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Über die Normalität
Was ist normal? Wie definiert sich das? Nach welchen Kriterien beurteilt man dies?
Ich mache mir einfach meine Gedanken wenn ich höre, etwas sei "abnormal" - denn für den Betreffenden kann dies ja ganz normal sein.
Dr. Hawthorne konnte nicht glauben, was auf dem Monitor unverrückbar in weißen, elektronischen Lettern stand.
"Mister Reeves, das ist ganz einfach -"
Er suchte nach Worten.
"- völlig absurd! Ich übe meinen Beruf seit zwölf Jahren aus, aber niemals wurde mir ein Patient aus jenen Gründen, welche man in Ihrem Falle angab, überwiesen."
Reeves sah sich verlegen um.
"Nun, ich war ja auch ziemlich überrascht, als mich zwei Männer direkt am Bahnsteig der
U-Bahn in Gewahrsam nahmen und mich zwangen, auf dem Rücksitz eines Sanitätswagens Platz zu. nehmen."
Hawthorne schaltete den Monitor ab und setzte sich Reeves gegenüber.
"Zigarette?", fragte er und griff nach einer kleinen grauen Metallbox auf dem Glastisch.
"Danke, ich rauche nicht."
Der Psychiater nickte und zog den Arm zurück. Eine ganze Minute verstrich, ohne dass einer der beiden Männer ein Wort sagte. Dann endlich klopfte Hawthorne einen Reeves unbekannten Rhythmus auf der Armlehne des Stuhls.
"Erzählen Sie."
"Was denn?"
Hawthorne zuckte mit den Achseln.
"Irgend etwas. Fangen Sie mit Ihrer Kindheit an. Litten Sie unter den Vorbildern Ihrer Eltern? Nahmen Sie heimlich Drogen?"
Reeves schüttelte ein paarmal den Kopf.
"Nichts dergleichen. Nein. Ich verlebte eine behütete und glückliche Kindheit."
"Schön, das sagen Sie jetzt. Aber denken Sie nach: Bestimmt gab es das eine oder andere negative Erlebnis in Ihrer Kindheit oder Jugend."
Die nächsten zwei Minuten verbrachte Reeves damit, intensiv nach dunklen Flecken in den Jahren seines Lebens zu suchen. Er entschied, dass, derer keine existierte.
"Es tut mir Leid, aber mir fällt beim besten Willen nichts Negatives ein.“
"Das macht nichts", beruhigte ihn Hawthorne und lächelte matt, "Zäumen wir das Pferdchen andersrum auf. Wie entwickelte sich Ihr Leben in den letzten Jahren? Beruflich und privat, meine ich."
Auch darüber grübelte Reeves längere Zeit nach. Er gelangte zu der Einsicht, dass weder übermäßig positive, noch verheerend negative Erlebnisse stattgefunden hatten. Sein Leben hatte sich eben wie ein nagelneuer Teppich vor ihm ausgerollt: Ohne Falten, über die man stolpern konnte.
„Wissen Sie, ich kann wirklich nicht klagen. Ich bin stellvertretender Leiter eines Supermarktes - keine große Sache, aber auch nicht übel, sofern man keine anderen Mäuler außer dem eigenen zu stopfen hat und keine hohen Statusansprüche stellt."
Hawthorne nickte erneut.
"Nun gut, doch wie ist es um Ihr Privatleben bestellt? Welchen Vergnügungen gehen Sie in Ihrer Freizeit nach?"
Diese Frage bedurfte Reeves keinerlei Denkarbeit.
"Samstag abends gehe ich stets in das Sharkey, das ist ein Pub, und trinke zwei Bier. Ich spiele ein paar Runden Billard und ... Tja, gehe nach Hause, wenn ich es für angemessen halte."
Die Stirn Hawthornes legte sich in Runzeln.
"Ist das alles?"
Der vorwurfsvolle Ton in dessen Stimme brachte Reeves zum Erröten.
"Das ist alles. Oh, ich weiß, das ist nicht gerade sensationell, aber mir genügt das vollauf."
Hawthorne schloss die Augen und seufzte tief. Er verharrte ein paar Sekunden in der Stille, dann öffnete er seine Augen wieder und zwang sich zu einem jovialen Lächeln.
Langsam lehnte er sich nach vorne, wobei er Reeves unentwegt anstarrte.
"Einen hoffnungslosen Fall hat man Sie genannt, wussten Sie das? Steht alles in meinen Network-UnterIagen. Aber ich will Ihnen das eine sagen: Es gibt keine hoffnungslosen Fälle -es gibt nur unfähige Psychiater! Glauben Sie mir das?“
Reeves räusperte sich und bejahte.
"Gut. ", sagte Hawthorne und ließ sich wieder nach hinten in die weiche Lehne zurück fallen. Entspann schlug er das linke Bein über das rechte und faltete die Hände über seinem Bauch. Das gütige Grinsen behielt er bei.
"Und glauben Sie mir, dass ich ein guter, keinesfalls unfähiger Vertreter meines Faches bin?"
"Natürlich.", bemühte sich Reeves rasch und ohne den Hauch eines Zweifels zu antworten.
"Sehr schön. Nachdem wir das geklärt hätten, können wir uns von Mann zu Mann unterhalten. Kommen wir auf ihre unterbewussten Wünsche zu sprechen. Vergessen wir diesen ganzen psychoanalytischen Mist und konzentrieren wir uns auf das. was Sie sich wünschen, aber niemals zu verwirklichen wagen würden."
Reeves blickte ein wenig ratlos drein.
„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen."
"Was gibt es da zu verstehen? Jeder Mensch hat irgendwelche, möglicherweise sogar morbiden, Wünsche. Machen Sie Ih-em Herzen Luft, Mister Reeves! Teilen Sie mir mit, was Sie schon immer zu tun beabsichtigten, egal, wie verdreht diese Sache auch sein möge."
Reeves mühte sich redlich ab, verborgenes zu Tage zu fördern, wovon er selber keine Ahnung gehabt hatte, es unter seiner grauen Oberfläche versteckt zu halten. Doch da war nichts morbides zu entdecken.
"Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Ich habe keine, ähm, ausgefallenen Wünsche."
"Ausgefallene Sehnsüchte vielleicht, denen Sie anheim fallen könnten? Perverses, das in Ihnen schlummert?“
Reeves schüttelte ein ums andere Male den Kopf.
"Verdammt, Mann, Sie können doch nicht gar nichts widerwärtiges tun wollen!", schrie ihn Hawthorne entnervt an und sprang auf.
Er wollte Reeves am Hemdkragen packen und durchschütteln, bis dessen Fassade der Normalität in einem Atemzuge abbröckeln und das reptilische Erbe in ihm erwachen würde.
In einem Akt unglaublicher Selbstbeherrschung, die er sich in einer Selbsthypnosesitzung suggeriert hatte, nahm er wieder Platz und verdrängte seine dunklen Gedanken. Etwas ähnliches war ihm in seiner ganzen Karriere noch nicht widerfahren.
"Sie sind der mit Abstand abartigste Psychopath, der mir jemals unter die Augen geriet. Jemand wie Sie muss ja bis obenhin mit Wahnsinn gefüllt sein! Lassen Sie sich doch endlich gehen! Gestehen Sie es sich ein! Sie sind abnormal."
Fassungslos betrachtete ihn Reeves.
"Es tut mir leid, aber ich habe bereits Ihrer Kollegin in der Nervenheilanstalt klar gemacht, dass ich keine dunklen Geheimnisse in mir trage. Ich bin, wie ich bin."
"Nein, niemand ist so, wie er sich gibt! Jeder benötigt einen Katalysator, um sich vom Druck des Zivilisiertseins zu befreien Sehen Sie mich an: In meiner Jugend schmiss ich Fensterscheiben ein und beschmierte die Trennwände in den Toiletten mit pubertären Sprüchen und Bildern. Manchmal würde ich am liebsten mit einer Axt eine Schneise durch die Menschenschlange vor der U-Bahn schlagen. Ich stelle mir vor wie es wäre, auf der Jahresversammlung meines Berufsstandes mit einer Uzi ein Blutbad anzurichten; ich stelle mir vor, wie es wäre, in das mit Menschen vollbesetzte Becken einer Schwimmanlage zu pissen! Ich habe nicht vor, irgend etwas davon zu realisieren, aber hin und wieder erheitern mich all diese Vorstellungen. Großer Gott, Mister Reeves, Sie müssen doch verstehen, was ich damit ausdrucken will!"
Der Monolog Hawthornes schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Reeves Fassade begann Sprünge zu zeigen - jedenfalls nahm der Doktor das an.
"Auf der High School gab es ein Mädchen, das in die selbe Klasse ging wie ich. Sie war das hübscheste und umschwärmteste der ganzen Schule und eines Tages nahm ich meinen gesamten Vorrat an Mut zusammen und -"
„Ja?"
"- und fragte sie, ob sie mich zum Schulball geleiten würde."
„Ja? Und was sagte sie?"
"Gar nichts. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ich zu ihr gesprochen hatte. Sie las in einem Buch und aß einen Apfel."
Hawthorne raufte sich die Haare.
"Und dabei beließen Sie es?"
Reeves nickte unglücklich.
"Ich rufe lediglich zweierlei Reaktion in meinen Mitmenschen hervor: Entweder ich langweile sie, oder sie beachten mich gar nicht. Einmal spazierte ich nachts durch den Central Park, allein."
"Und? Wurden Sie überfallen oder wenigstens primitiv angepöbelt?"
"Weder noch. Niemand nahm Notiz von mir."
"Wissen Sie was? Sie treiben mich zum Wahnsinn, mit Ihrem Selbstmitleid!", sagte Hawthorne mit lauter Stimme.
„Los, schlagen Sie mich!"
"Wie bitte?", fragte Reeves verblüfft.
Hawtorne beugte sich nach vorne.
"Na los, ballen Sie Ihre Finger zu einer Faust und donnern Sie mir eine in die Fresse. Das werden Sie doch hoffentlich zustande bringen. "
"Warum sollte ich das tun?“, wollte Reeves wissen.
"Warum? Darum! Herrgott noch mal! Wollen Sie Ihr Leben lang tödlich langweilig bleiben? Kämpfen Sie endlich dagegen an! Tun Sie etwas Unerwartetes, etwas völlig Verrücktes!"
Und als auch dies nichts bewirkte, begann Hawthorne Reeves zu beschimpfen.
"Sie elender Wurm! Sie widern mich an, mit Ihrem scheinheiligen Getue. Welchen monströsen Akt des Grauens planen Sie zu verwirklichen? Die Menschheit zu Tode zu langweilen? Sie kotzen mich an, Sie stellvertretender Wichser, Sie Auswurf eines räudigen Hundes, Sie optisches Ärgernis! Was ist? Sind Sie zu feige, mir einen Schlag zu verpassen? Mit Ihnen würde ich nicht mal meine eigene Kotze vom Fußboden aufwischen!"
„Vielleicht ist es besser, ich gehe jetzt", sagte Reeves vorsichtig.
"Gehen? Wohin denn? In Ihre stinknormale Wohnung, damit Sie sich Flipper oder Happy Days im Fernsehen anschauen?"
"Was haben Sie denn gegen Happy Days? Ich finde die Sendung ganz witzig."
„Witzig? Sie, Sie-„ Erneut fehlten ihm die Worte, Reeves mit passenden ordinären Verwünschungen zu belegen.
"Wissen Sie was ? Ich schmeiße Sie gnadenhalber aus dem Fenster. Ja, genau das werde ich tun."
Hawthorne lachte irre und packte Reeves am Kragen.
"Jemand, etwas, wie Sie darf nicht existieren! Sie sind schlimmer als ein Rudel Serienkiller. Ich werde Sie auslöschen. Es ist das Beste für uns alle.“
Er zerrte Reeves an das Panormafenster, von welchem aus man die halbe Stadt überblicken konnte. Reeves konnte in diesem Augenblick jedoch keine rechte Begeisterung für die herrliche Aussicht erübrigen.
"Nein", keuchte Reeves.
"Warum nicht? Nennen Sie mir einen verdammten Grund! Warum nicht?"
Einen Moment 1ang lockerte er den unbarmherzigen Griff, um Reeves die Chance zu geben, sich zu verteidigen.
"Weil es ungerecht wäre. Ich habe doch nichts Böses getan."
"Ach nein? Weshalb wurde die Behörde dann auf Sie aufmerksam, was glauben Sie? Weil Sie unerträglich langweilig und normal sind! Ja, Sie sind unerträglich!"
"Ich kann doch nichts dafür", quengelte Reeves ängstlich.
"Dann ändern Sie sich. Los, überzeugen Sie mich davon, dass Sie sich ändern werden."
"Gut, ich werde mich ändern, großes Ehrenwort."
"Pfadfinderehrenwort?“, fragte Hawthorne nach.
"Ja, großes Pfadfinderehrenwort!", bestätigte Reeves.
Blind vor Rage verstärkte Hawthorne seinen Griff.
"Ich hasse Pfadfindergruppen! Ich hasse diese scheinheiligen Pharisäer! Ich hasse -"
Plötzlich verstummte Hawthornes Hasstirade. Er entließ Reeves aus seinem stählernen Griff, stammelte etwas Unsinniges vor sich hin, riss den Mund zu einem Schmerzensschrei auf, keuchte und taumelte einige Schritte rückwärts.
Reeves atmete nun heftig stoßweise Luft ein und beobachtete fassungslos, wie der Psychiater ohnmächtig auf den Boden sackte, wobei er unglücklicherweise mit dem Hinterkopf gegen die harte Tischplatte schlug.
Wenige Sekunden später wurde die Tür von außen aufgestoßen und die Sprechstundenhilfe betrat das Zimmer.
"Verzeihen Sie, Doktor Hawthorne, aber ich habe Schreie gehört und -"
Ihr erster Blick galt Reeves, der mit offenem Munde an der Scheibe lehnte.
Ihr zweiter Blick galt Hawthorne, der reglos auf dem Fußboden lag und zur Decke starrte, als liefe eben dort ein interessantes Video ab. Dann bemerkte sie die Blutlache und schlug die Hände vor den Mund. Als Reeves auf sie zustolperte, monotones Geschwätz von sich gebend, lief sie kreischend aus dem Raum.
Später berichtete sie einem der Polizeibeamten, dass ihr Reeves vom ersten Augenblick an
auf harmloses Auftreten bedacht vorkam, so, als hätte er etwas zu verbergen.
Bennett hieß der Neue und er setzte sich, nachdem er das Tablett mit dem Essensfraß auf dem Tisch abgestellt hatte. Verwundert hatte er zuvor festgestellt, dass einer der Häftlinge allein an einem der Tische saß und gedankenversunken seine Suppe löffelte.
"Sagt mal, was ist denn mit dem Typen da drüben los? Hat der eine ansteckende Hautkrankheit oder so was?“
Ein älterer, korpulenter Insasse fühlte sich offenbar persönlich angesprochen, denn er antwortete sogleich.
"Das ist ein ganz besonders mieser Zeitgenosse. Von dem hältst du dich am besten fern, wenn ich dir einen guten Rat geben darf."
"Im Ernst? Er sieht eigentlich völlig harmlos aus.", bemerkte Bennett.
"Ja, das haben wohl alle angenommen, die ihm je über den Weg gelaufen sind. Er macht einen Eindruck, als könnte er kein Wässerchen trüben, aber in Wirklichkeit ist er ein Verrückter. Hat einen Psychiater umgebracht, einfach so."
"Einfach so“, wiederholte Bennett erstaunt.
„Ja, und trotzdem besteht er darauf, dass er den Mann nicht ermordet hat, sondern dass es ein Unfall gewesen sei. Der Typ ist abgebrüht, eiskalt! Wer weiß, wie viele Morde er noch auf'm Kerbholz hat."
„Genau!", pflichtete ein weiterer Häftling bei. "Tut so, als wär er ganz normal, aber der ist wie ein Kessel, der unter Dampf steht - irgendwann geht er hoch, und dann möchte ich echt nicht in seiner Nähe sein. Also, nimm dich bloß in Acht vor ihm!“
„Sag mal“, warf der ältere Mann ein, "stimmt es, was man so läuten hört? Von wegen, dass du deine Freundin abgestochen hast, weil sie mit dir Schluss machen wollte?"
"Ja, leider, 'ne Kurzschlussreaktion war's. Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas befähigt wäre."
Die anderen beiden Männer nickten zustimmend.
"Da bist du nicht der Einzige, Junge. Die meisten von uns handelten impulsiv, obwohl sie im Grunde nette Kerle sind. Aber der Typ da drüben ..."
Der ältere Mann machte eine eindeutige Kopfbewegung,
„Der ist ein geborener Killer."
Schweigend aßen die Männer ihre Mahlzeiten. Auf dem Weg zurück in die Zellen flüsterte der ältere Mann dem Neuen noch Folgendes zu: "Denk dran, halte dich von dem Typen fern, der is' abnormal.“