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Ivy * 1768
Die Nacht zog herauf über die saftigen Hügel von Killmoore. Von der Küste wehte ein rauher Wind. Längst war es ruhig geworden in dem kleinen Lodge.
Ryan O´Leary saß auf einem Holzschemel und wärmte sich am Feuer des offenen Kamins. Hin und wieder warf er ein Stück Torf auf die Glut und beobachtete das gleichmäßige Züngeln der Flammen.
Seine Gemahlin Lauren saß, wie jeden Abend, beinahe starr am Bett ihrer Tochter Ivy. Das Mädchen hatte erst viermal den Sommer erlebt. Ihr schwaches Herz schlug leise dem baldigen Tod entgegen. Matt und nahezu leblos lag sie da. Ihr rotblondes Haar zu einem Zopf gebunden. Die grünen Augen versteckt in tiefen Höhlen und das Antlitz so bleich wie die Felsen an der Küste Irlands. Lauren hauchte dem Kind einen zärtlichen Kuss auf die blassen Lippen. So oft hatte sie flehend zu Gott gesprochen. Um das Leben ihrer Tochter gebettelt. Er erhörte sie nicht. Der Priester war vor wenigen Stunden gegangen, nachdem er das Kind gesegnet und geölt hatte.
„Du solltest Dich für Ivy freuen. Sie wird bei Gott einen Platz finden und nicht mehr leiden müssen“, hatte er zu Lauren gesagt, als er ihr die Hand zum Abschied gereicht hatte und gegangen war. Aber sie haderte mit dem Schicksal, das ihr einziges Kind rauben wollte. Bis zuletzt hatte sie Hoffnung gehabt, ihre Gebete würden erhört. Nun hatte sie keine Zeit mehr. Es musste jetzt geschehen. Noch heute Nacht. Sonst würde sie Ivy für immer verlieren.
„Halte durch, mein Kind. Schon wenn der Morgen erwacht, wird alles ein Ende haben. Vertraue mir.“
Sie nahm Ivys Haarband an sich und steckte es in die Tasche ihrer leinenen Schürze. Dann ging sie zu der Truhe aus Kiefernholz. Dort ruhten die Erinnerungen vergangener Jahre. Sie zog ein Maispüppchen heraus. Der Großvater, der vor einem Jahr gestorben war, hatte es für Ivy gemacht, als sie gerade laufen lernte. Sie nahm noch einige Gegenstände heraus, die sie sorgsam zu dem Haarband legte. Noch einen Augenblick verweilte sie vor der Truhe und Zweifel bedrückten ihre Seele. Würde sie sich je verzeihen können? Könnte ihre unendliche Liebe zu Ivy eine solche Grausamkeit zulassen? Angst schlich sich durch ihren Körper und verharrte als tiefer Schmerz in ihrem Kopf. Sie erhob sich und trat an Ivys Bett. Sie legte das Maispüppchen neben das Haupt des Kindes und ging schweren Herzens in die Gaststube neben der Schlafkammer. Bereit, alles zu tun, was man ihr aufgetragen hatte.
Rebecca, die Magd, hatte einen Kessel über das Feuer gehängt, um einen wohlschmeckenden Kräuteraufguss zu bereiten. Laurens wachsamen Augen war nicht entgangen, dass Ryan Gefallen an Rebecca fand. Sie war ein hübsches Mädchen von siebzehn Jahren. Schwarzes langes Haar reichte ihr bis auf die Hüften und zierte ihr anmutiges Haupt. Klare, braune Augen harmonierten mit ihren vollen Lippen zu einem makellosen Gesicht. Ryan war ein noch junger, stattlicher Mann. Seine blauen Augen konnten nicht ruhen, wann immer Rebecca seine Blicke erwiderte.
Fast hatte Lauren Verständnis für das Verlangen ihres Gemahls. Seit Monaten verbrachte sie Tag und Nacht am Krankenlager ihrer Tochter. Dennoch - die Eifersucht war stärker.
„Setz dich, Rebecca. Heute werde ich den Aufguss selbst brühen. Du hast genug Tagwerk erledigt.“ Verwirrt sah die Magd auf ihre Herrin, tat jedoch, was Lauren ihr aufgetragen hatte. Wie zufällig streifte sie Ryans Schulter mit einer liebevollen Geste, als sie an ihm vorbei zu einem Schemel schritt.
Die betrogene Ehefrau ging in die Vorratskammer und mischte die Kräuter für den Aufguss. Sie wickelte die duftenden Blüten in ein Stück gewebtes Leinen. Mit einem Band verknotete sie das Bündel. Vorsichtig legte sie es in einen großen Krug aus Ton und ging zurück in die Gaststube.
„Lauren, wir werden die Schafe verkaufen müssen. Niemand will mehr Speis und Trank von uns. Die Leute haben Angst, Ivys Krankheit könnte auch sie heimsuchen.“
„Hab keine Furcht, Ryan. Es wird sich alles finden. Glaube mir.“
Die Wirtin füllte zitternd den Krug mit kochendem Wasser und stellte ihn auf einen der Gasttische. Anschließend legte sie zwei Holzschalen dazu und einen hölzernen Teller mit Scones, den sie mit einem Tuch bedeckte. Sie wusste, wie sehr ihr Gemahl und seine Geliebte dieses Gebäck schätzten. Die Hoffnung auf den nächsten Morgen spiegelte sich in Laurens grünen Augen. Dann füllte sie die Schalen mit dem heißen Getränk.
„Euer Kräuteraufguss ist fertig. Ich werde noch einmal nach Ivy sehen“, sagte die schlanke Wirtin und verließ schnellen Schrittes die Stube. Ihr geflochtenes, rotes Haar schwang zu einer unhörbaren Melodie hin und her.
Sanft setzte sie sich an das Bett ihrer kleinen Tochter. Sie streichelte dem Kind immer wieder über die kalten Wangen, während ein friedvolles Lied aus ihrem Mund drang, bis Ivy die Augen geschlossen hatte und ruhig schlief. Silbern glänzte der Mond in die Kammer und Lauren trat an das winzige Fenster. Sie blickte auf die Wiese. Der Nebel wich den warmen Sonnenstrahlen und Lauren beobachtete ihren verstorbenen Vater, der mit Ivy an der Hand durch das frische Gras spazierte. Sie sah, wie Ivy glücklich das Maispüppchen von ihrem Großvater entgegennahm. Sie lauschte dem fröhlichen Lachen der beiden und spürte die Wärme, die sie umgab. Polternde Geräusche zerrissen den friedlichen Augenblick. Nur die kühle Nacht blieb zurück. Etwas Schweres fiel in der Stube nebenan zu Boden.
„Es ist an der Zeit“, dachte Lauren. „Die Kräuter zeigen ihre Wirkung." Ihre Augen funkelten vor Furcht und ihr Herz raste. Sie versuchte sich zu beruhigen. Langsam schritt sie aus der Kammer in die Gaststube. Sie sah Rebecca und Ryan auf der Erde liegen und wusste: „Nun gibt es kein Zurück mehr.“
„Lauren, hilf mir. Meine Beine. Ich kann sie nicht bewegen. Es müssen die Kräuter im Aufguss gewesen sein. Sicher waren sie verdorben.“
„Nein, Ryan. Sie waren nicht verdorben. Ihre Wirkung ist genau so, wie sie sein sollte, verzeih mir.“
Ängstlich sah Ryan zu seiner Frau auf. Noch begriff er nicht, was geschehen war, oder geschehen würde.
„Bleib ruhig. Bald ist alles vorüber. Schau auf Rebecca, wie still sie ist.“
Sein panischer Blick fiel auf die Dienerin, die reglos auf dem Holzboden lag.
„Glaub nicht, sie wäre tot. Sie kann uns hören. Auch sehen kann sie uns. Nur bewegen kann sich deine Geliebte nicht mehr. Vielleicht möchtest du ihr noch etwas sagen, bevor auch dich dieses Schicksal ereilt. Nur zu, es macht mir nichts aus. Ich weiß, dass ihr beiden schon lange nicht mehr nur Herr und Magd seid. Ich weiß, nach was du bei Rebecca gesucht hast.“
„Lauren, ich bitte dich. Was hast du uns angetan. Was verlangst du? Ist dein Zorn so groß?“
„Drei Monate sind vergangen, seit ich um deine Liebschaft weiß. Ich hatte gehofft, du würdest dich besinnen. Würdest an Ivy und mich denken. Doch dann bin ich ins Moor gegangen. Du weißt, wer dort wohnt, nicht wahr? Doriah. Sie hat mir die Kräuter für den Aufguss gegeben. Du verachtest sie. Ihr alle tut das. Ich nicht. Ich weiß um ihre Kenntnis für Kräuter und Wurzeln. Sie sieht Dinge. Wusstest du das? Deshalb bin ich zu ihr gegangen. Denn Rebecca war immer voller geworden im Gesicht und ihre Augen glänzten. Am Morgen hatte sie sich beim Wasserholen am Brunnen mehrmals erbrochen. Doriah hatte mir Recht gegeben, dass Rebecca ein Kind unter ihrem Herzen trägt. Dein Kind. Ein Knabe ist es, das solltest du noch wissen. Ryan, du ließest mir keine Wahl. Ivy wird leben und auch ich. Ich werde nicht auf den Tag warten, an dem ich eurem Glück im Wege stehe, euch lästig werde. Ich kann nicht erlauben, dass unsere Tochter stirb, während euer Kind lebt.“
Hoffnungslos sah Ryan zu seiner Frau. Immer wieder versuchte er sich zu bewegen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Auch seine Lippen wollten nun keine Worte mehr formen.
„Die Lähmung wird noch bis nach dem Morgengrauen andauern. Sicher möchtest du hören, was Doriah mir noch erzählt hat. Doch vorher muss ich euch vor den Kamin legen. Ich brauche mehr Licht, um zu tun, was nötig ist, damit Ivy leben kann.“
Lauren holte einige Schaffelle und breitete sie vor dem Kamin aus. Auf jedem der Gasttische entzündete sie eine Kerze. Dann stellte sie einen Becher und eine tönerne Flasche mit Whiskey auf den Tisch, der dem Kamin am nächsten lag. Den verbliebenen Rest des betäubenden Kräuteraufgusses füllte sie in eine der Schalen und stellte sie neben den Whiskey. Feines Pulver, das sie aus Doriahs Hand erhalten hatte, vermischte sich in den Farben des wilden Klees mit der Flüssigkeit.
Rebecca war ein zierliches Mädchen. Dennoch hing sie schwer in Laurens Armen, als sie die Magd auf die Liegestatt schleppte. Mit ihrem Gemahl hatte sie noch mehr Mühe und war erschöpft, als sie sein Haupt auf eines der Schaffelle bettete.
„Ich habe noch etwas für dich, Ryan.“
Lauren kniete sich neben ihn. Sie sah, wie seine Augen im Flackern des Kaminfeuers Bedauern und Angst ausdrückten. Entschlossen griff die junge Frau in die Tasche ihrer Schürze und zog ein blaues Fläschchen heraus. Behutsam hob sie den Kopf des Wirtes. Benetzte seine Lippen mit dem duftenden Wässerchen, das Doriah ihr überlassen hatte. Langsam sickerte Tropfen für Tropfen durch seinen halb geöffneten Mund und verschwand in seiner Kehle. Lauren hielt nicht inne, bis das Fläschchen geleert war. Dann legte sie Ryans Kopf zurück.
„Ich verlange zwei Dinge von euch. Von jedem eines. Ryan, ich wünsche mir dein Herz zurück. Du hast es mir schon einmal geschenkt. Nun aber gehört es ihr.“
Mit einer abfälligen Kopfbewegung deutete sie auf die Magd.
„Ich möchte es wieder haben. Von dir verlange ich dein Kind, Rebecca. Es hat dir ohnehin nie zugestanden. Mein Kind liegt sterbend in seiner Kammer und ohne Kind kann ich nicht sein.“
Für einen kurzen Augenblick betrachtete die nach Rache dürstende Frau das sündige Paar. Sie konnte nicht weiter in Ryans Augen blicken. Nur einen Wimpernschlag lang verspürte sie Mitleid. Es verflog so schnell wie eine diebische Elster. Ehe es ihr Vorhaben zerstören konnte, zwang Lauren sich das Unvermeidliche fortzuführen. Sie war schon zu weit gegangen, um es jetzt noch zum Wohle der beiden zu beenden. Nur Ivy war mehr bedeutend.
„Die Zeit drängt. Ich kann es nicht weiter aufschieben“, dachte Lauren und legte noch mehr Brennmaterial in den Kamin. Sogleich begannen die Flammen zu wachsen. Sie ging zu dem Tisch, auf dem der beinahe leere Krug stand. Das Bündel mit den Kräutern hob sie heraus, und öffnete es im Schein der Kerze. Sie nahm das Stück sauberes Leinen, das über dem Gebäck ruhte, und legte es vor sich auf den Tisch.
Dann zog sie einen Fetzen Rindsleder aus ihrer Schürze. Mit seltsamen Lettern hatte Doriah etwas mit Rinderblut darauf geschrieben. Sie betrachtete es und hielt es ins Licht. Lauren hatte nie gelernt zu lesen, aber sie kannte die Bedeutung der Worte. Auch glaubte sie, die Macht, die von ihnen ausging fühlen zu können. Sie rollte die Schrift zusammen und legte sie auf das Leinentuch. Dann schüttete sie die Kräuter darauf, gab etwas Baldriankraut hinzu und stand auf.
Wie in Trance ging sie hinaus in die Kammer, in der zu Zeiten großer Betriebsamkeit in dem Gasthaus normalerweise das Essen zubereitet worden war. Sie stand vor der Lade mit den Messern. Sie griff nach einem kleinen, sehr spitzen mit Holzgriff, und ging zurück zu den beiden Ehebrechern.
Sie kniete sich neben Rebecca nieder und sah auf ihren Mann.
„Du blutest aus Nase und Mund. Kannst du es fühlen, wie es hinabgleitet und das weiße Fell tränkt? Du spürst den Schmerz nicht, Ryan. Nicht wie ich ihn spüre.“ Sie suchte nach einer Antwort in seinem Gesicht, obwohl sie wusste, er würde sie ihr nicht geben können.
Dann begann sie, das Mieder und die Schürze von Rebeccas Bekleidung zu öffnen. Sie faltete auch den Rock auf und schaute auf den makellosen Leib der Magd. Ihr wurde klar, warum Ryan ihr nicht widerstehen hatte können.
Rebeccas Augen waren starr. Ein Zucken der Lider war die einzige Bewegung, die sie vermochte.
Behutsam tastete Lauren sich um den Nabel der Magd. Etwa eine Handbreite darunter setzte sie das Messer an. Ihre Hände zitterten. Zweifel keimte erneut in ihr. Glaube und Hoffnung; Wut und Hass kämpften wie wild um ihre Gedanken. Dann trat die Spitze des Messers schmatzend in den Unterleib ein. Nur wenig Blut quoll aus der Wunde. Lauren fröstelte.
„Was begonnen wird, muss auch beendet werden“, flüsterte sie und vergrößerte die Wunde. Eine dünne Haut lag vor ihr. Mit bloßen Händen zerriss sie die zarte Hülle, und gab den Blick auf das winzige Kindchen frei. Lauren fuhr erschrocken zurück. Doriah hatte ihr Anweisung gegeben, was zu tun sei. Sie hatte auch gesagt, dass der Junge noch nicht aussehen würde wie ein kleines Kind. Doch diesen Anblick hatte sie nicht erwartet.
„Noch nie habe ich in den Schoß des Lebens geblickt“, dachte Lauren entsetzt. „Aber die Lebenskraft, die in diesem Kinde wohnt, wird Ivy heilen. Nur das ist mehr wichtig.“
Sie trennte das unfertige Wesen mit einem Schnitt von seiner Lebensader, die es mit seiner Mutter verbunden hatte, und hob es aus seinem Ursprung. Lauren wiegte es in ihrer Hand.
Sie blickte auf Rebecca. „Deine Liebe zu meinem Mann wird das Leben meiner Liebe retten.“
Sie erhob sich, und bettete vorsichtig den winzigen Körper auf das Leinentuch zu Leder und Kräutern. Dann ging sie und verschloss mit Nadel und Faden die Öffnung im Bauch der bestohlenen Mutter.
Lauren kehrte zurück zu Ivy und ließ sich neben dem Bett auf ihre Knie sinken. Ihr Gesicht vergrub sie in den zitternden Händen. Salzige Tränen versickerten in der Decke des schlafenden Kindes. Sie wollte beten. Getraute sich jedoch nicht. Sie hatte Schuld auf sich geladen, war aber bereit noch mehr Schuld auf sich zu nehmen, wenn Ivy nur wieder gesund sein könnte, um draußen auf der Wiese zu laufen und zu lachen.
Die Kerzen schmolzen dahin und es würde keine Stunde mehr vergehen, bis der Morgen graute.
Ryans Körper begann zu beben. Er zuckte und wand sich am Boden wie ein hilfloser Wurm. Das war der Moment, auf den Lauren bangend gewartet hatte. Schnell eilte sie an den Kamin und warf noch mehr Torf ins Feuer. Die Flammen loderten und Lauren sah, wie sich ihr Mann in deren Licht aufbäumte. Schnell schob sie den Haken, mit dem wassergefüllten Kessel daran, direkt über das Feuer. Es musste kochen. Ryan begann zu würgen und zu husten. Lauren kniete sich hinter ihn, um seinen Kopf zu stützen.
„Alles wird gut“, flüsterte sie und strich sein Haar aus der Stirn. Blut schoss aus seinem Mund und der Nase. Die Augen traten aus ihren Höhlen und er röchelte, als würde er an der Flut ersticken. Er würgte und hustete immer heftiger, bis ein Schwall hellroten Blutes einen Klumpen aus seinem Mund platschend auf das Schaffell fallen ließ. Er atmete tief ein und sank schließlich tot in Laurens Arme.
Sie weinte. Verschwommenen Blickes nahm sie das pulsierende Ding neben ihrem leblosen Gemahl wahr. Ein letztes Mal küsste sie ihn, schloss seine Augen und legte ihn sanft zu Boden.
Sie nahm Ryans Herz auf und legte es zu den anderen Gaben. Das Wasser brodelte. Lauren schlug die Ecken des Tuches übereinander und wickelte das Haarband ihrer Tochter darum. Dann ging sie um den Leichnam und Rebecca herum auf den Kessel zu. Ein leises Zucken begann sich in den Gliedern der Magd zu regen. Lauren bemerkte es.
„Ich komme zu dir zurück und erlöse dich von deinem Leid. Du hast mein Wort.“
Dampf quoll aus dem Kessel empor und zischend spritzten ein paar Tropfen Wasser ins Feuer. Lauren hielt das Päckchen über den Kessel. Sie spürte die brennende Hitze auf ihrer Haut. Schließlich ließ sie das Bündel ins kochende Wasser gleiten. Ihre Hände waren rot und brannten wie das Feuer selbst.
Sie ging in Ivys Zimmer, goss Wasser in die Waschschüssel neben dem Bett, und wusch sich Hände und Gesicht. Während sie sich neu ankleidete, schaute sie besorgt zu ihrem Kind. Kaum hörbar atmete das kleine Mädchen. Ihr Anblick machte Lauren schmerzlich klar, dass der Tod um ihr junges Töchterchen schlich, bereit dazu, noch vor Sonnenaufgang nach ihr zu greifen. Bangend sah sie zum Fenster. Der Mond verlor seinen Glanz und begann zu sinken. Das Geräusch des kochenden Wassers ließ neue Hoffnung in ihr wachsen. „Gib mir noch etwas Zeit“, flüsterte sie dem schlafenden Kind zu. „Halte durch. Ich bitte dich. Sonst war all mein schreckliches Tun vergebens. Lass mich nicht allein.“
Der erste Schrei des Hahnes riss sie aus ihren Gedanken. Mit einer sauberen Holzschale in der Hand schöpfte sie von dem köchelnden Sud.
Voller Zuversicht eilte sie in die Schlafkammer.
Sie küsste zärtlich Ivys Gesicht. Rieb die kalten, mageren Hände, bis das Mädchen die Augen öffnete. „ Es ist schon Morgen. Ich habe dir Suppe gebracht. Du musst sie aufessen, damit du wieder zu Kräften kommst.“
Liebevoll hielt sie die Schale an den Mund ihres Töchterchens. Immer und immer wieder, bis auch der letzte Rest getrunken war. Ivy regte sich kaum und die Minuten schienen Lauren wie eine Ewigkeit. Mit einem Mal wich die wächserne Bleiche einem zarten Rosa auf Ivys Wangen. So sehr sich Lauren bemühte, die Tränen zurückzuhalten, es gelang ihr nicht. Die Angst der vergangenen Nacht wich beinahe ganz von ihr und Erleichterung erfüllte sie mit wohltuender Wärme. Das erste Mal seit Wochen sprach Ivy:
„Mutter, ich bin noch so müde." Sie streckte ihre kleine Hand nach Lauren aus, und berührte die tränennasse Wange. "Warum weinst du?“
„Weil ich so glücklich und traurig zugleich bin, kleine Ivy.“
„Warum?“, wollte das unschuldige Kind wissen.
„Du musst nicht erfahren, was mich bedrückt, aber du sollst wissen, wie glücklich mich das Strahlen deiner Augen macht.“
Sie nahm die Hand ihrer Tochter, küsste sie, und legte sie auf das Bett. Schließlich wickelte sie das Mädchen in die Decke aus grober Wolle. Ivys Gesicht und den Kopf bedeckte sie mit einem Schal. „Ruhe dich noch aus. Wir werden zu Großmutter gehen. Ich werde dich tragen. Doch schweig still und schlafe.“ Sie hob das verhüllte Kind auf ihren Arm. Sie summte leise Ivys Lieblingslied. Endlich schlief das Mädchen wieder ein.
Lauren ging hinüber zu Rebecca. Sie lag noch immer auf dem Fell, jedoch ein gutes Stück weiter oben.
„Verzeiht mir, Herrin“, bettelte das Mädchen und versuchte verzweifelt sich weiter zu bewegen.
„Es gibt nichts mehr zu verzeihen. Ich danke dir. Du hast meinem Kind das Leben geschenkt.“
„Bitte Herrin, ich flehe euch an. Schenkt auch mir das Leben. Ich werde niemanden davon erzählen, was heute Nacht geschehen ist.“
Lauren nahm die Schale restlichen Kräuteraufgusses und reichte sie Rebecca. Flüsternd, um Ivy nicht zu wecken, sprach sie: “Trink, und alles wird gut. So bleibt dir ein schmerzvoller Tod erspart.“
Hoffnung erfüllte das Antlitz des jungen Mädchens und gierig trank sie von dem Aufguss.
„Du hast etwas, was ich nie haben werde, du törichtes Kind. Im Tod liegst du neben Ryan, nicht ich. War es das, was du wolltest?“
Wütend warf Rebecca die Schale nach der Mörderin. Sie traf Lauren am Bein, und leise rollte die Holzschale unter einen der Tische.
Mit der freien Hand goss Lauren Whiskey in den Becher und trank davon. Dann kippte sie die Tonflasche um. Die hellbraune Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch und den Holzboden. Schließlich nahm sie die Kerze vom Tisch und sah noch einmal zu Rebecca. Sie wartete ab, bis ihr stummer Blick sich verdunkelte. Schließlich schloss die Magd ihre Augen für immer und sank auf Ryans Brust.
Lauren ließ die Kerze in den Whiskey fallen. Sofort begannen die Flammen gierig davon zu trinken. Sie fraßen sich über den Tisch hinab, über den Boden auf die letzte Ruhestätte von Ryan und Rebecca zu.
Lauren legte die Hand auf Ivys Hinterkopf und ging zur Tür. Sie entfernte den Sperrbalken und warf ihn gegen die Wand aus Torfziegeln. Dann öffnete sie die Holztüre.
Der Tau glitzerte auf den Grashalmen und vor ihr lag ein neues Leben. Sie spürte, ihr Kind und sie würden endlich wieder glücklich sein können. Lauren wollte über die Wiese tanzen. Zusammen mit Ivy.