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- 22.10.2004
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¡Torero!
In dem Moment, in dem die Pforte sich öffnete, war es wieder da: Das Gefühl der feuchten Hände, das nervöse Ziehen im Bauch, die Gewissheit, klein zu sein.
Ramón stemmte sich in den Boden. Das Nachgeben des Sandes unter seinen Füßen war so vertraut, dass es ihn beruhigte. Er fühlte sich noch immer klein und verloren; die leeren Tribünen hatten für ihn seit jeher fast etwas Bedrohliches; aber er spürte plötzlich warm die Entschlossenheit in sich aufsteigen. Er atmete tief und langsam, während er dem Stier entgegen sah.
Es ist nur eine Übung, hatte Jorge betont, wenn du noch nicht so weit bist, schäm dich nicht, einfach zu rennen, die peones sind da, eine Handbewegung von dir und wir lenken ihn ab.
Rennen!
Ramón schaffte es, den Gedanken mit der richtigen Verachtung zu denken.
Der Stier war jetzt bis auf ein paar Schritte herangekommen. Er wirkte ratlos. Seine Flanken bebten, mit einem Huf scharrte er im Sand, schaute Ramón an und schien nicht zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte.
Ein peón näherte sich von hinten.
Der Tanz beginnt, dachte Ramón.
Der Stich, den der peón ausführte, war nur leicht, aber er reichte, den Stier nach vorne springen zu lassen. Ramón hob die muleta, das rote Tuch. Er hatte die Bewegungen oft genug gesehen und oft genug selbst ausgeführt – lange, bevor Jorge sie ihm das erste Mal erklärt hatte.
Er hörte das Schnaufen des Tieres, als es an ihm vorbeidonnerte, und spürte die Wärme, die von den gewaltigen Fleischmassen ausging. Für einen kurzen Moment ergriff ihn die Ehrfurcht vor soviel geballter Kraft. Er stieß einen kurzen Schrei aus, um die Aufmerksamkeit des Stieres wieder auf sich zu lenken. Eine weitere Bewegung mit dem Tuch. Er konnte die Wut des Stieres fühlen und bewegte sich mit einem federnden Schritt weiter auf ihn zu. Risiko. Das Wort hämmerte hinter seinen Schläfen, sein Inneres blieb ruhig, aber in diesem Augenblick verstand er, warum es seinem Vater soviel bedeutete. Risiko. Der Stier war gefährlich nahe.
In diesem Moment geschah es.
Ihre Blicke kreuzten sich.
Ramón blickte in braune Augen. Verwirrung, hilflose Wut, vor allem aber Sehnsucht, Sehnsucht nach Ruhe, Sehnsucht nach der Freiheit der grünen Weiden von Jerez.
Ich verstehe dich, dachte Ramón wehmütig.
Dann erst fiel ihm auf, was gerade passiert war. Der Stier stand vor ihm, unbeweglich, nur schwer atmend, starrte ihn immer noch an. Dann senkte er den Kopf, schnaubte, wich zurück, schüttelte sich. Ramón blickte auf das Tuch in seinen Händen.
Ein Pfiff ertönte. An der Holzbande stand Jorge und winkte ihn zu sich. Mit langsamen Schritten kam Ramón näher, schwang sich über die Abgrenzung.
„Dios mío, Ramón! Was war das eben?“
„Was soll das gewesen sein?“
„Du musst das bemerkt haben! Ich habe so etwas noch nie gesehen!“ Jorge schüttelte den Kopf. „Dieser Stier ist ein junger Wilder, ich hatte fast Bedenken, ihn zu dir in die Arena zu schicken. Und was passiert? Du schaust ihn an und … es fällt alles von ihm ab. Du warst langsam, Ramón. Normalerweise hätte er dich umgerannt.“
„Hat er aber nicht.“
„Nein, und das ist gerade das, was ich nicht verstehe. Kein normaler Stier verhält sich so.“
Ramón zögerte, blickte hinüber in die Arena, wo die peones damit beschäftigt waren, den Stier zurück in die Stallungen zu treiben. Sollte er Jorge erzählen -?
„He! Dich wundert das wohl gar nicht?“ Sein Lehrer stieß ihn an.
Ramón seufzte. „Nein, nicht wirklich“, gab er zu. „Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass ich so was erlebe.“
„Dass du was erlebst?“
„Und ich dachte, du kennst diese alte Geschichte. Mein Vater erzählt sie sonst so gerne!“
Jorge hob nur fragend die Augenbrauen. Ramón lächelte müde und sah auf seine Schuhspitzen. Es war merkwürdig, sich daran zu erinnern.
„Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, fuhr mein Vater mit mir und meiner Schwester die ruta de toros ab. Er zeigte uns, aus welchen Zuchten die besten Stiere kommen. Auf einem Hof machten wir eine Pause. Ximena und ich liefen herum und spielten, und irgendwie kamen wir auf die Idee, über eine der Weiden zu gehen. Und unser Herumgehopse und Gejohle hat natürlich einen der Stiere aufmerksam gemacht.“
Jorge wartete.
„Der kam dann also auf uns zu galoppiert. Wir waren beide ganz schreckensstarr. Ximena stand hinter mir, und ich sah dem Stier entgegen. Ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte ihm nur in die Augen sehen. Ganz tief. Schließlich bremste er in einem Meter Entfernung oder so ab, stand eine ganze Weile da und starrte mir auch in die Augen. Dann drehte er sich um und ging weg. Ximena und ich haben uns beeilt, von der Weide runterzukommen. Mein Vater hatte gesehen, wie der Stier auf uns zukam. Für ihn war das ein Zeichen dafür, dass ich zum Torero geboren bin.“
„Aber Ramoncito, das bist du ohnehin, bei deinem Vater… Eine merkwürdige Geschichte. Er hat sie mir nie erzählt“, sagte Jorge kopfschüttelnd. „Und seitdem …?“
„Es ist nie wieder ein Stier auf mich zugerannt, aber ich habe es manchmal probiert, indem ich sie einfach ansehe. Sie werden ruhig, wenn ich ihnen in die Augen schaue. Trotzdem, ich wusste nicht, dass es jetzt passieren würde. Ich hatte es fast vergessen.“
„Es ist erstaunlich!“, murmelte Jorge bloß.
Sevilla im Frühling war wie ein berauschender Trank aus Farben, Tönen und Düften, den man zu keiner anderen Jahreszeit so genießen konnte. Tiefblau spannte sich der Himmel über die Stadt, bräunlich trübe floss der Guadalquivir. In den schattigen Gassen von Santa Cruz und Arenal leuchtete das junge Grün der Orangenbäume. Das bronzene Dröhnen der Glocken der Giralda scheuchte weiße Wolken aus Taubenkörpern vom grauen Steinboden auf und wurde eins mit dem rhythmischen dumpfen Schlag der Prozessionstrommeln, die während der Karwoche gleichsam den Herzschlag der Stadt bildeten; und der Osterduft von Weihrauch und Wachs vermischte sich in der ganzen Stadt mit dem zarten Duft der Orangenblüten.
In den Jahren, die er hier lebte, hatte Juan Romero gelernt, diesen Trank zu genießen und sich mit dem hässlichen, dreckigen, glühend heißen Sevilla der Sommermonate auszusöhnen. Die Karwoche mit ihrem Zauber war ein Lebenselixier, aber für ihn hatte sie auch seit jeher die Ruhe vor dem Sturm bedeutet: Am Nachmittag des Ostersonntags, wenn die letzte Prozession in ihre Kirche zurückgekehrt war, begann die Stierkampfsaison.
Und damit das wahre Leben, dachte Juan, während er die Calle Pastor y Landero herunterblickte. Er wohnte nur etwa fünfhundert Meter von der Arena, der Maestranza, entfernt. Von seinem Balkon aus konnte er sie am Ende der Straße sehen. Nur ein paar Tage, und die Menschen würden wieder zu ihr strömen, um dem königlichsten aller Schauspiele beizuwohnen und ihren Helden zuzujubeln. Die Helden, zu denen er einst gehört hatte.
Juan verzog in einem Anflug von Bitterkeit den Mund und beschloss, den Balkon zu verlassen.
Sein Rollstuhl stieß heftig gegen den Rahmen der Balkontür, als er zurückschob.
„Papá! Sag doch Bescheid!“
Ximena tauchte fast augenblicklich aus dem Halbdunkel der Wohnung auf. Er wehrte ab, als sie mit einem vorwurfsvollen Blick nach dem Rollstuhl griff.
„Lass das. Ich kann das alleine!“ Er sagte es eine Spur schärfer als beabsichtigt. Ximena wich kopfschüttelnd zurück und sah zu, wie er mit einiger Anstrengung über die Schwelle kam.
„Du solltest wirklich endlich umziehen, Papá. Hier ist doch alles viel zu eng. Und du bist auf diesen dummen Fahrstuhl angewiesen, wenn du rauswillst.“
„Ich habe kein Problem mit diesem Fahrstuhl“, knurrte Juan Romero.
„Er ist ständig kaputt. Das ist ein Problem, Papá!“
„Preciosa.“ Juan schaute ihr in die Augen – dunkle Augen, in denen derselbe Stolz leuchtete, den er an María so geliebt hatte – und versuchte, seine Stimme versöhnlich klingen zu lassen. „Wir haben das oft genug diskutiert.“ Versöhnlich, aber bestimmt. „Ich werde hier nicht wegziehen. Ich brauche den Blick auf die Maestranza.“
„Ah ja?“ Ximena wies mit einer ausgreifenden Armbewegung auf die Wände. Sie waren bedeckt mit Fotos. Immer wieder er: Er in der Arena. Er nach dem Kampf, mit den Ohren des Stiers in der Hand. Und die Maestranza, natürlich. Immer wieder. Irgendwo gab es auch ein Bild mit Ramón und Ximena.
Juan stieß verächtlich die Luft aus.
„Das ist nicht dasselbe, Ximena, das weißt du ganz genau!“
„Na und? Es wäre an der Zeit, endlich von diesem ganzen Scheißstierkampfkram wegzukommen!“, sagte sie hart. Was jetzt in ihren Augen leuchtete, war eindeutig kein Stolz mehr. Es war Wut. Juan hatte nicht erwartet, dass sie wieder davon anfangen würde. Ausgerechnet heute!
„Dieser – Kram … wie du es nennst … ist mein Leben, ¡joder!“ Er schlug mit der Faust auf die Lehne seines Rollstuhls.
„Das ist schon seit fünf Jahren nicht mehr dein Leben. Es ist vorbei.“ Ihre Stimme war ruhig.
Juan atmete tief durch. Nur nicht die Nerven verlieren. Sie musste ihn doch verstehen. „Man hört nicht auf, Torero zu sein, nur weil man nicht mehr in der Arena steht. Torero ist man, und man bleibt es. Vor allem dann, wenn man ein Romero ist. Wir sind für die Arena geboren, Ximena.“
„Ay, Papá!“ Sie blickte traurig zu Boden. „Wie kannst du darauf nur stolz sein!“
„Warum sollte ich darauf nicht stolz sein? El Tornado haben sie mich genannt. Keiner war so behände wie ich. Keiner wagte sich so nahe an den Stier heran. Ich war der Wirbelwind unter den Matadoren. Wenn ich die banderillas gesetzt habe –“
„Papá, mich interessiert nicht, wie schön du mit diesem blöden Tuch rumgewedelt hast“, unterbrach sie ihn unwillig. „Fakt ist, dass der Stierkampf grausam ist. Der Stier weiß gar nicht, was man von ihm will. Du fügst ihm die ganze Zeit Schmerzen zu …“
Juan machte eine ungeduldige Handbewegung. „Himmel, Ximena, es sind doch Tiere!“
„Auch Tiere spüren den Schmerz, Papá! Und wenn dir jemand einen Widerhaken in den Nacken treiben würde …“
„Jetzt hör mir mal zu. Diese Stiere wachsen glücklich und zufrieden auf. Sie stehen auf riesigen Weiden herum und können von früh bis spät soviel Gras fressen wie sie wollen. Vier Jahre Paradies gegen zwanzig Minuten in der Arena. Wo hast du sonst ein so ausgewogenes Verhältnis von Glück und Schmerz? Wenn du etwas anprangern willst, dann schau dir die Mastrinder an, die nicht einmal wissen, was eine Wiese ist.“
„Darum geht’s hier nicht. Wie kann man dem Tod zujubeln? Und dem Schmerz? Je mehr Blut fließt, desto mehr wird applaudiert. Ist das nun pervers oder nicht?“
„Jetzt reicht es aber!“ Langsam ging ihm doch die Geduld aus. „Wirklich kaum zu glauben, was dir dieser Jaime an Flausen in den Kopf gesetzt hat.“
„Javier“, verbesserte sie mit einem scharfen Unterton. „Und er hat mir keine Flausen in den Kopf gesetzt, sondern Wahrheiten.“
„Wahrheiten! Die verqueren Ansichten eines weltfremden, ahnungslosen Waschlappens sind das, mehr nicht! Ich habe dir gesagt, du sollst ihn zum Teufel jagen!“
„Du hast mir nichts zu sagen!“
Ximena ballte die Fäuste. Die Wut in ihren Augen war wieder da.
Ramón pochte mit den Fingerknöcheln an den Türrahmen, um sich bemerkbar zu machen. Bei seinem Anblick fuhr Ximena herum, warf den Kopf in den Nacken und ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei in den Flur.
„Ximena! Wo willst du hin? Ich denke, wir essen zusammen?“
„Esst ihr nur!“, fauchte seine Schwester mit einem betont verächtlichen Blick auf seine Sporttasche, in der er seine Trainingskleidung aufbewahrte. Für einen Moment glaubte Ramón auch Vorwurf in diesem Blick zu spüren. Dann fiel die Wohnungstür knallend ins Schloss. Er und sein Vater waren allein.
Juan Romero aß kaum. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinem Gesicht, während er Ramón zusah.
„Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.“
Ramón sah überrascht auf. Ein so warmer Tonfall passte nicht recht zu seinem Vater. Überdies hatte er das unangenehme Gefühl, dass dieser ihm mit seinem Stolz Unrecht tat.
„Dazu gibt es noch gar keinen Grund“, sagte er verlegen und zerbröselte ein Stück Brot über dem Suppenteller.
„Doch, dazu gibt es mehr als genug Gründe. Soweit ich weiß, ist Jorge mit dir zufrieden. Du machst dich gut. Du stehst am Anfang einer großen Karriere. In ein paar Jahren wird jedes Kind in Spanien deinen Namen kennen. Ramón Romero.“ Juan nickte. „Die Romeros sind zurück. An diesem Sonntag werden es alle sehen und dich auf den Schultern aus der Arena tragen.“
„Papá!“ Ramón schüttelte lachend den Kopf. „Du übertreibst. Ich bin ganz am Anfang.“
„Du hast das richtige Blut in deinen Adern“, beharrte Juan. „Das kalte Blut der Romeros. Kein Stier kann es in unnötige Wallung bringen und dich zu einem groben Fehler verleiten.“ Er schlug mit der Hand auf den Tisch. „Pass auf!“
Ramón ließ seinen Löffel in den leeren Teller gleiten und folgte seinem Vater vorsichtig in Richtung Schlafzimmer. Es gelang Juan nicht auf Anhieb, seinen Rollstuhl durch die Tür zu bugsieren.
„Soll ich dir helfen, Papá?“
„Danke, Ramón. Es geht schon. So …“ Juans Augen hatten zu leuchten begonnen wie die eines Kindes an Heiligabend. Er lenkte den Rollstuhl auf den dunkel glänzenden Schrank zu, beugte sich vor und zog eine Schublade auf.
„Es ist der richtige Moment, denke ich“, murmelte er, während er in dem Schubfach wühlte. Ramón lehnte leicht unschlüssig in der Tür. Sein Vater förderte einen länglichen, in grünen Samt eingeschlagenen Gegenstand zutage, hielt ihn vor sich hin und betrachtete ihn mit einem Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit, als habe er ein Baby auf dem Arm. Dann streckte er ihn auffordernd Ramón entgegen.
„Komm schon, nimm ihn. Er gehört jetzt dir.“ Seine Augen wurden feucht, als Ramón das Samttuch zurückschlug.
„Dein Degen!“
„Ich wollte nicht bis Sonntag warten. Es wird gut sein, wenn du dich daran gewöhnst, ihn in deiner Hand zu spüren.“ Juan wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Er hat mir viel Glück gebracht. Möge er dir zu den größten Erfolgen verhelfen, die je einem Torero beschieden waren.“
Ramón schwieg. Der grüne Samt wurde feucht von seinen Händen.
Der Parque María Luisa war viel zu klein, viel zu eng, zu voll von Touristen, um eine wirkliche Oase darzustellen. Aber die Luft war frisch hier, und wenn man den richtigen Wegen folgte, schmeckte sie nach Ruhe. Wann immer er hier war, musste Ramón an die Orte seiner Kindheit denken. Das Grün in diesem Park war nur ein schüchterner Abklatsch der weiten Wiesen, und Bäume mochte er nicht - sie standen zu eng und verdeckten den Blick auf den Himmel. Was Ximena darüber dachte, wusste er nicht. Er hatte sie nie gefragt. Wenn sie etwas zu bereden hatten, gingen sie in den Parque María Luisa; das war Tradition, darüber mussten sie nicht sprechen, das ergab sich von selbst.
„Ja, ich weiß, ich sollte nicht ständig mit ihm streiten“, sagte Ximena, ohne ihn anzusehen. „Aber es passiert nun mal einfach. Er macht mich so wütend, Ramón.“
„Auf mich warst du auch wütend.“
Jetzt schaute sie auf. „Weil ich’s nicht verstehe.“ Sie hielt an.
„Warum tust du das, Ramón? Macht es dir Freude?“
Sie mussten ein sonderbares Bild abgeben, wie sie mitten auf dem Weg standen und einige Leute weit zur Seite schwenken mussten, um vorbeizukommen: Sie umklammerte seinen Arm, starrte ihn flehend an, und er spürte die Röte in seine Wangen steigen, blickte verwirrt zur Seite, versuchte alles, um den Blick seiner Schwester nicht erwidern zu müssen. Schließlich wurde ihm klar, dass er darum nicht herumkam. Er entschloss sich zum Gegenangriff.
„Warum hasst du es so sehr?“
Ximena ließ ihn los.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass das schwer zu verstehen ist. Es ist grausam und blutig. Wie können sich Menschen daran derart – berauschen? Das ist doch krank!“ Ihre Schuhspitze bohrte sich in den Sand. Ramón musste plötzlich daran denken, wie ihr Vater sie zu ihrer ersten Corrida mitgenommen hatte. Er war fünf gewesen und Ximena vier. Zuerst hatte sie geklatscht und gejubelt wie alle anderen auch. Hatte eine Rose hinunter in den blutigen Sand geworfen, im Takt der Musik gestampft und mit ihrem weißen Tuch gewinkt wie verrückt. Erst beim dritten Kampf hatte sie begriffen, was eigentlich geschah.
„Papá, warum schneidet er dem Stier die Ohren ab?“
„Weil er einen sehr guten Kampf gezeigt hat, princesa, und der Präsident – siehst du ihn? Dort drüben sitzt er – hat ihm die Erlaubnis gegeben.“
„Aber das tut dem Stier doch weh.“
„Unsinn, Ximenita, der Stier ist doch tot.“
„Der Stier ist tot?“
Ramón erinnerte sich an ihre großen fragenden Augen. Erst viel später hatte er begriffen, dass sie bereits in diesem frühen Moment ihre Abneigung gegen den Stierkampf gefasst hatte. Als sie dann das erste Mal in die Arena gingen und ihren Vater unten stehen sahen, in seinem rotgoldenen Anzug, da hatte sie geweint. Ramón hatte lange geglaubt, dass sie einfach Angst um ihren Papá gehabt hatte. Für ihn war sein Vater über lange Jahre hinweg ein Held gewesen.
„Ramón!“ Ximenas Stimme brachte ihn in die Gegenwart zurück. „Du musst es doch verstehen. Der Stier hat keine Chance. Er weiß nicht, was man von ihm will. Warum –“ Sie biss sich auf die Lippen.
„Ich weiß, was du meinst“, antwortete er leise. „Man sieht es, wenn man in seine Augen schaut. Er möchte einfach nach Hause. Er ist mehr ängstlich als zornig.“
„Wenn du das verstehst, warum gehst du dann zur Toreroschule? Warum willst du ernsthaft einer werden? Nur wegen Papá?“
„Was meinst du mit ‚nur’? Es würde ihm das Herz brechen, wenn ich nicht –“
„Red keinen Unsinn, Ramón, so schwach ist er nicht. Er würde toben, okay, so wie er ständig tobt, seit ich den Mund aufmache und ihm meine Meinung sage. Davor hast du Angst?“
„Ich habe keine Angst!“ Er wusste selbst, dass diese Antwort zu rasch kam, als dass sie Ximena hätte überzeugen können. „Ich wäre feige, wenn ich nicht in die Arena ginge.“
„Meine Güte, Ramón! Du wärst viel mutiger!“
„Es ist auch eine Kunst, Ximena“, sagte Ramón fast flehend. „Und es geht um Mut. Herausforderung. Nicht jeder bringt es fertig …“
„Eine Kunst! Eine Initiation! Du klingst schon wie Papá“, höhnte sie und setzte sich wieder in Bewegung, als wolle sie ihn stehen lassen. Ramón beeilte sich, ihr zu folgen.
„Du bist nicht ganz fair. Ich habe am Sonntag meinen ersten Kampf. Am Sonntag. Verstehst du nicht, dass das auch eine Ehre ist? Der erste Kampf der Saison. Der erste Stier der Saison.“
„Der erste Mord der Saison“, warf sie verächtlich ein.
„Es ist nicht einfach für mich, Ximena. Das schwöre ich dir. Ich bitte dich, mich nicht weiter zu verunsichern. Das macht es nur noch schwerer.“
„Ich werde am Sonntag übrigens kommen, Ramón.“
Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Du wirst -?“
Ihre Lippen kräuselten sich.
„Ja. Und ich werde einen Haufen Leute von N.A.L.C. mitbringen.“
N.A.L.C. No A La Corrida.
„Nicht im Ernst, oder?”
„Natürlich im Ernst. Ich bin jetzt eingetragenes Mitglied dort. Wir werden demonstrieren, Ramón. Fernando bringen wir auch mit.“
„Wer ist denn jetzt bitte schön Fernando?“
Ximena lachte, als bereite sie einen guten Witz vor. „Unser Maskottchen. Wir haben ihn von López gekauft. Das war Javiers Idee. Fernando war eigentlich für die Arena vorgesehen. Wir haben ziemlich lange gesammelt, um das Geld zusammenzukriegen. Es war gar nicht so einfach, ihn zu kaufen ..." Sie schüttelte den Kopf, um ein paar vorwitzige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht zu verbannen. „Wir werden dafür sorgen, dass man ihn aus der Nähe sehen, ihn anfassen und ihm in die Augen blicken kann. Nähe macht viel aus, Ramón.“
„Ximena. Das könnt ihr nicht machen. Nicht an diesem Tag. Papá – Verstehst du nicht …“
Sie atmete ein, stemmte die Arme in die Hüften. Ihr Mund lächelte noch immer, aber in ihre Augen war etwas Grausames getreten.
„Doch, ich verstehe. Eben darum muss es an diesem Tag sein.“
„Papá. Ich habe nachgedacht und bin zu einem Entschluss gekommen. Ich glaube, dass ich kein Stierkämpfer werden kann. Du meinst, dass ich dazu geboren bin. Es stimmt schon … die Nähe eines Stiers macht mir keine Angst … Jorge sagt, ich bin geschickt in den Bewegungen, geschmeidig genug und reagiere schnell … Aber ich glaube nicht, dass ich dazu geboren bin. Ich glaube, es würde mir wehtun, Stiere zu töten. Ich … ¡Coño!” Ramón brach ab und pfefferte das grüne Samttuch zu Boden. Er hatte es lange genug in seinen Händen gedreht. Einen Moment lang stand er da, starrte das Tuch an und schüttelte immer wieder den Kopf.
„Nein, so geht es nicht“, murmelte er. Er holte tief Luft und sah hoch.
„Papá. Ich habe beschlossen, kein Torero zu werden. Nein. Auch nicht.“ Er wischte sich die Hände an der Hose ab.
„Papá, ich werde die Stierkampfschule verlassen, und ich werde nicht … Ich denke, ich sollte nicht … Ich will nicht …“
Sein Blick fiel auf den Degen, den er auf das Wandbord gelegt hatte. Er machte sich gut dort. Die Klinge glänzte erwartungsvoll.
Sie freut sich auf das Blut, dachte Ramón, und im nächsten Moment: Unsinn!
Die Klinge glänzte. Punkt.
Aber das half ihm auch nicht weiter.
„Ximena.“ Er bückte sich und hob das Samttuch wieder auf. „Schwesterherz. Ich glaube, ich muss Stierkämpfer werden. Es ist nicht so, dass ich Freude am Töten empfinde, aber ich denke, ich habe eine Verpflichtung gegenüber Papá, und …“ Er gestikulierte hilflos und spürte förmlich Ximenas skeptischen Blick. Er seufzte.
„Ximena, ich kann dich gut verstehen. Auch mir tut es Leid, dass die Stiere leiden. Aber trotzdem … Herrje, das ist doch unlogisch! … Es ist ein unvergleichliches Gefühl, in der Arena zu stehen, weißt du, und ich möchte …“ Seine Finger knüllten das Tuch zusammen. Nach einer Weile hellte seine Miene sich auf. „Papá, es ist ein unvergleichliches Gefühl, in der Arena zu stehen, aber ich möchte nicht … Ich weiß nicht. Ach, ich weiß nicht. Verdammt!“
Die letzte Trommel war verklungen und die Semana Santa vorbei. Was die Luft jetzt erfüllte, war das erwartungsvolle Stimmengewirr der aficionados – all derer, die zur ersten Corrida der neuen Saison strömten.
Ramón kam sich selbst fremd vor in diesem Anzug. Grüngolden. Es half kaum gegen die feuchten Hände, wenn er sie an diesem Stoff abstreifte. Er wusste nicht recht, wie er sich fühlte. Da war nicht die Aufregung, die er erwartet hatte. Vielmehr war er ruhig, fast gleichgültig, und das machte ihm beinahe Angst. So sollte es nicht sein, oder?
Irgendwo auf den unteren Tribünen stand der Rollstuhl seines Vaters. Das erste Mal seit fünf Jahren kehrte Juan Romero in die Arena zurück. Ramón betete, dass sein Vater niemanden von der N.A.L.C. gesehen hatte. Als er selbst in die Maestranza gekommen war, hatten auf dem Vorplatz nur sieben oder acht Personen mit weißblauen Fähnchen und einem sehr unprofessionellen Transparent gestanden, die im allgemeinen Gedränge kaum aufgefallen waren. Vielleicht würden es noch ein paar mehr werden. Vielleicht auch nicht.
Ramón trat in eine Wolke aus Lärm. Irgendwo über ihm leierte die Kapelle vor sich hin, und um ihn herum toste der ausgelassene Beifall der Begrüßung, bis er schließlich abebbte. Seinen Vater konnte er nirgends sehen, aber er spürte seinen Blick: leuchtender Stolz. Mein Sohn.
Der Stier stand unschlüssig einige Meter von ihm entfernt und schaute sich um. Er wirkte seltsam verloren. Etwas an ihm war merkwürdig. Seine Brust hob und senkte sich, und Ramón konnte sein Keuchen hören. Auf seinem Nacken glänzte es bereits feucht: dunkles Blut, kaum zu erkennen auf dem schwarzen Fell. Die berittenen picadores in der Phase zuvor hatten gute Arbeit geleistet. Jetzt war er an der Reihe: suerte de banderillas. Er umfasste die beiden bunten Fähnchen fester. Die Widerhaken waren unauffällig, aber ausreichend.
Dann erst begriff Ramón, was das Merkwürdige war. Die Erkenntnis traf ihn wie eine steinerne Kugel mitten in die Magengrube.
Der Stier war schon geschmückt. Er hatte blauweiße Bändchen am Kopf. Das Weiß war bereits rot getränkt.
Fernando bringen wir auch mit!
Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf, während sein Körper die Regie übernahm, sich mechanisch auf den Stier zu bewegte. Es war der Stier der N.A.L.C., daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Aber was tat er hier? Eine Verwechslung? Eine Kampfansage an die N.A.L.C.? Oder … der Gedanke verschlug ihm fast den Atem … eine Probe? War es Absicht, war es am Ende Ximenas Absicht, dass er Fernando gegenüberstand?
Wir werden dafür sorgen, dass man ihn aus der Nähe sehen, ihn anfassen und ihm in die Augen blicken kann.
Er begriff. Er hatte sich vorgestellt, dass sie mit dem Stier vor der Arena stehen würden. Dass die Arenabesucher ihn aus der Nähe sehen konnten. Aber in diesem Moment begriff er Ximenas Worte in einem ganz neuen Licht.
Nähe macht viel aus, Ramón.
Er selbst sollte Fernando nahe sein. Der Stier sollte nicht irgendwelche Leute in der Arena überzeugen – sondern ihn. Ramóns Herz klopfte. Wenn er jetzt weiterkämpfte, verriet er seine Schwester.
Diesen Stier darf ich nicht töten!
Während er das dachte, sprang sein Körper bereits, streckten seine Arme sich schon und stießen zielsicher die banderillas in Fernandos Rücken. Das brachte Ramón in die Wirklichkeit der Arena zurück. Geschickt wich er zurück, als Fernando nach vorne sprang, und rettete sich an die Holzbande, ließ sich von einem peón das rote Tuch und den Degen reichen.
Es ist Kunst, ganz einfach Kunst, hatte Juan Romero während einer der vielen Diskussionen mit Ximena gesagt. Es geht nicht darum, dass du etwas beim Töten empfindest. Du musst mit dem Stier tanzen. Die Gefahr überwinden. Dem Tod ins Auge sehen. Es gibt kein wildes Herumspringen, kein blindes Zustechen. Es ist eine hohe Kunst. Jede deiner Bewegungen muss ihren Sinn haben. Es geht nicht darum, keine Angst zu haben: Angst haben wir alle, wenn wir dort unten stehen. Es geht darum, die Angst zu kontrollieren.
Sein Vater täuschte sich.
Ramón hatte keine Angst. Jedenfalls nicht vor Fernando.
Er konnte den Herzschlag des schwarzen Riesen spüren. Er bewegte sich völlig im Einklang mit dem Tier. Das Publikum, die Blicke, das Raunen, das dann und wann durch die Ränge lief, alles das war weit weg, und er war froh darüber. Er gab sich dem Moment hin, versenkte sich im Tanz. Nur so konnte er sich der Entscheidung entziehen.
Er schwang die muleta, reizte, ließ den Koloss ins Leere donnern, kam ihm näher, fiel neben dem Stier auf die Knie, was ihm beifälliges Murmeln von den Zuschauerrängen einbrachte. Es gab nicht viele Toreros, die das wagten. Ramón war dem Stier ganz nahe. Das schwarze Fell war nass von Blut und Schweiß. Er spürte die Wärme, die von dem riesigen Tier ausging. Ximena und ihre Freunde mussten lange gesammelt haben, um ihn zu kaufen. Fernando war mehr als ein Maskottchen. Er war ihre Überzeugung. Er vereinte in sich die ganze Energie, mit der sie für diese Überzeugung kämpften. Und ob es ein Schachzug Ximenas war oder nicht: Fernandos Anwesenheit verlangte ihm eine Entscheidung ab.
Als er sich erhob, wusste er, dass es Zeit war für diese Entscheidung.
Er sprang ein paar Schritte zurück, ließ das rote Tuch tanzen und den Stier ein letztes Mal angreifen. Es bestand keine Gefahr. Er war es, der in diesem Tanz führte. Das massige Tier gab ein dumpfes Geräusch von sich – fast wie das Muhen einer normalen Kuh. Nur unendlich viel hilfloser. Der Stier wandte sich um, schien Anlauf zu nehmen. Ramóns Muskeln spannten sich, sein ganzer Körper wollte den Reflexen nachgeben, zur Seite springen. Wenn er eine Sekunde zu lange zögerte, würde der Stier ihn umreißen oder auf die Hörner nehmen.
Ramón bezwang sich. Es war nicht mehr die Zeit zum Ausweichen. Ausweichen hieß sich zu drücken.
Er hörte die Aufschreie in der Menge, als der Stier auf ihn zuhielt, aber für ihn gab es in diesem Augenblick nur noch eines. Er wusste nicht, ob es möglich war, aber als ihre Blicke sich trafen, las er so etwas wie Überraschung in den großen braunen Stieraugen. Überraschung, die grenzenlos war.
Der Stier drehte ab und stürmte um Zentimeter an Ramón vorbei. Dann kam er zum Stehen und wandte den Kopf. Er sah Ramón direkt in die Augen. Für einige Sekunden lang hatten sie dieselbe Erinnerung: Weites, freies Land. Unendlicher Himmel. Das Gefühl des Dahinstürmens. Die Jagd nach dem Horizont. Freiheit. Leben.
In der Arena war es totenstill. Viele mussten den Atem angehalten haben. Alles starrte auf den jungen Torero und den Stier, die reglos dastanden und einander in die Augen blickten, nur ihre Brustkörbe bebten.
Ein Wink von mir, dachte Ramón, und er geht ganz zahm zurück in den Stall. Vielleicht kann er nach Hause.
Überwindung, flüsterte etwas, und er glaubte wahrzunehmen, dass es die Klinge in seiner Hand war. Stierkampf heißt Initiation. Es gab eine Zeit, da war keine andere Möglichkeit, ein Mann zu werden.
Mein Sohn.
Ramón hob den Degen, ohne die Augen von denen des Stiers zu nehmen. Das Tier war jetzt ganz ruhig.
Es vertraute.
Die Heftigkeit des Stoßes brachte Ramón ins Taumeln, aber während die Klinge eindrang, wusste er, dass es ein guter Stoß war. Der beste. Der Stier ging in die Knie – bäumte sich nicht auf, schüttelte sich nicht. Er fiel ohne Widerstand. Kein weiterer Stoß war nötig.
Als Ramón den Degen wieder herauszog, brandete bereits der Jubel. Ein Meer aus weißen Tüchern wehte. Es regnete Rosen in den Sand. Von der Präsidentenloge kam das Zeichen: Beide Ohren.
Ramón sah alles verschwimmen. Die Handflächen waren trocken, aber die Augen brannten.