Öffne die Augen!
Shezaris schloß die Augen, als ihr eine Erinnerung kam...
Als kleines Mädchen lief sie atemlos durch den Wald, sprang über einige Felsen und versteckte sich hinter dem breiten Stamm einer Eiche. Sie versuche ihren Atem zu beruhigen und zu lauschen. Irgendwo hinter ihr raschelten leise Schritte im trockenen Laub, das den Waldboden bedeckte. Ob er sie gesehen hatte? Sie mußte ein besseres Versteck finden. Doch wo? Wenn sie weiter lief, würden sie ihre eigenen Schritte der nackten Füße verraten. Es blieb ihr nur eine Möglichkeit. Sie ergriff einen tief hängenden Ast und zog sich daran hoch. Behende kletterte sie weiter, immer höher die mächtige Eiche hinauf, bis sie sich rittlings auf einem breiten Ast niederließ. Sie sah sich um. Wo war ihr Verfolger geblieben?
"Ha, ich hab dich!", hörte sie ihn plötzlich rufen und ein paar Eicheln trafen sie von hinten. Das Mädchen lachte, stieg wieder hinunter und ließ sich das letzte Stück auf den Boden plumpsen.
"Dann bist du jetzt dran, Gwydion!"
Die Augen wieder geöffnet, streifte Shezaris mit ihrem Blick den Horizont.
Wie lange war es her, daß sie dieses Mädchen gewesen war. Jene Zeiten des unschuldigen Spiels schienen grauer Vorzeit zu entstammen. Gwydion, ihr Spielgefährte... Auch er gehörte dieser Vorzeit an, zu einer Zeit, in der die Schlachten gerade erst begannen. Er hatte nicht einmal die erste überlebt. Damals war sie noch zu jung gewesen, um mit ihm gegen den Feind zu ziehen und hatte ihn statt dessen in seiner hellen Rüstung bewundert. Er hatte ihr versprochen zurückzukehren, doch dieser Tag war nie gekommen. Menschen! Unheil dieser Welt, Bringer von Unglück und Schmerz! Einst waren sie Freunde gewesen, jene, die Shezaris und ihresgleichen den Namen Elfen gegeben hatten. Doch das war viele ihrer jämmerlich kurzen Leben her. Irgendwann hatte der Haß begonnen. 'Kindesentführer' und 'Golddiebe' waren die noch harmlosesten Beschimpfungen gewesen, die man den Elfen mit Verachtung entgegen spie. Sie senkte die Lider ein weiteres Mal
Wie lang war jener Tag nun her, als sie den Haß zum ersten Mal zu spüren bekam? Sie war mit ihrer Freundin Olannha in Karunn gewesen, einer Menschenstadt, das nicht weit von ihrer Siedlung lag. Ein Tag wie jeder andere und fast schon waren sie auf dem Weg zurück gewesen, als die großen Flügel der Kirchentür sich öffnete und eine Prozession sich den Weg bahnte. Angeführt von einem ihrer Priester und den weißgekleideten Jungen, die jeder ein schweres Kreuz mit sich trugen, überquerte ein ganzer Troß schwarz und braun gekleideter Menschen den Marktplatz. Als der Priester Shezaris und Olannha erblickte, wandelte sich sein gleichgültiger Gesichtsausdruck und unverhüllte Wut war in seinem Blick zu lesen.
"Gottloses Volk! Macht, daß ihr aus der Stadt kommt! Wir wollen niemanden hier, der nicht des rechten Glaubens ist!", schrie er ihnen entgegen.
Fassungslos hatten Shezaris und Olannha ihn und die Menschen angesehen, doch niemand regte sich. Sie konnten nicht verstehen, bisher waren sie stets geduldet, ja sogar willkommen gewesen. Was war in diesen Priester gefahren? Sie verließen den Ort ratlos, vorbei an der schweigenden Menge der Kirchenbesucher.
Shezaris hob ihre Lider erneut.
Es war nur ein Tag von vielen gewesen. Die Elvar - so der Name, den die Elfen sich selbst gaben - wußten nicht, wie es zu diesem Umschwung gekommen war. Sie zogen sich aus den Gebieten der Menschen zurück. Elvar waren geduldig, die gaben die Hoffnung nicht so leicht auf. Doch der menschliche Haß fand selbst ohne die Anwesenheit der ehemaligen Verbündeten Boden, genährt durch die Oberhäupter ihrer Kirche. Welcher Mensch wagte schon zu zweifeln, wenn die wöchentliche Predigt auf ihn hernieder ging wie ein göttliches Gewitter? Die Botschaft war klar - in dieser Welt war kein Platz für solche Wesen wie die Elfen, die eher die Natur als einen Gott verehrten und es ablehnten, Christen zu werden. Man mußte sie läutern, um ihrer Seelenheil willen oder besser noch vom Antlitz dieser Welt fegen und sie auf diese Weise reinigen von diesen Ausgeburten der Unterwelt. Olannha wurde ein erstes Opfer ihrer aufkeimenden Wut, als Menschen mit Steinen nach ihr warfen und keinen Heiler zu ihr ließen. Ihr Leben endete in ihrem eigenen Blut. Die ersten Kreuzzüge begannen, mitten in den heiligen Hainen der Elvar.
Und so stand Shezaris nun hier, um die Menschen zu erwarten, gemeinsam mit den anderen, wie es so oft schon geschehen war. Lange Reihen stolzer Elvar, versammelt unter den flatternden Bannern des Königshauses von Árdrien. Die Sonne spiegelte sich in den glänzenden, silbrig-weißen Rüstungen, silberne Helme bedeckten die blonden und weißen Schöpfe. Jeder und jede trug einen leichten Umhang, der das Wappen des eigenen Hauses zeigte. In den ersten Reihen die Schwertkämpfer, dahinter die Bogenschützen, dann folgten die Heiler, Barden und die Waffenträger, die immer wieder neue Bögen, Pfeile und Schwerter bringen würden. Sie selbst waren nur mit Dolchen und Kurzschwertern bewaffnet, um sich nicht zu sehr zu belasten und flink durch die Reihen dringen zu können. Und dazwischen die Bannerträger, die es ebenso zu schützen galt. Wenn sie fielen und die Banner nicht mehr zu sehen waren, war die Front nicht mehr zu erkennen und ein schnelles Beurteilen, wie es um die Schlacht stand, kaum mehr möglich. In der Luft lag unerträgliche Spannung und der leise, elvarische Kriegsgesang, der den Kämpfern Mut zusprechen sollte, drang leise durch die Reihen. Shezaris senkte ihren Blick noch einmal.
Die junge Elvar, die sie gewesen war, lag auf einer Wiese auf dem Rücken, den Blick starr in den Himmel gerichtet. Neben ihr im Gras lag Lapis, ebenso jung wie sie und folgte ihrem Blick. Sie waren unzertrennlich gewesen in jenen Tagen und heimlich hatten sie sich einander versprochen, obwohl sie noch viel zu jung waren für den Lebensbund.
"Siehst Du? Das dort ist ein großer Wal, geformt aus jener Wolke und dieser, die aussieht wie ein großes Maul.", sagte Lapis.
"Und wie kam er vom Meer dorthin?", wollte Shezaris wissen.
"Er hatte das Leben im Wasser über und so suchte er sich die endlosen Weiten des Himmels, um dort zu wohnen."
"Ich kann ihn verstehen, Lapis. Diese Endlosigkeit... Und dort, das ist unsere alte Eiche in unserem Dorf, an der die Alten immer Rat halten."
Plötzlich richtete Shezaris sich auf.
"Sieh doch, Lapis, das sind keine Wolken, das ist Rauch! Das Dorf brennt! Und dort fliegen unsere Kundschaftervögel. Sie überfallen uns!"
Beide sprangen sie im selben Moment auf, um zu ihrer Siedlung zu gelangen.
Shezaris hob ihren Blick. Damals hatte sie noch nicht gewußt, wer 'sie' waren. Damals war sie den schwer gerüsteten Truppen menschlicher Kreuzritter das erste Mal begegnet. Brandschatzend waren sie durch das kleine Dorf gezogen, in ihrer Mitte die aufgeregten Priester, die geweihtes Wasser versprengten und unablässig Gebete sprachen. Damals war Lapis in die Flammen gerannt, um seine Schwester zu retten, doch er war nie zurückgekehrt. Gwydion und Lapis... und mit ihnen viele, viele andere. Shezaris erinnerte sich nur zu gut daran, wie sehr sie damals getrauert hatte, als alle Hoffnung auf Frieden verloren war. Immer weiter hatten sich die Elvar zurückgezogen, nur um immer noch weiter von den Menschen bedrängt zu werden. Es schien, als wollten sie mit dem Blut der Elfen die ganze Welt tränken, im Kreuzzug gegen alles, was nicht christlich war.
Schon waren die großen Kreuze zu erkennen, die die Menschen an eines Feldzeichen statt mit sich trugen. Vorneweg leuchteten die roten Kreuze auf dem weißen Grund ritterlicher Wappenröcke. In den Reihen hinter ihnen folgten einfache Ritter und Landsknechte, dahinter die Bauern. Und immer wieder Priester, Mönche und Novizen. Auf ihren Tonsuren spiegelte sich die Sonne wie in den Helmen der Ritter. So bunt wie die Zusammenstellung des Heeres war auch ihre Bewaffnung. Die Kreuzritter mit Breitschwertern in den mit Kettenhandschuhen bewehrten Fäusten, die anderen je nach Rang und Stand mit einfachen Schwertern, Degen, Bogen, Dolchen oder einfachen Forken, Spieße und hölzerne Lanzen.
Shezaris sah jene Elvar an, die links und rechts neben ihr standen. Viele hatten die Augen geschlossen, vielleicht für letzte Wünsche oder Bitten an ihre Ahnen. Die meisten sahen viel zu jung aus für eine Schlacht, ihre Herzen kannten nichts anderes als den Krieg. Doch sie litten darunter, daß der Frieden nur in den Erinnerungen der Alten überdauerte. Der Schmerz fand einen Weg in den zitternden Händen, die das Schwert noch nicht gewohnt waren und in den Augen, die viel zu alt für die jungen Krieger zu sein schienen. Außer den Barden schwiegen sie alle und auch sie wurden allmählich übertrumpft von den mißtönenden Kriegshörnern der Menschen. Nur noch wenige Augenblicke trennten die beiden Fronten. Shezaris schloß ein letztes Mal ihre Augen
Gwydion, Gefährte ihrer Kindheit. Olannha, Freundin und Vertraute. Lapis, Geliebter. Calinor, Mentor und Führer. Rohana, geehrte Mutter. Solbéa, treue Waffengefährtin. Sidia, schmerzlich vermißte Eidesschwester. Stelluth, Kampfgefährte und Trostspender. Sie alle waren nur noch Schatten, verblassende Erinnerungen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über Shezaris' Wange und tropfte lautlos auf den Boden. Eine Träne für all jene, die sie nicht mehr vergießen konnten angesichts des herannahenden Gemetzels. Ein Gerücht der Menschen besagte, daß Elfen nicht weinen konnten. Und doch konnten sie es, in den finsteren Stunden ihres Daseins, wenn alle Hoffnung und aller Frieden getilgt waren. Sie weinten gemeinsam, jeder für sich allein, denn sie wußten, daß die Zeit der Elvar eines nicht allzu fernen Tages der Vergangenheit angehören würde. Sie kämpften für ihr Leben, mit aller Verbissenheit, doch längst war ihr Tod besiegelt und es war nur eine Frage von Tagen, von Monaten, von Jahren. Es machte keinen Unterschied. Shezaris sah es jetzt so deutlich wie nie vor sich. Wo lag der Unterschied, ob sie jetzt ihren Ahnen folgte oder zuließ, daß weitere Schlachten ihr Herz betäubten, bis sie nichts mehr fühlte, lebendig tot war? Nein, hier hielt sie nichts mehr. Sie erkannte, daß sie schon längst Abschied genommen hatte. Ihre Hand schloß sich fester um den Griff ihres Schwertes. Ann'duan hatte sie es genannt, Gefährte. Es hatte ihr treu gedient in ihrem Leben, seit sie alt und kräftig genug war, es zu tragen. Und es würde sie auch jetzt nicht im Stich lassen. Hoch richtete sie sich auf, lenkte ihren Blick auf die Reihen der heranrückenden Heereslinien. Sie war eine Elvar. Nichts hatte bisher ihren Stolz brechen können und auch jetzt sollten sie diesen Triumph nicht haben.
Sie konnte bereits die Augen der Menschen erkennen. Kalt waren sie, ohne jedes Mitleid für ihren Feind. Die Gesänge der Barden erhoben sich über ihre Reihen. Wenn sie auch nicht laut waren, übertönten sie doch das Gebrüll der Menschen und erreichten schließlich jedes elvarische Herz. Als die ersten Reihen aufeinander prallten, stürmte sie nach vorn. Ohne Rücksicht parierte sie die Hiebe ihrer Gegner, ließ Ann'duan rotes Blut schmecken. Überall traf sie auf Widerstand, spürte die fehlgeschlagenen Angriffe an ihrer Rüstung abprallen. Laut klang das Lied der Barden in ihren Ohren, häßlich verzerrte Fratzen zogen an ihr vorüber. Sie zog ihr Schwert zurück, stach erneut zu, traf auf Fleisch und Knochen. Blut besprenkelte ihre Rüstung, manchmal wischte sie es sich aus den Augen. Sie fühlte Wind in den langen Flechten ihres Haars. Ein dichter Schwertschlag - geführt, um ihren Kopf von den Schultern zu trennen - hatte den Riemen ihres Helmes durchtrennt, so daß er hinter ihr auf dem Boden aufschlug. In der Nähe immer wieder das Sirren der elvarischen Bogensehnen, die Pfeile in die hinteren Menschenreihen schickten. Hinter sich hörte sie plötzlich einen Schrei und sie sah sich kurz um. Ein Waffenträger mit zwei Schwertern stand hinter ihr, fast noch ein Knabe. Er sah Shezaris fassungslos an und machte keine Anstalten, seine Ladung abzugeben und sich wieder in Sicherheit zu bringen. Sie erkannte den Grund schnell. Ein menschlicher Pfeil steckte in seiner Schulter. In diesem Moment erhob sich hinter ihr Gebrüll und sie ahnte, was dort geschah. Einer der Menschen hatte ihre Ablenkung bemerkt. Und tatsächlich, als sie sich umsah, stürmte er auf sie und den jüngeren Elvar zu, hielt sie abwechselnd in seinem Blick fest. Es war einer der Kreuzritter, sein Wappenrock war schon getränkt von Blut, einige tiefe Dellen zierten seinen Helm und ein Schnitt hatte ihm das Kettenhemd an seinem Schwertarm aufgerissen, Blut tropfte daraus hervor. Er hob seine Klinge und konzentrierte sich für einen Moment auf den Waffenträger, der sich wegen seiner Ladung nicht wehren konnte. Auch, als er sie jetzt fallen ließ, um mit einem Schrei sein Kurzschwert zu ziehen, würde er es nicht schaffen. Shezaris hastete mit zwei Schritten zwischen die beiden und hob ihrerseits ihr Schwert.
"Lauf!"
Sie wußte nicht, ob sie es nur flüsterte, dachte oder schrie - es war gleich. Die Klinge des Ritters schmetterte auf Ann'duan nieder und Shezaris ging unter der Wucht des Schlages auf die Knie. Sie sollte keine Gelegenheit mehr bekommen, sich wieder zu erheben. Mit einem hellen Klirren zerbarst Ann'duan zu Myriaden feinster Splitter und ging als schmerzhafter Regen auf sie nieder. Ruhig sah sie den Mann vor sich an; versuchte nicht einmal, sich zu retten. Sie sah den zweiten Schlag kommen. Es sollte das letzte sein, was sie sah, bevor sich ihr Blick trübte. Als der junge Waffenträger sich noch einmal umdrehte, konnte er nur noch sehen, wie Shezaris ganz zu Boden fiel, mit ihren Händen die Klinge umklammert, die aus ihrem Leib ragte.