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Öl, Honig, Salz und Pfeffer.
Freier Fall vom Turm
Die Rasur bleibt jetzt schon ein paar Tage aus. Vom Bart kann man schon reden. Dazu die hellblaue, irgendwie ostblockhaft aussehende Jacke. Wie ein Jesus. Wie Jesus, wenn er heute noch leben würde, also wenn er, was weiß ich, in den siebziger Jahren geboren wäre, sehe ich aus, oder muss so aussehen. Auf jeden Fall wie jemand, der auffällt oder raus fällt. Mein Magen. Macht jetzt schon ein paar Tage Probleme. Immer dieses flaue Gefühl. Keinen Hunger. Selten Hunger. Ich zwinge mich, wenn ich wieder merke, dass meine Finger anfangen zu zittern. Schiebe dann ein Brot mit Bierwurst, kann ich bald nicht mehr sehen, rein. Ich gehe viel. Fast alles. Von der Tür zur Uni, zur Tür, zum Schwimmbad, bis ich ganz ausgemergelt bin. Aber es fühlt sich trotzdem gut an, das Ausgemergeltsein.
Letztens an der Donau, ich ging auf der Promenade, kam mir ein Penner entgegen. Die Tüten voll mit Altglas. Vier Tüten, in jeder Hand zwei. Sein Blick auf den Boden vor ihm gerichtet. Nein, eigentlich auf einen Punkt tief im Erdreich. Dann, sein Blick auf mich, seine Augen, himmelsblau. Nicht ohne Hoffnung. Irgendwie musste ich grinsen und er verzog auch den Mund. Genug Pfand, um für einen Bombenabend zu sorgen.
Die Bibliothek lag halb im Grünen. An der Hinterseite schloss sich eine Wildwiese und ein Mischwald an, durchzogen von gepflasterten Pfaden. Auf der anderen Seite befanden sich weitere Universitätsgebäude und eine überwucherte Bastionsanlage. Ein Turm war Teil der Bibliothek, und ich ging manchmal, um der Freiheit willen, hinauf auf seine Dachterrasse. Ich packte die Utensilien aus. Einen Füller, ein paar Blatt Papier und das Buch.
Ich fing an zu lernen und hörte nicht vor zwei Uhr auf. Dann merkte ich meinen Drang, auf Toilette zu gehen. Unten waren alle Pissoirs belegt, bis auf eines. Der vor mir hatte nicht abgespült. Ich denke mir manchmal, wenn es eine Sache ist auf die ich gern bestehen würde, dann ein sauberes Pissoir. Abgespült. Klares Wasser. Stattdessen hatte ich diese gelbe Soße vor mir. Ich schlug auf die Plastikdruckplatte. Musste ziemlich grob gewirkt haben. Der Asiate neben mir wurde in seiner Ruhe gestört.
Wieder oben sah im Regen alles soweit weg aus. Diese Reihe von Buchen, Lärchen die gelegentliche Birke, die komplette Reihe hinter der alten Bastionsanlage, eine Trauerweide dabei. Weiter als sonst, zumindest. Vielleicht wegen des vielen Wassers in der Luft zwischen den Bäumen und mir. Das Licht, das durch die ganzen Tropfen hindurch muss. Dadurch wird einem die Weite bewusst. Noch dazu oben auf dem Turm. Ein Rundherumblick im Regen. Ich ging wieder rein und setzte mich an den Tisch. Das Geplätscher von draußen, der Erdgeruch, obwohl ich in der Höhe saß. Eine ganze Weile saß ich so da und dachte nach. Über meine Situation zur Zeit, über meine Mutter, meinen Vater. Ihre Beziehung. sein Fremdgehen, ihre Verbitterung, meine Ohnmacht. Später unten in der Stadt die Rosskastanienblüten überall am Boden, vom Wind zusammengekehrt, mit den Zigarettenstummeln.
Abends traf ich mich mit einem Bekannten. Ich saß mit ihm in der Loggia. Seine Worte, ich hörte nur halb zu. Es ging um seine Fernbeziehung. Danach war alles gesagt. Gegenüber auf einem der Balkone war gerade diese Raucherin zu sehen. Ein Geschöpf in T-Shirt bei Aprilwind. Ihre Haare waren ziemlich kaputt. Sie machte ihre lautlosen Bewegungen, räumte irgendetwas herum. Lautlos wie ein Fisch in einem Aquarium. Lauter Gerümpel. Ein Poster und ehemals bunte Plastikwäscheklammern.
"Gehst du später noch auf dieses Konzert?"
Ich sagte, wahrscheinlich schon. Ich beschäftigte mich damit, den Lack von meinem Holzstuhl zu kratzen.
Es war dann am selben Abend später, als ich mich mit dem dritten Bier an die Wand lehnte. Ich wartete darauf, dass das Konzert vorbei war und ich endlich nach Hause gehen konnte. Mein Magen machte wieder Probleme und ich fühlte mich sowieso Fehl am Platz. Wo in letzter Zeit mein beschissenes Selbstwertgefühl abgeblieben ist, möchte ich mal gerne wissen. Selbstwertgefühl. Danach hatte meine Mutter meinen Vater letztens gefragt. Ob er denn überhaupt keins habe. Das ganze war der Höhepunkt eines immer wiederkehrenden Streitgesprächs gewesen. Schon bevor er es ausprach hatte ich seine Worte im Kopf. Gar keins.
"Du Arschloch hast eben mein volles Bier umgekippt!"
Der Typ trug Springerstiefel und ich musste wohl irgendwie an seine Flasche geraten sein.
Seine Augen, meine Augen. Keine Lust was zu sagen. Ich setzte eine desinteressierte Mine auf. In meinem Kopf wurden die Kriegstrommeln laut. Mein Herz pumpte. Da war die Angst. Gepaart mit Wut. Ich zwängte mich aus der Schranksituation heraus und setzte mich auf den Sims, wo ich mehr Raum hatte. Sollte ich ausholen oder ausweichen müssen. Der Springerstiefeltyp unterhielt sich mit einer Gruppe von Affen. Immer der kurze Zug. Qualm durch den Mund heraus und durch die Nase hoch. Seine Kiefermuskulatur am arbeiten. Ich schaute mir andere Hinterköpfe an. Plötzlich der Typ noch mal mit einem neuen Bier, stellte es direkt neben mich wieder auf den Sims. Dazu sein schäbiger Blick. Ich spielte mit dem Gadanken, ihm zu sagen, Typ merkst du’s nicht? Steck dir dein Bier sonst wo hin. Ich dachte darüber nach was anzuzetteln. Einfach mal drauf ankommen lassen. Seine Arme waren dicker als meine. Vielleicht haut er mir die Fresse blutig. Vielleicht ich ihm. Kann man erst wissen wenn es vorbei ist.
Dann der Gedanke. Gewalt ist keine Lösung. Ich ging in Richtung Tür. Aber keine Gewalt war auch keine Lösung. Das Kribbeln blieb in meiner Faust. Jetzt am Typen vorbei. Wenn er was sagt, mit seinem beschissenen Akzent, ich spürte, dass dann etwas Aggressives aus mir heraussprudeln würde in meinem eigenen Dialekt.