Älter werden
Der kleine Junge saß auf der Fensterbank und sah auf die Strasse. Er liebte diesen Platz und immer wenn ihm langweilig war, beobachtete er.
Er wusste ganz genau, wann die Straßenreinigung kam, die Müllabfuhr oder der Postbote.
Der Briefträger kam immer auf seinem gelben Fahrrad und winkte ihm mit seiner Mütze zu. Er fand das war ein lustiger Mann, denn er hatte einen großen, geschwungenen Schnauzbart.
Der Junge wusste auch, wann die Nachbarskinder aus der Schule kamen, wann die Krankenschwester zu Onkel Willi kam und wann Frau Schneider mit dem Dackel spazieren ging.
In den letzten Tagen hatte es viel geregnet und es war nicht viel los vor dem Fenster. Gegenüber war jemand eingezogen und ein großer Möbeltransporter stand auf der Strasse. Es war nett, zu schauen wie die Männer die Möbel schleppten und dabei lauthals fluchten. Sonst war nichts passiert. Wenn es regnete und der Wind um die Ecken pfiff blieben die meisten Leute lieber zu Hause.
Nur die zur Arbeit mussten oder etwas zu erledigen hatten, hasteten über die Strasse. Und alte Leute, die waren immer da. Besonders aufgefallen war ihm ein alter Mann. Jeden Tag sah er ihn auf der Strasse. Auch wenn es ganz kalt war, oder wenn Schnee lag. Dann hatte er einen dicken Mantel an und trug einen Hut auf dem Kopf. Er hatte einen Stock in der Hand und ging immer sehr langsam und etwas gebeugt. Es sah aus, als wenn ihm das Laufen schwer fiel. Aber jeden Tag war er da.
Einmal hatte der kleine Junge seine Mutter an das Fenster geholt und ihr den Mann gezeigt. Er hatte ihr erzählt, dass der Mann jeden Tag auf der Strasse umher lief, obwohl er schlecht laufen konnte.
Es gibt viele ältere Leute die sind alleine zu Hause und fühlen sich dann einsam. Sie halten es nicht aus in den eigenen vier Wänden und gehen lieber nach draußen. Sie fürchten sich vor der Stille in ihrer Wohnung, deshalb gehen sie spazieren. Meist haben sie auch keine Freunde und suchen etwas Abwechslung.
So hatte seine Mutter es ihm erklärt. Der Junge verstand die Worte nicht so genau, aber es hörte sich nicht schön an.
Er beschloss, einfach nicht alt zu werden. So wie der Mann mit dieser Einsamkeit, wie Mutter es nannte, nein, das wollte er nicht.
Irgendwann, viel, viel später, es war im Frühling, spazierte ein alter Mann durch die Strassen. Er erfreute sich an den Blumen, die langsam zu Blühen begannen und betrachtete die grünen Blätter der Bäume. Der Mann sah in den Himmel und beobachtet die vorbei ziehenden Wolken. Er genoss die Sonnenstrahlen auf seinem vom Wetter gegerbten Gesicht. Wie ein Hauch streichelten die wärmenden Strahlen über seine Haut und er schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, sah er oben hinter einem Fenster das Gesicht eines kleinen Jungens. Der alte Mann lächelte und dachte daran, wie viele Stunden er als Kind aus dem Fenster geschaut hatte.
(c)Martina Bartels