rauchen – kam mir ebenfalls angenehm bekannt vor.

Büchse Black Polecat. / Päckchen Blue Dragon
Jemand hat Worldbuilding gesagt, genau solche Details hauchen der Welt einer Geschichte Leben ein, unter anderem das fand ich echt gut gelöst.

Auch die Selbstverständlichkeit der eigentlich nicht selbstverständlichen Sachen empfinde ich als guten Stil, denn in dieser Zukunftswelt sind sie ja selbstverständlich:

Er legte die Karte auf den Tisch. Terminus, Inc. stand da. Das Konzernlogo rotierte ein paar Zentimeter über dem Tisch.
Das Beiläufige macht die Erzählstimme echt.

Das Ende mochte ich sehr. Man erwartet so ein Schockfinale, Black Mirror, das dich mit einem schlechten Gefühl gehen lässt. Dystopie halt. Aber es ist ein Happy End. Ein Happy End mit Beigeschmack werden einige sagen, aber nicht mal diese Einschränkung würde ich machen. Es ist beim Verlauf der Geschichte klar, dass das alles keinen „wirklich“ guten Ausgang nehmen wird, kein happily ever after, und da macht die Protagonistin aus den Umständen das Beste und nimmt noch diese Fake-Holo-Frau mit, wie sie sie doch eigentlich alle hasst. Korrekt und sehr menschlich. Gekämpft und, für mich, auch gewonnen.

»Ihre Existenz wird aufgelöst, Miss Sanara.«
Das ist eine starke Frage, dieses in zweierlei Hinsicht Traum-Leben, das aber eben kurz sein wird. Das spielt ja damit, den Leser dazu zu bringen, dass er sich fragt: Würde ich das tun? Was mir entweder fehlt oder ich nicht mitbekommen habe, und falls Ersteres würde ich nachjustieren: Was motiviert Abri dazu, das überhaupt in Betracht zu ziehen? Wo ist sie so am Ende, dass ihr das verlockend erscheinen könnte? Job verlieren reicht – jedenfalls für mich – nicht. Da muss mehr existenzieller Druck rein, finde ich, um die Entscheidung nachvollziehbar zu machen.

Und wo es für mich etwas stringenter sein könnte: Es wird dieses Element eingeführt, ich habe mir diese ganzen abgefahrenen Namen jetzt nicht gemerkt, dass also jemand, der das Geld auf den Tisch legt, jemanden zusammenschlagen kann und dabei den Schläger quasi fernsteuert, so eine Mischung aus Strange Days und Gamer. Da gehe ich davon aus, das wird ein wichtiger Punkt sein, um nicht zu sagen, darum geht’s, und dann kommt aber eben dieses „Gib uns deine Zellen“. Da habe ich mich gefragt, warum das mit dem Avatar-Prügeln überhaupt eingeführt wird. Man stellt sich irgendwie darauf ein, dass da jetzt mehr kommt, und dann geht es gefühlt um was völlig anderes. Ich hab noch in Betracht gezogen, dass da irgendwie dieselbe Technologie im Spiel sein könnte, aber selbst dann sind das ja zwei unterschiedliche Konflikte, für eine Story dieser Länge möglicherweise zu viel.

Kleinkram:

im hinteren Teil lungerten zwei Punk-Kids herum, vielleicht Späher einer Gang, die die Mainstreet im Auge behalten sollten.
Für mich klingt das ein bisschen CDU, dass die Punks „böse“ sind. Im US-Englisch hast du diese Bedeutung von Punk als „rumlungernde Halbstarke“, aber durch die Übertragung ins Deutsche denke ich hier automatisch an die (Jugend-)Kultur. Und dann habe ich dieses Meme vor Augen, das ich neulich gesehen habe. Ein „Punk-Kid“ und daneben so ein trainierter Schönling. Drunter stand: Wie Bullies in der Schule laut 80er-Filmen aussehen - und wie sie wirklich aussehen.

Ein Tritt zwischen die Schulterblätter,
Bei dem, was man sonst so von dir liest, könnte ich mir vorstellen, dass du Kampfsporterfahrung hast und weißt, wie man tritt. Beim Skateboardfahren bin ich mir nicht sicher. Ich habe beides in der Bio und wage mal die These: Vom Brett aus fahrend jemanden treten, und dann noch so hoch, das geht nicht, ohne sich selbst übel auf den Bart zu packen. Kann man glaube ich auch mit Physik erklären, aber da habe ich im Unterricht meist nicht so brilliert.


Viele Grüße
JC

 

Hoppela,

@Achillus,

da hastu mich aber tatsächlich „bei der Stange halten“ können, wiewohl ich eigentlich darauf angespannt warte, dass Rotchina sich seine ehemaligen Gebiete vom Zarewitzka zu Moskau „zurückfordern“ bzw. ggfs. „-holen“ wird.

Aber im Pott klingt „Smog“ mit der dahinsiechenden Industrie eher wie ein Mythos, ohne dass er darum zum Naturschutzwunder würde - wiewohl ich mich an einen durch die Ruhrchemie verursachten schwefeligen (!) noch sehr genau erinnern kann, der seine Spuren bis Schweden hinterließ … da ist das abschließende „Stabreimchen“

Sie stand vor Eric’s Diner, rauchte und schaute nach oben in den dunkelnden Dunst
schlicht schön … Aber

Wieviel zahlt dir das Thai Ming dafür?«
„wie viel“ i. d. R. auseinander, weiter unten nochmals – hier
Eddie nickte. »Dachte ich mir. Wieviel hast du dafür bekommen?«

Sie zog die Kapuze hoch und ging die Mainstreet hinunter bis zum Temple Square, wo nachts Hundekämpfe stattfanden* und dann weiter in die engen, stets belebten Gassen des Lower East End mit seinen Nudelküchen und Massagesalons.
Der Relativsatz („wo nachts …“) ist zu Ende und das „und“ setzt den kleistwürdigen Hauptsatz fort

»Spuck’s schon aus, Dusty.«
Dusty machte seinen Stoß und richtete sich auf. Er legte das Queue auf den Tisch. »Besser, ich zeig es dir. Komm.«
klingen beide nach mehr als bloßen Aussagesätzen …

»Kann man viel Qián mit machen, im Moment.«
Warum ein Komma (egal, an welcher Stelle „im …“ angesetzt würde …) Sollte eine Atempause angezeigt werden empfehlen sich an sich einige waagerechte Striche im Deutschen - … frag mich nicht nach den Unterschieden von Gedankenstrich, dreiviertel oder fünfachtel Strichen. Ich bin allein dem Bindestrich verbunden ...

Ähnlich hier

Klar, kassierst ein paar Schläge. Aber es sind hundert Dollar für dich drin, in zwanzig Minuten.«

»Viele Getue dabei.«

»Du bist nichts Besonderes, Abri!«, rief Dusty ihr hinterher. »Nutz die Chance[!, statt:]. Is vielleicht die letzte.«

»Hat ne Schießerei gegeben, in der Nähe vom Franklin Park.«
Komma weg!

Nu,

das ist ein amüsanter Lapsus
Dort lief sie zwischen den Ständen umher, betrachtete die in Käfigen aus Bambus herumflatternden Sperlinge, die Auslagen der Händler, Kakifrüchte, Pitahayas, Gewürzmischungen, Kleider, Tec-Krempel, wie Nachsichtgeräte,
Wer bräuchte nicht ein solches Gerät auch bei Nacht ...?
Von da ist es nicht weit bis zum Temple Square. Und dann mach, dass du nach Haus kommst, wo immer das is
Als sich sie kurz darauf im Spiegel betrachtete, …
Dreher „sie sich“

»Ausgezeichnet.* Wann passt es Ihnen?«
»Wie wäre es mit morgen, so gegen zehn Uhr?«
»Wunderbar.* Ich hole Sias Gerät ab. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Abendluft.
*!

Gern gelesen vom


Friedel

 

Hallo Woltochinon! Vielen Dank für Dein Feedback zur Geschichte. Ich habe mich über Deine Anregungen und Hinweise sehr gefreut. Mittlerweile bin ich mit den ersten Korrekturen durch und habe Verbesserungsvorschläge von dotslash, Katla und Dir berücksichtigt. Inhaltlich ist jetzt noch nicht so viel anders. Ich arbeite aber weiter an dem Text.

Ich habe tatsächlich eine Menge Energie in die Atmosphäre und die Darstellung der Welt gesteckt, denn ich glaube, dass SF-Literatur das mehr braucht, als Geschichten anderer Genres (obwohl es wahrscheinlich nie schadet).

Eine gute, atmosphärische, glaubhafte SF-Geschichte ist dir gelungen! Die Darstellung des Innenlebens der vorkommenden Personen (und Pseudo-Personen) ist überzeugend. Sanara kämpft, wägt ab, ohne Klischees zu bedienen. Wie oft vermisse ich Originalität oder Tiefe. Dein Text bietet beides: Die Entscheidung, das Angebot des Androiden anzunehmen, hat durchaus philosophische Qualität.

Was den philosophischen Aspekt des Ganzen betrifft, da habe ich mich von der Idee leiten lassen, dass SF die Möglichkeit hat, eine Situation zu erschaffen, mit der wir in unserem Leben wahrscheinlich nicht konfrontiert werden. Aber die Fragestellung, die sich aus der Situation ergibt, ist vielleicht trotzdem höchst relevant.

Ich hänge beispielsweise noch immer an diesem Konflikt: Sind zwei Jahre in Glück, Frieden und Luxus zwangsläufig wertvoller, als potentiell dreißig, vierzig Jahre in Mühsal und Elend? Kann man diese Frage überhaupt grundsätzlich beantworten? Es gibt Tage, da neige ich der einen Antwort zu und an anderen Tagen der anderen. Das fand ich jedenfalls lohnend beim Schreiben.

Vielen Dank für Deinen Kommentar und natürlich noch mal für Deine Empfehlung, Woltochinon!

Gruß Achillus

 

Hallo Sturek! Vielen Dank für Deinen Kommentar zum Text.

Du hast dir über einen großen Teil der Geschichte hinweg redlich Mühe gegeben, die Lebensumstände von Abri/Sanara (welcher Vorname stimmt denn nun eigentlich?) so richtig schlecht zu zeichnen. Das braucht es ja auch, damit ihre Wahl am Ende plausibel wird. Immerhin gibt sie ja ein möglicherweise langes Leben auf. Sie wohnt aber in einem Appartement, nimmt dort ihr Frühstück ein, hat eine tolle Aussicht auf die Skyline, lässt sich aus den Boxen der Anlage von Ambientsound berieseln – nicht schlecht. Die Bleibe will ich auch!

Ich denke, es gibt mehrere Faktoren, die Sanaras (Nachname) Entscheidung begründen. Ein Appartement im elften Stock usw. ist nicht genug für ein menschenwürdiges, geschweige denn glückliches Leben. Sie ist Waise, hat außer Eric keine Freunde und kämpft gegen die Armut. Dabei nimmt sie immer größere Risiken in Kauf, um einen Job zu finden. Am Ende lässt sie sich sogar gegen Bezahlung verprügeln. Als Eric erschossen wird, bleibt nicht mehr viel. Und ich finde auch nicht, dass ihre Wohnverhältnisse zu luxuriös sind. Bei Hochhäusern ist die Skyline nun einmal meist inklusive.

Punkt zwei meiner Kritik betrifft den Grund, den der Android für das Interesse des Konzerns angibt. Mit Klontechnologie sollte das fast heute schon zu machen sein, oder? Aus dem Klon könnte man die benötigten Muskeln, Knochen und so weiter entnehmen und die arme Abri/Sanara müsste gar nicht sterben. Will sagen, für die Geschichte wichtige wissenschaftliche Fakten sollten plausibel in die Geschichte integriert sein, gerade in einer Science-Fiction-Story. Da könntest du aus meiner Sicht noch nachbessern.

Das sehe ich anders: Klontechnologie, die es heute ja schon gibt, deckt sicher auch nicht in der näheren Zukunft den medizinischen Bedarf an menschlichen Zellen, Geweben, Organen usw. insbesondere, wenn da noch der Forschungsaspekt dazu kommt. Denn in meiner Geschichte will man ja herausfinden, woher Sanaras Resistenzen stammen.

Das kam noch ein paar Mal vor, auch in Verbindung mit als.
Ohne Komma, da mit der vergleichenden Konjunktion kein Nebensatz eingeleitet wird.

Danke für den Hinweis. Das werde ich korrigieren.

Ich bin gerne in deine düstere Welt eingetaucht und fand sie stimmig und, wie man so sagt, atmosphärisch dicht dargestellt. Viele nette Details, die Handlung mit dem Chinesen, das Holo-Girl, es wurde nie langweilig, obwohl der Text ziemlich lang ist.

Danke, Sturek, fürs Lesen und Kommentieren. Freut mich, dass Du Dir die Zeit genommen hast.

Gruß Achillus

 

Hallo Rainbow Runner, vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine Hinweise zu meiner Geschichte. Ja, Beschreibungen von Wetter, Landschaften, Architektur usw. können immer auch in ihrer Verbindung zur Psyche der handelnden Figuren gelesen werden. Manchmal trifft es das ganz gut, manchmal weniger. Ich finde Deine Interpretation auf jeden Fall sinnvoll. Beim Schreiben hatte ich aber auch den Leser im Blick, welche Emotionen möchte ich da im Kontext der Story wecken? Da sind Beschreibungen der Umgebung, der Tageszeit wichtige Elemente.

Was das Implementieren von »alten« Technologien (z.B. Autos) betrifft, war mir das wichtig, weil ich in der Zeit nicht zu weit vorausgehen wollte. Ich stelle mir einen Zeitraum um 2030 bis 2050 vor und denke, dass es da noch Autos in unserem Sinne geben wird.

Die Beziehung zwischen Lan und Sanara war ein wichtiger Punkt in der Story, das sehe ich genau wie Du. Die sich entwickelnde Freundschaft hebt die Geschichte auf einen neuen Level. Denn da ist es eben nicht mehr einfach nur das gefährliche Abenteuer einer jungen Frau, sondern auch der Beginn einer Beziehung zwischen Mensch und KI.

Ja, Vanilla Sky ist natürlich in das Ganze mit hineingeflossen. Im Kontext meiner Geschichte fand ich die Frage spannend, welchen Wert wir glücklichem Leben zumessen, auch wenn es kurz sein sollte. Außerdem kann man fragen, ob es sich dabei um wahres Glück handelt, wenn doch alles nur in einer Simulation stattfindet. Braucht es dazu nicht echte Menschen, echte Herausforderungen usw.?

Rainbow Runner, vielen Dank für Deine Gedanken zu dem Text. Hat mich sehr gefreut, von Dir zu lesen.

Gruß Achillus

 

Hallo FlicFlac, vielen Dank für Deine Rückmeldung zum Text. Freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

deine Story hat mich als jemanden, der gern mal SF liest, richtig gut gefallen. Sie braucht etwas, bis sie ins Rollen kommt, rollt dann aber mit voller Kraft. Es finden sich in der Geschichte jede Menge Ebenen, insofern ein Text mit sehr viel Tiefe, das Ganze ist allerdings mit leichter Hand eingefügt, quasi spielerisch. Das zu lesen ähnelt einer Entdeckungsreise, ohne dass man darauf hingewiesen wird, wo man hinschauen soll. Das gefällt mir. Alles entfaltet sich mit einer logischen Konsequenz und wenn man dann hier und dort genauer hinschaut, stellt man fest, du hast nur weitergedacht, was schon ist.

Während des Schreibens ging mir ab und zu durch den Kopf, dass ich primär eine Geschichte erzählen will. Man muss dabei aufpassen, dass man sich nicht zu stark auf Botschaften konzentriert, von denen man glaubt, dass sie den Text aufwerten. Insofern scheint mein Versuch, den Plot mit tieferen Ebenen anzureichern, geklappt zu haben.

Man sollte sich nicht auf die Neurosen eines anderen einlassen ... sehr krank das alles, und hat einen doppelten Boden, denn statt zu erforschen, was zur Deviation führt oder wie man sie beseitigen kann -- bietet man an, sie auszuagieren; selbstverständlich nur, um ganz wertfrei Geld damit zu verdienen.

Du hast einige philosophische Aspekte des Textes benannt. Ich finde das sehr spannend. Einerseits haben wir da die neokapitalistische Maschine, die das Leben der Menschen in eine bestimmte Richtung zwingt und auch den Rhythmus diktiert, in dem die Existenz abläuft. Ich glaube, dass wir uns im Alltag nicht genug klarmachen, welch perfektes Unterdrückungsinstrument Armut darstellt. Das Perfide ist ja, dass auch die Menschen, die nicht arm sind, über das Mittel der Armut kontrolliert und motiviert werden, denn sie müssen die Armut fürchten. Der Verlust ökonomischer Leistungsfähigkeit schwebt wie eine permanente Drohung über den Köpfen der Menschen.

Sanara wird in dieser Maschine zermalmt und steht meiner Ansicht nach für so viele Menschen, die letztlich keine Chance haben. Im Grunde ist der Kapitalismus die Dystopie schlechthin.

Das ist eine der Stellen, wo mehrere Ebenen drinstecken. Denn erst mal, scheint es eine Aufwertung zu sein, dass der Android nicht "so anders ist als wir". In Wirklichkeit ist er ja aber anders als eine Vielzahl der "echten" Menschen, siehe oben, nämlich menschlicher als diese.

Die Auseinandersetzung mit der Frage, was denn überhaupt künstliche Intelligenz sein soll, was sie von der menschlichen, der vermeintlich natürlichen Intelligenz unterscheidet, bringt uns automatisch zu uns selbst. Du hast angemerkt, dass die Maschine in der Geschichte häufig menschlicher handelt, als die Personen drum herum. Ich sehe das als einen wichtigen Punkt an. Wir erleben jetzt bereits, dass viele Entscheidungen, die bislang in den Händen von Menschen lagen, KI Algorithmen übertragen werden. Das ist eine ernste Angelegenheit. Wenn wir uns klarwerden wollen, wo da die Grenzen liegen, müssen wir ein neues Verständnis von unserer Rolle in dieser Welt entwickeln.

Er interessiert sich für die anderen, merkt, wie es ihnen geht, fragt nach und kümmert sich darum. Wenn das mal nicht anders ist ... Es blüht die Neudefinition des Worts 'menschlich': achtlos, empathielos, desinteressiert, profitorientiert

Das ist der Punkt. Wahrscheinlich sollten die Menschen sich weniger vor der KI fürchten, als vor der menschlichen Natur oder vor dem, was ein komplett auf Profit orientiertes Gesellschaftssystem daraus macht.

Das hätt ich allerdings gern früher gewusst, wie alt sie ist.

Verstehe ich total gut. Ist auch wichtig für die bildliche Vorstellung. Ich habe eine Zeitlang daran herumgebastelt, Sanaras Alter frühzeitig zu erwähnen. Aber alle Versuche wirkten seltsam konstruiert, es gab einfach keine Stelle, wo es gut gepasst hätte.

Viele Bonbons in dieser Geschichte! Echt ne Fundgrube!

Vielen Dank, FlicFlac!

Gruß Achillus

 

Hallo Proof,

vielen Dank für Deine Hinweise zu meiner Geschichte. Ich habe mich über Deinen Kommentar sehr gefreut.

ch bin großer SF-Fan, von trashiger B-Ware bis zu philosophierenden Androiden, und mir haben Tempo und die wiedererkannten Elemente der Geschichte gut gefallen. Am Anfang hatte ich sofort Blade Runner vor Augen (wer tiefer im Genre steckt mag jetzt anmerken, bei welchen filmischen oder literarischen Vorgängern der sich bedient hat, so feel free), wegen dieser Kombination aus Gleiter, Häuserschluchten und asiatischem Mädchen. Der neuere BR hat ja der Kontinuität halber an der wirtschaftlichen Supermacht Japan festgehalten, obwohl die Welt inzwischen ganz anders verteilt ist, da kannst du als jetzt Schreibender umswitchen zu den Chinesen, die eben nach aktuellem Stand künftig den Ton angeben werden. Du sagst es zwar nicht direkt, aber „das Chinesische“ ist ja schon sehr präsent hier – gut eingebaut. Dieses Noir zudem – scheiß Wetter, dreckige Gassen, erstmal eine rauchen – kam mir ebenfalls angenehm bekannt vor.

Ja, wenn man SF mag und selbst schreibt, kommt man wahrscheinlich zwangsläufig zu dem Punkt, wo man seinen eigenen »Bladerunner« oder sein »Matrix« erzählen möchte. Insbesondere interessiert mich in dem Genre die Möglichkeit, ein Dilemma zu konstruieren, das es so in unserer heutigen Welt nicht geben kann, das aber durchaus relevante Implikationen hat. Ich beschäftige mich seit ein paar Jahren mit der Frage nach dem Wert der Zeit. Was ich hinsichtlich der Armut besonders aufschlussreich finde, ist der Fakt, dass die Armen den Reichen viel mehr ihrer Lebenszeit schenken, als umgekehrt.

Wenn z.B. eine gutverdienende Anwältin einer Reinigungskraft 15,-Euro in der Stunde dafür bezahlt, ihre Wohnung zu putzen, sieht sie das womöglich als fairen Deal. Tatsächlich hat diese Reinigungskraft aber nicht die Möglichkeit ihrerseits Hausarbeit von jemand anderem erledigen zu lassen. Am Ende bezahlt sie also mit ihrer Lebenszeit. Wenn man dann noch bedenkt, dass die Wohlhabendsten unserer Gesellschaft eine zehn Jahre höhere Lebenserwartung haben, kommt man ins Grübeln.

Das Ende mochte ich sehr. Man erwartet so ein Schockfinale, Black Mirror, das dich mit einem schlechten Gefühl gehen lässt. Dystopie halt. Aber es ist ein Happy End. Ein Happy End mit Beigeschmack werden einige sagen, aber nicht mal diese Einschränkung würde ich machen. Es ist beim Verlauf der Geschichte klar, dass das alles keinen „wirklich“ guten Ausgang nehmen wird, kein happily ever after, und da macht die Protagonistin aus den Umständen das Beste und nimmt noch diese Fake-Holo-Frau mit, wie sie sie doch eigentlich alle hasst. Korrekt und sehr menschlich. Gekämpft und, für mich, auch gewonnen.

Das Ende werden Leser wahrscheinlich sehr unterschiedlich bewerten. Du findest, Sanara hat das Beste aus der Situation gemacht. Manch anderer wird einwenden, dass auch ein elendes Leben letztlich immer noch Leben ist und die längere Variante vorziehen.

Das ist eine starke Frage, dieses in zweierlei Hinsicht Traum-Leben, das aber eben kurz sein wird. Das spielt ja damit, den Leser dazu zu bringen, dass er sich fragt: Würde ich das tun? Was mir entweder fehlt oder ich nicht mitbekommen habe, und falls Ersteres würde ich nachjustieren: Was motiviert Abri dazu, das überhaupt in Betracht zu ziehen? Wo ist sie so am Ende, dass ihr das verlockend erscheinen könnte? Job verlieren reicht – jedenfalls für mich – nicht. Da muss mehr existenzieller Druck rein, finde ich, um die Entscheidung nachvollziehbar zu machen.

Was Sanaras Motivation betrifft, sehe ich zwei Punkte. Erstens Armut und Aussichtslosigkeit ihres Kampfes, genug zu verdienen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es geht dabei nicht nur um die Schwierigkeiten einen Job zu finden, sondern auch um die Erkenntnis, dass sie keine oder nur wenig vermarktbare Fähigkeiten besitzt. Als sie schließlich bereit ist, sich für Geld zusammenschlagen zu lassen, versteht sie, dass sie ganz unten gelandet ist.

Der zweite Punkt betrifft ihre Einsamkeit. Elend lässt sich in Familienverbänden oder zusammen mit Freunden zumindest leichter ertragen. Aber Sanara hat außer Eric niemanden mehr. Sie ist Waise. Als Eric stirbt, löst ihre Entscheidung beide Probleme (zumindest vorläufig), denn in der Simulation spielt Geld keine Rolle mehr und mit Lan hat sie eine Freundin, die ihre so etwas wie Wärme und Zuneigung gibt.

Und wo es für mich etwas stringenter sein könnte: Es wird dieses Element eingeführt, ich habe mir diese ganzen abgefahrenen Namen jetzt nicht gemerkt, dass also jemand, der das Geld auf den Tisch legt, jemanden zusammenschlagen kann und dabei den Schläger quasi fernsteuert, so eine Mischung aus Strange Days und Gamer. Da gehe ich davon aus, das wird ein wichtiger Punkt sein, um nicht zu sagen, darum geht’s, und dann kommt aber eben dieses „Gib uns deine Zellen“. Da habe ich mich gefragt, warum das mit dem Avatar-Prügeln überhaupt eingeführt wird. Man stellt sich irgendwie darauf ein, dass da jetzt mehr kommt, und dann geht es gefühlt um was völlig anderes. Ich hab noch in Betracht gezogen, dass da irgendwie dieselbe Technologie im Spiel sein könnte, aber selbst dann sind das ja zwei unterschiedliche Konflikte, für eine Story dieser Länge möglicherweise zu viel.

Diese Sequenz mit dem Avatar-Prügeln dient in der Story dem Aspekt zu zeigen, wie verzweifelt Sanara ist. Sie lässt sich ja erst darauf ein, als alle anderen Versuche einen Job zu finden, fehlschlagen.

Für mich klingt das ein bisschen CDU, dass die Punks „böse“ sind. Im US-Englisch hast du diese Bedeutung von Punk als „rumlungernde Halbstarke“, aber durch die Übertragung ins Deutsche denke ich hier automatisch an die (Jugend-)Kultur. Und dann habe ich dieses Meme vor Augen, das ich neulich gesehen habe. Ein „Punk-Kid“ und daneben so ein trainierter Schönling. Drunter stand: Wie Bullies in der Schule laut 80er-Filmen aussehen - und wie sie wirklich aussehen.

Ich verwende hier die Cyberpunk-Bedeutung des Begriffs. Ist mir schon klar, dass man das anders sehen kann.

Bei dem, was man sonst so von dir liest, könnte ich mir vorstellen, dass du Kampfsporterfahrung hast und weißt, wie man tritt. Beim Skateboardfahren bin ich mir nicht sicher. Ich habe beides in der Bio und wage mal die These: Vom Brett aus fahrend jemanden treten, und dann noch so hoch, das geht nicht, ohne sich selbst übel auf den Bart zu packen. Kann man glaube ich auch mit Physik erklären, aber da habe ich im Unterricht meist nicht so brilliert.

Ja, ich kann mir vorstellen, dass das real schwierig oder sogar unmöglich ist. Aber ich finde vom Action-Standpunkt aus kann man das machen. Viele Dinge, die in Action-Filmen dargestellt werden, wären real Ausnahmefälle.

Proof, hat mich sehr gefreut von Dir zu hören! Danke fürs Lesen!

Gruß Achillus

 

Hallo Friedel, vielen Dank für Deinen Kommentar!

Ich habe Deine Korrekturempfehlungen umgesetzt. Das war sehr hilfreich, danke!

da hastu mich aber tatsächlich „bei der Stange halten“ können, wiewohl ich eigentlich darauf angespannt warte, dass Rotchina sich seine ehemaligen Gebiete vom Zarewitzka zu Moskau „zurückfordern“ bzw. ggfs. „-holen“ wird.

Freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Aber im Pott klingt „Smog“ mit der dahinsiechenden Industrie eher wie ein Mythos, ohne dass er darum zum Naturschutzwunder würde

Interessanter Punkt. In dieser Dystopie gehe ich davon aus, dass dem ungebremsten Profitstreben sowohl der soziale Frieden und auch die ökologische Balance geopfert wird. Ich hoffe, dass die Zukunft mich widerlegt!

Danke, Friedel!

Gruß Achillus

 

Aber im Pott klingt „Smog“ mit der dahinsiechenden Industrie eher wie ein Mythos, ohne dass er darum zum Naturschutzwunder würde
zitierstu mich,

lieber @Achillus,

und fährst fort:

In dieser Dystopie sei davon auszugehen,

dass dem ungebremsten Profitstreben sowohl der soziale Frieden und auch die ökologische Balance geopfert wird.
und Du hoffst,
dass die Zukunft [uns ]widerlegt!

Ich fürchte aber, das Prinzip Hoffnung wird in den anstehenden systembedingten Auseinandersetzungen ein kleines Flämmchen bleiben und mit „Marx- & Engelszungen“ hab ich hier

https://www.wortkrieger.de/threads/mew-bd-23-ff-wi€der-ge-lesen.48294/

mal zu singen versucht (aber vorsicht: Bob Dylan klingt dagegen wie ein Caruso)

Tschüss

Friedel

 

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