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Über den Wolken
Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier sitze. Minuten? Stunden? Ich sitze einfach nur da und blicke übers Meer. Das Wasser spiegelt die verschiedenen Grautöne des bewölkten Himmels wider, und passt haargenau zu meiner Stimmung. Die See ist aufgewühlt an diesem Nachmittag, so wie meine Seele. Aber vielleicht würde der Inhalt des Briefumschlags, den ich krampfhaft festhalte, wieder Farbe ins Spiel bringen, die Wogen glätten.
Ja oder nein? Ich hätte nie gedacht, dass diese zwei kurzen Wörter einmal so wichtig für mich und meine beiden Kinder sein würden. Der Wind weht mir immer wieder einzelne Haarsträhnen vor das Gesicht und so binde ich es im Nacken zusammen.
Ein paar Möwen ziehen über mir ihre Kreise. Ich höre ihre lauten Schreie und wünsche mir, so wie sie zu sein, einfach wegfliegen zu können, bis hoch über die Wolken und alles zurückzulassen. Dann müsste ich jetzt nicht diesen Brief öffnen, der alles oder nichts bedeutet, positiv oder negativ sein kann, Erleichterung oder Verzweiflung bringen wird. Es fängt an zu nieseln. Doch es stört mich nicht, im Gegenteil, ich genieße die angenehme Kühle, die die feinen Regentropfen auf meinen erhitzten Wangen zurücklassen und bleibe einfach sitzen, hier an meinem Lieblingsplatz auf den Felsen und beobachte, wie die Wellen sich brechen und die Gischt sich mit dem Regen vermischt.
In Gedanken gehe ich zurück zu jenem Tag, vor ungefähr zwei Monaten.
Ich spürte es sofort, als ich zur Tür hereinkam. Etwas war anders an diesem Nachmittag im Haus meiner Eltern. Irgendetwas Fremdes und Bedrohliches lag in der Luft. Meine Eltern saßen zwar wie immer auf dem Sofa und schauten sich eine Gameshow im Fernsehen an, doch ich merkte sofort, dass meine Mutter geweint hatte, ihre roten, geschwollenen Augen waren nicht zu übersehen. Oh je, dachte ich, hier herrschte dicke Luft, irgendetwas musste vorgefallen sein, denn beide starrten mit versteinerten Mienen auf den Bildschirm.
„Hallo, wie geht es euch?“, rief ich betont fröhlich und gab erst meiner Mutter und dann meinem Vater einen Kuss auf die Wange.
„Hallo Sofia, wir haben dich gar nicht hereinkommen hören“, sagte mein Vater mit heiserer Stimme und räusperte sich.
„Was ist denn los mit euch, ihr schaut so betröppelt aus der Wäsche? Habt ihr euch gestritten?“
„Nein, alles in Ordnung, uns geht´s gut.“ Ich wusste, dass die Antwort meines Vaters eine Lüge war, dazu brauchte ich nur meiner Mutter ins Gesicht zu schauen, ihre Augen begannen bereits wieder verräterisch feucht zu schimmern.
„Ihr könnt mir nichts vormachen, irgendetwas stimmt hier nicht“, bohrte ich weiter und sprach dann meine Mutter direkt an. „Mama, was ist los?“ Nun war es mit deren Fassung zu Ende. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf, während die Tränen zwischen ihren Fingern hervorquollen.
„Elisabeth, reiß dich zusammen“, erklang die mahnende Stimme meines Vaters.
„Ich kann nicht mehr, Klaus“, presste meine Mutter hervor. „Ich muss jetzt einfach darüber reden. Außerdem ist es Zeit, dass sie es erfährt.“
Scheidung – das war mein erster Gedanke. Meine Eltern, die sich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr kannten, würden sich nach sechsunddreißig Ehejahren trennen.
War einer von ihnen fremdgegangen? „Tante Margot hat Schilddrüsenkrebs.“ Was würde aus dem Haus werden? Sie würden es wohl verkaufen müssen, oder blieb vielleicht einer von ihnen darin wohnen? „Und ihre zwei Söhne auch, sie sind bereits alle drei operiert.“
„Wer hat Krebs?“ Abrupt hielt ich in meinen Gedankengängen inne.
„Tante Margot und ihre zwei Söhne.“
Also keine Scheidung. Irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen. Allerdings war es bestimmt kein Grund für meine Mutter, so tränenreich zu reagieren. Sicher, Krebs war eine schlimme Krankheit, doch zu ihrer Cousine Margot hatte sie eigentlich schon seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Da musste noch mehr dahinterstecken.
„Das tut mir leid“, sagte ich. „Aber deswegen vergießt du doch nicht solche Tränenströme.“
„Es ist ein Genkrebs“, flüsterte meine Mutter. „Das sogenannte MEN 2 Gen. Es ist vererblich und wer es hat, bekommt auf jeden Fall irgendwann in seinem Leben Schilddrüsenkrebs.“ Sie fing wieder an, heftig zu weinen und ich setzte mich neben sie und legte meinen Arm um sie.
„Fast alle Verwandten aus der Linie deiner Mutter sind betroffen, bei einigen ist der Krebs schon ausgebrochen“, ergänzte mein Vater.
„Und ich habe doch schon so lange diesen Knoten am Hals“, schluchzte meine Mutter.
„Das muss doch nichts zu bedeuten haben“, versuchte ich sie zu beruhigen, wohlwissend, das dies nur leere Worte waren.
„Ich hab mir bereits Blut abnehmen lassen und nach Hamburg geschickt. Dort sind sie auf Genkrebsarten spezialisiert.“ Meine Mutter schnäuzte kräftig in das Taschentuch, das mein Vater ihr gereicht hatte.
„Das Ergebnis müsste jeden Tag kommen. Hier lies mal, das haben wir aus dem Internet ausgedruckt.“ Sie reichte mir ein paar Blätter und ich überflog deren Inhalt: Multiple endokrine Neoplasie des Typs zwei / MEN 2 ist ein Oberbegriff für unterschiedliche seltene erbliche Krankheiten, bei denen mehrere, verschiedene Tumore innerer hormonproduzierender Organe auftreten können ... verursacht durch eine Mutation auf dem Chromosom zehn ... ist eine autosomal dominant vererbte Krankheit ... Treten familiär gehäuft Karzinome(Tumore) auf, so wird eine genetische Familienuntersuchung erforderlich ... Wird eine Mutation festgestellt, sollte die Schilddrüse prophylaktisch bei MEN Typ 2 bereits im Alter von sechs Jahren entfernt werden.
Mit anderen Worten, wenn meine Mutter das Gen hatte, dann konnte sie es auch an mich weitergegeben haben, und wenn ich es hatte, dann waren meine Kinder ... ich mochte den Gedanken nicht zu Ende denken.
Ich stellte mir die kleinen, zarten Hälse von Anna und Robin vor, die vielleicht bald eine lange, rote Narbe verunstalten würde.
Panik überkam mich und mühsam schluckte ich die aufsteigenden Tränen hinunter.
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es auch habe, wenn die Untersuchung bei dir positiv ausfällt?“, fragte ich meine Mutter.
„Fünfzig Prozent. Ein erkranktes Elternteil vererbt die Anlage für die Krankheit statistisch gesehen an die Hälfte seiner Kinder“, antwortete sie.
„Und wenn ich das Gen nicht habe, ist aber auf jeden Fall sicher, dass meine Kinder es auch nicht haben, oder?“
„So steht es in dem Informationsblatt.“
„Warum habt ihr mir denn nicht eher davon erzählt?“ Ich drückte meine Mutter ganz feste.
„Wir wollten dich nicht unnötig beunruhigen“, schniefte sie.
„Wir wollten warten, wie das Untersuchungsergebnis deiner Mutter ausfällt“, fügte mein Vater hinzu. „Vielleicht ist der Test negativ und dann hättest du dir umsonst Sorgen gemacht.“
Im Grunde genommen war uns aber allen klar, wie das Ergebnis ausfallen würde, man konnte den Knoten am Hals meiner Mutter schon mit dem bloßen Auge erkennen. Sie hatte immer Angst gehabt, deswegen zum Arzt zu gehen.
Als ich abends mit meinem Mann Uwe darüber sprach, ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Bei meinen Eltern hatte ich mich zusammengerissen, um ihnen nicht noch mehr Kummer zu bereiten. Doch nun liefen mir die Tränen und auch Uwe machte ein sorgenvolles Gesicht.
Wir überlegten, was schlimmstenfalls passieren konnte.
„Nehmen wir mal an, ihr seid alle drei betroffen“, begann er. „Ihr müsst euch auf jeden Fall in Deutschland in dieser Spezialklinik operieren lassen.“
Ich nickte. Hier in Spanien gab es zwar eine sehr gute medizinische Versorgung, aber dieser spezielle Genkrebs war laut der Ärztin meiner Mutter so gut wie unbekannt. Nur würde unsere gesetzliche, spanische Versicherung auf keinen Fall eine Operation in Deutschland bezahlen, was bedeutete, dass wir eventuell für die Kosten der Operation, plus Krankenhausaufenthalt und Reisekosten mal drei aus eigener Tasche aufkommen mussten.
„Oh Gott.“ Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. „Wie sollen wir das nur alles bezahlen?“
„Mach dir keine Gedanken.“ Uwe nahm mich in den Arm. „Und wenn ich mein Motorrad und das Auto verkaufen muss, irgendwie schaffen wir das schon. Außerdem steht noch gar nicht fest, dass du das Gen überhaupt hast. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob deine Mutter betroffen ist.“
Zärtlich strich er mir über das Haar.
„Komm, lass uns schlafen gehen.“
Bevor ich in unser Zimmer ging, schaute ich noch mal bei den Kindern rein.
Anna, unsere Sechsjährige war wie immer aufgedeckt. In der einen Hand hielt sie ihr Schnuffeltuch fest, ein Stück von einem Betttuch, das sie, seit sie ein Baby war, immer mit sich herumschleppte. Der Daumen der anderen Hand steckte in ihrem Mund, etwas, dass wir ihr einfach nicht abgewöhnen konnten. Ich zog die Decke über ihren kleinen Körper und hauchte einen Kuss auf ihre vom Schlaf geröteten Wangen.
Robins Haar war zerzaust und stand nach allen Richtungen ab. Er schien irgendeinen aufregenden Traum zu haben, denn er bewegte seinen Kopf hin und her und brabbelte undefinierbare Laute vor sich hin. Wahrscheinlich träumte er gerade, wie alle Zehnjährigen, von einem Kampf mit Darkwing Duck oder den Pokemons.
„Bitte, lieber Gott, lass meine Babys keinen Krebs haben“, flüsterte ich und strich zärtlich über Robins Kopf.
Zwei Tage später hatte meine Mutter ihr Ergebnis. Es war positiv – sie war Trägerin des MEN 2 Gens.
Ich nehme einen der Steine, die neben mir auf den Felsen liegen und werfe ihn mit voller Kraft über das Meer. All meine aufgestaute Angst und der ganze angesammelte Frust liegen in diesem Wurf. Ich war nie eine gute Werferin, und so versinkt der Stein nicht weit vom Ufer im Wasser. Der Regen ist mittlerweile stärker geworden. Kleine Rinnsäle laufen in den Kragen meiner Jacke, und auf meinen Wangen liefern sich Regentropfen und Tränen einen Wettlauf.
Meine Mutter war ziemlich down, nachdem sie das Ergebnis der Blutuntersuchung kannte. Zu der Angst, dass sie nicht wusste, wie weit der Krebs bei ihr schon fortgeschritten war, gesellte sich nun auch noch die Ungewissheit, ob ich und meine Kinder Genträger waren. Zwei Tage später flog sie nach Deutschland. Dort erfuhr sie, dass auch ihr Bruder, dessen Tochter und Enkelkinder Genträger waren. Dies ließ natürlich meine Hoffnung, vielleicht zu den fünfzig Prozent zu gehören, die das Gen nicht geerbt hatten, ziemlich schrumpfen. Ich wollte so schnell wie möglich ein Ergebnis haben, sei es positiv oder negativ. Also ging ich zu der gleichen Ärztin, bei der auch meine Mutter schon gewesen war und ließ mir die entsprechende Blutmenge abnehmen, die ich sofort per UPS an die Klinik in Hamburg schickte. Nun hieß es abwarten und hoffen.
Das Wort Hoffnung ist zur Zeit mein ständiger Begleiter. Hoffentlich bin ich keine Genträgerin, wenn ja, habe ich es hoffentlich nicht an meine Kinder weitergegeben. Hoffentlich ist der Krebs bei meiner Mutter noch nicht zu weit fortgeschritten und es haben sich bei ihr noch keine Metastasen gebildet. Hoffentlich haben wir die Kraft, dies alles durchzustehen.
Mein Blick fällt auf den Horizont. Dort wo der Übergang von Himmel und Meer sonst von einem wie mit dem Lineal gezogenen Strich unterteilt wird, ist heute eine Schlangenlinie zu sehen, das Auf und Ab der vom Wind gepeitschten Wellen. Morgen oder übermorgen wird sich der Sturm wieder gelegt haben, wird die See wieder glatt wie ein Spiegel sein. Ach, wäre es doch auch in meinem Leben so einfach. Der Briefumschlag in meiner Hand ist schon ganz feucht geworden, wenn ich ihn nicht bald öffne, kann ich vielleicht seinen Inhalt nicht mehr lesen.
Die Ultraschalluntersuchung meiner Mutter ergab eindeutig eine Karzinombildung an der Schilddrüse. Die Kontrastmitteluntersuchung wurde erst gar nicht mehr durchgeführt.
Sie bekam einen Operationstermin für den folgenden Monat, sodass sie erst noch einmal nach Hause fliegen konnte. Ich wartete derweil auf Post aus Deutschland. Es waren nun drei Wochen vergangen, seit ich meine Blutprobe abgeschickt hatte. Das Leben war weitergegangen in dieser Zeit, der Alltag mit den Kindern ließ einem nicht viel Zeit zum Luftholen und so war ich zwar oft abgelenkt, doch sobald ich zur Ruhe kam, fiel der kleine Dämon mit Namen Angst wieder über mich her.
Und dann lag eines Tages der Brief in unserem Postfach...
Der Brief mit dem Ergebnis der Blutuntersuchung, den ich nun endlich öffnen musste. So sehnsüchtig ich auch vorher auf diese Nachricht gewartet hatte, um endlich von dieser Ungewissheit erlöst zu werden, jetzt, da ich in wenigen Sekunden das Ergebnis ablesen kann, wird meine Angst immer größer.
Vorsichtig reiße ich das aufgeweichte Papier des Umschlags auf und ziehe den feuchten Bogen heraus. Noch einmal halte ich einen Augenblick inne und hole tief Luft. Dann falte ich das Schreiben langsam auseinander. Mein Herz klopft wie ein Presslufthammer, der sich in den Asphalt bohrt.
Ich überfliege den Briefkopf mit den Daten der Klinik und dann endlich lese ich den alles entscheidenden Satz:
Das Ergebnis der Untersuchung auf Multiple endokrine Neoplasie des Typs zwei / MEN 2 ist negativ. Die Patientin ist keine Genträgerin.
Immer wieder lese ich die Worte, kann nicht glauben, was da steht. Ich schließe die Augen und drücke den Brief an meine Brust. Tränen der Erleichterung tropfen auf meine Hände. Und dann lasse ich einen Glücksschrei los, den man bestimmt bis Ibiza hören kann. Der Regen hat aufgehört, und als ob der Himmel sich mit mir freut, reißt in diesem Moment die Wolkendecke auf und ein erster vorwitziger Sonnenstrahl beginnt auf der Wasseroberfläche zu tanzen. Nur die bevorstehende Operation meiner Mutter trübt meine Freude, doch ich weiß, dass ihr nach dieser positiven Nachricht ein kleines bisschen leichter ums Herz sein wird.