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Лазурит (Lazurit)

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19.05.2015
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Лазурит (Lazurit)

Agafja steht mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Wie jeden Tag. Sie blinzelt und schaut zum Himmel, als sie aus der Hütte tritt. Gott ist überall und in der Natur ist man ihm am nächsten. Sie legt den blauen Stein vor sich auf den Schrein und nimmt die Bibel zur Hand, streicht über das Leder, spürt die Kratzer auf dem Einband, die Tränen und Schweißtropfen des Vaters, der Mutter, der Geschwister, die es in den Händen gehalten, an sich gedrückt haben. Sie schlägt das Buch auf, die vergilbten Seiten knistern …

... der verlässliche Zeuge über den Wolken … verworfen und mit Zorn überschüttet … Krone … Eingerissen … in Trümmer gelegt … plündern … hast all seine Feinde erfreut … die Spitze seines Schwertes umgekehrt … Kampf … Sieg verweigert … Ende gemacht seinem Glanz … Jugend verkürzt … bedeckt mit Schande … Wie lange noch, Herr? … Zorn wie Feuer brennen? … Was ist unser Leben … wie vergänglich hast du alle Menschen erschaffen! Wo ist der … ewig lebt … der sich retten kann … Herr, wo sind die Taten deiner Huld geblieben … Im Herzen brennt … der Hohn der Völker …
(Psalm 89, Einheitsübersetzung)

Amen, ja amen.

… Eltern fallen ihr ein. Ihr Geist, alles, was sie ihr beigebracht haben, steckt irgendwie zwischen den Buchseiten. Einige der Buchstaben sind verblichen, unmöglich zu entziffern, aber Agafja stört sich nicht daran, Worte sind ein steter Fluss, ein Flüstern zwischen den Baumwipfeln und dem Rauschen des Jerinat, Worte, einzelne Sätze, das, was die Eltern, die Geschwister vor langer Zeit gesagt haben, versteckt sich im Holz der Hütte, die sie gemeinsam gebaut haben, Gegenstände nehmen auf, was sie zu fassen bekommen. Auf dem Rollstuhl, den sie aus Brettern und zwei Reifen, die sie bei den Leuten aus der Forschungsstation hundert Werst nach Westen geholt haben, liegt die warme Decke ihres Bruders.
… hört sie die Geister. Sie ist nicht allein …

Das Wort Lapis entstammt der lateinischen Sprache und bedeutet „Stein“. Lazuli, Genitiv des mittellateinischen Wortes lazulum für „blau“, leitet sich wie mittellateinisch lazurium und griechisch lazoúrion über Paschtunisch لازورد lāzaward vom persischen لاجورد / lāǧevard /‚himmelblau‘ ab. Synonyme Bezeichnungen sind unter anderem Azur d'Acre, azurum ultramarinum, Bleu d'Azur, Lapis lazuli ultramarine, Las(z)urstein …
(Wikipedia, Lapislazuli)

… weg von den Menschen, die sich gegenseitig umbringen, weg von den Lastern, der Gier der Städte. Die Bolschewiki wollten das Gute und trotzdem mordeten sie, weil sie nicht an Gott glauben, weil sie an gar nichts glauben, hörte sie ihren Vater sagen. Wir mussten weg, Agafja, wir mussten. Du hast damals geweint, warst klein wie eine Erbse und süß wie eine Himbeere, hört sie die Mutter sagen. Lange waren sie gewandert, hatten gehungert und die Schuhe abgelaufen, erinnert sie sich. Bis sie in die Baikal-Region gelangten, weitab von anderen Menschen, weit weg von dem, was die Menschen Zivilisation, was Agajfja Sodom und Gomorrha nennt, das Reich des Antichristen …

… Die Vorräte schmolzen, nichts war mehr da. Sie gruben im Schnee, aßen Würmer, jagten Murmeltiere, kochten Suppe aus Gras, aus Baumrinde und kauten solange am Leder ihrer Schuhe, bis sie sich einbildete, satt zu sein, bis Gott zu ihnen sprach, ihnen zurief, sie müssten nur eine Weile durchhalten. Eine schlimme Zeit. Beten hatte geholfen. Der Hunger darf das Bewusstsein nicht fluten, alles überlagern. Dagegen muss man ankämpfen, die Gedanken zum Himmel richten. Gott sorgt sich um seine Kinder. Sie tanzten, als der Hungerwinter vorüber war und die Frühlingssonne schien, tanzten in ihren Hungerkleidern, lachten, küssten einander, als der Kohl wuchs, die Pastinaken, das Porree, Blüten aus dem Boden …

… Spaltung innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche kam. So entstanden die sogenannten Altgläubigen. Innerhalb dieser Bewegung bildete sich die religiöse Gruppierung der „Priesterlosen“, die vom baldigen Eintreffen des Jüngsten Gerichts überzeugt waren. Insbesondere in den radikalen Reformen Peters des Großen erkannten sie das Wirken des Antichristen. Viele dieser „wahren Gläubigen“ wichen in unbewohnte Regionen Russlands aus, um der hohen Steuerlast und anderen Pflichten des als gottlos betrachteten Staates zu entgehen. Im Verlauf der Jahrhunderte wurden Mitglieder dieser Gemeinschaft immer weiter in unzugänglichere Waldgebiete getrieben. Bedingt durch staatliche Nachstellungen zog sich die Familie Lykow in den 1930er Jahren bis zum Oberlauf des Abakan zurück und geriet dort – 250 Kilometer von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt – in Vergessenheit …
(Wikipedia, Lykow)

Agafja nimmt den Zuber, mit dem sie sich wäscht, den Eimer, in den sie das Trinkwasser gießt, und geht den steilen Pfad hinab zum Fluss. Kein Wasser könnte jemals besser schmecken. Als die Leute kamen, mit ihren Geländefahrzeugen, sie bestaunten, als wäre sie eine seltene Blume oder ein Tier, das den Augen der Menschen bisher entgangen war, hatte sie sich überreden lassen, sich das moderne Russland anzuschauen, war mit ihnen in die Städte gefahren, hatte mit dem Zug, dem Flugzeug, dem Helikopter das Land bereist, Museen besucht, Konzerte gehört, in Hotelzimmern geschlafen, die in großen, steingefügten Gebäuden wie eine Ansammlung von Bienenwaben wirkten. Dort gab es Wasserhähne, Duschköpfe, warmes, kaltes, laues Wasser, das auf der Haut angelangt, grausamen Widerstand hervorrief und nach Jauche schmeckte. Kein Wasser war vergleichbar mit dem des Jerinat, keins. Man muss zuhause bleiben, wenn man nicht krank werden will. Je länger sie unterwegs war, desto größer wurde ihre Angst, weil es keine frische Luft gab, weil jedes Fahrzeug, das vorbeifuhr, so viele Gifte in der Luft zurücklässt, weil die Seuchen der Zivilisation sich durch die Luft ausbreiten. Als sie von ihrer Reise zurückkam, war ihr Vater gestorben und sie hatte verflucht, was die Menschen Zivilisation nannten.
Der Frühling wird bald kommen. Auf den Birken, Weiden und Espen singen die Regenpfeifer, Gänsesäger und Kolkraben …

… öffnet die Strickjacke, streift das Leibchen ab, das Kleid, nimmt mit der hohlen Hand erst einen Schluck Wasser, um den Fluss zu grüßen, bekreuzigt sich, nimmt die Seife, reibt sich ein, rubbelt. Die Haut muss gerötet sein nach dem Waschen, du musst fest schrubben, dann spürst du deinen Körper und deine Seele, hört sie ihre Mutter. Agafja streckt sich, wirft den Kopf zurück und blickt zum Himmel …

… bestand die Familie aus dem Vater, Karp Ossipowitsch Lykow, den Söhnen Sawwin (45) und Dimitri (36) und den Töchtern Natalja (42) und Agafja (34). Die Mutter, Akulina Karpowna geb. Daibowa, war 1961 vermutlich an Hunger gestorben …
(Wikipedia, Lykow)

… stellt den Honig ihrer Bienen bereit, um den Brei zu süßen. Gerade als sie sich umdreht und auf den Stuhl setzen will, auf dem die Mutter immer saß, bemerkt sie die Spinne, ein großes Tier mit kräftigem Körper, das ihre Hand ausfüllen würde, so groß. Sie gehört nicht hierher, das weiß Agafja sofort, hat zwar acht Beine, das schon, bewegt sich aber etwas ungelenker, nicht so wie eine sibirische Spinne, nicht so, als schwebte sie und glitte schwerelos über den Boden, nein, die Spinne, die neben der Tür sitzt, rennt wie ein Soldat in exakt gerader Bahn auf und ab, ohne sich ihr jedoch zu nähern …

… losrennen, blitzschnell auf ihren mannigfachen Beinen, sich einfach in Luft auflösen, sobald sie Gefahr spürt, jemand sich ihr auf kurze Distanz nähert, aber diese hier verhält sich zahm wie Emma, die Ziege in Agafjas Stall, bleibt, wo sie ist, zieht weiter ihre Bahn, hin und her, hin und her, als wäre sie ein Aufziehpüppchen. Agafja bückt sich, streckt den Arm aus …

… Fundstätten befinden sich in Russland. Hier stammen die farblich besten Varietäten von der Lagerstätte Malobystrinskoye am Baikalsee. Weniger ergiebig erwiesen sich die Lokalitäten Talskoye und Sljudjanskoye in der Baikalregion. Die Fundstelle am Fluss Sljudjanka entdeckte Erich G. Laxmann in den Jahren 1784–1785, als er im Auftrag der Akademie der Wissenschaften des Zaren am Baikalsee naturwissenschaftliche Erkundungen betrieb. Katharina die Große sandte 1787 eine geologische Expedition in diese Region …
(Wikipedia Lasurit)

… Oberfläche fühlt sich weich an, kalt, gummiartig, gibt nach, wenn man leichten Druck ausübt, ganz anders als der Panzer eines Käfers. Der Körper pulsiert, vibriert, die Beine scheinen mit Metall überzogen zu sein, und die Augen glühen grünlich. Sie dreht die Spinne um, will den Bauch begutachten und entdeckt eine winzige Stelle, einen Punkt, kaum zu erkennen, der genau so aussieht, wie die Zeichen, die in den Städten an allen Produkten angebracht sind, die irgendwo verkauft werden, Joghurtbecher, Musikabspielgeräte, Schälchen, Flaschen, Kleidungsstücke, einfach an allem, was man Agafja auf ihrer Reise als die Errungenschaften der modernen Zeit präsentiert hatte. Sie zittert, lässt die Spinne beinahe fallen, denn sie weiß, was das Zeichen, die Ziffernfolge bedeutet, der Teufel, der Antichrist, Beelzebub …

… Schurawljow beschrieb die Lebensumstände folgendermaßen:
„Feuer machen sie mit dem Wetzstahl, Licht erzeugen sie durch Kienspäne … Sie leben wie in der Zeit vor Peter dem Ersten, vermengt mit ein paar Spritzern Steinzeit. Im Sommer laufen sie barfuß, im Winter tragen sie Schuhwerk aus Birkenrinde. Sie benutzen kein Salz …
(Wikipedia, Lykow)

… hört das Geräusch des Aufpralls auf dem Dielenboden und geht zu dem Wasserzuber, nimmt die Seife, wäscht die Hände und bekreuzigt sich. Die Spinne verharrt einen Moment, als müsste sie sich sammeln und fängt dann wieder an, ihre Bahnen zu ziehen. Das grüne Strahlen der Augen streicht weiter durch den Raum, streift nun über alle Ecken und Wände, über die Gegenstände und Möbelstücke, als wollte die Spinne notieren, was sie sieht, vermessen …
… eine merkwürdige Erregung, fast so wie an den Abenden, wenn es kribbelt und zwickt und sie sich zwischen den Beinen streichelt, sich süßen Gedanken hingibt, an Männer denkt und den Stab aus Glas benutzt, den sie in Sankt Petersburg gekauft hat …

… 1981 verstarben die drei ältesten Kinder; 1988 der Vater im 87. Lebensjahr. Wenig später wurde von einer angeblichen Hochzeit der allein zurückgebliebenen jüngsten Tochter Agafja berichtet …
(Wikipedia, Lykow)

… half er ihr, hackte Holz, grub die Erde um, zeigte ihr, wie man den Saft der Beeren gären lassen konnte, etwas Alkohol daraus zu gewinnen. Sie saßen abends zusammen, tranken, sangen, lachten. Lass uns tanzen, hatte er gesagt, an einem Sommerabend. Dabei hinkte er, das Bein war lädiert, die Armee, die verfluchte Armee …

… dass es den Zweiten Weltkrieg gab. «Wie das - zum zweiten Mal, und wieder die Deutschen?», wunderte sich Karp, als ihn 1978 die GeologInnen besuchten und vom «grossen Krieg» berichteten …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

… tanzen, hatte er gesagt. Und als er nicht mehr stehen konnte, hatte Agafja den Rollstuhl geholt und Vitja reingesetzt, sich mit ihm gedreht, den warmen Luftzug gespürt, sich glücklich gefühlt, unbeschwert wie ein kleines Mädchen. Er hat’s dann probiert bei ihr, im Rollstuhl sitzend, sie an sich gezogen, die Lippen auf ihre gedrückt, sie auseinander gepresst, die Hände um ihre Taille geschlungen, das hat er probiert, aber sie lachte ihn aus, sie lachte einfach, drehte ihn schneller und schneller auf seinem Stuhl, bis er nicht mehr konnte, der Vitja, während sie die Arme zum Himmel hob, sie ausbreitete, als hätte sie Flügel, als könnte sie fliegen, über das Land, bis zum Himmel hin …

Aus Hanfleinen nähten sie Sommerkleider, Kopftücher, Strümpfe und Fäustlinge. Und auch Wintermäntel: Zwischen Futter und Oberstoff kam trockenes Gras …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

… so plötzlich gekommen wäre, wenn sie sich erst an sein schiefes Grinsen, den rauen Bart, das rote Gesicht, den ausgemergelten Körper, die Spinnenfinger gewöhnt hätte, dann, ja dann, hätte sie ihn nicht zurückgewiesen, weitergetanzt, vielleicht sogar geküsst, vielleicht sogar mehr. Aber weil der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, hatte sie ihn weggestoßen, den Tanz beendet und ihm gesagt, er solle jetzt gehen, in seine Hütte, weg von ihr. Er hatte den Kopf geschüttelt, die Augen sprühten Feuer …

… BesucherInnen brachten aber noch etwas anderes in die abgeschiedene Hütte, ohne es selbst zu wissen: die Infektionen …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

… ein paar Meter entfernt, als er vor dem Abhang ankam, etwas abseits des Pfades, wo Gras wuchs, ausgerechnet da, wo der große blaue Stein eingegraben war, darauf wartete, dass er aus der Erde befreit wird, nicht weit des Weges, aber bedeckt von Ginster, nahe am Abgrund, nahe am Pfad. Sie kam zu spät. Vitja war zu schnell unterwegs, beseelt noch vom Tanz. Der Rollstuhl stieß an den Stein und Vitja flog kopfüber nach vorne in die Tiefe, breitete noch die Arme aus, aber auch er hatte keine Flügel …

… Der 15. Juni 1978 - der Tag, an dem die Lykows zum ersten Mal Besuch von den GeologInnen erhielten - war der 2. Juni 7486 «nach Adam». Der Kalender wurde dabei ausschliesslich «im Kopf» geführt, mit regelmässigen Überprüfungen nach Gebetsbüchern und Neumondphasen …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

… holte die Laterne, suchte, suchte, hörte in die Nacht, hörte das leise Wimmern und fand ihn schließlich, blutverschmiert, zerschmettert, röchelnd, verbogen. Sie war bei ihm geblieben bis zum Schluss, mehr konnte sie nicht tun, mehr war nicht möglich. Vor Sonnenaufgang entspannten sich seine Atemzüge und er glitt weg, in den ewigen Schlaf, zum Herrn …

… Weder Bären noch Wölfe haben den Lykows die grössten Sorgen bereitet, sondern ein kleines Tierchen namens Burunduk - ein niedliches sibirisches Streifenhörnchen. Doch in den Augen der Lykows war dieses Tierchen «eine Geissel Gottes, schlimmer als der Bär», denn beinahe die Hälfte der Körner aus der Ernte wurde von den Burunduks gefressen. Die Lösung des Problems wurde erst durch den Kontakt nach aussen möglich. Die GeologInnen brachten den Lykows zwei Katzen und einen Kater, die den Burunduks endlich das Handwerk legten …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

… Während des ganzen Tages sieht sie das Spinnenwesen ab und zu auf dem Gelände, die Kreise immer weiter ziehend, bis hin zum Weg, der zum Fluss führt. Sie verrichtet ihr Tagwerk, isst, trinkt, schläft am Mittag ein wenig, betet. Die Buchstaben der Bibel verschwimmen. Sie legt das Buch weg, streckt sich auf ihr Bett, nachdem die Sonne untergegangen ist, und bemerkt die grünen Spinnenaugen, die sich ihr nähern …

… Entfernte Verwandte der Lykows - ebenfalls Altgläubige - meldeten sich nach den zahlreichen Zeitungsberichten und erklärten sich bereit, Agaf'ja aufzunehmen. So verliess Agaf'ja für einige Wochen ihre Klause am Abakan und reiste zu ihren Verwandten in der Siedlung Abasa sowie in ein Frauenkloster am sibirischen Fluss Jenisej. Sie kehrte jedoch in ihre Hütte zurück, denn «fortzugehen gab der Vater seinen Segen nicht». «In der Welt zu leben, ist Sünde» …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

… Am nächsten Tag wacht Agafja auf und sieht das Glühen der Spinne und als sie sich die Augen reibt, erkennt sie, dass mehr von den merkwürdigen Wesen neben dem Bett warten …

… bat Agaf'ja um Heu, ein Fischnetz, eine Motorsäge, Saatgut, Schiesspulver, einen Hund sowie einen Kater und eine Katze. Die Warenverpackungen sollten dabei unbedingt ohne Strichcode sein, denn dieser enthalte dreimal die Sechs, die biblische «Zahl des Tieres» …
(Die Burunduks als Geissel Gottes, WOZ, 31.03.2005)

Die Männer setzen sie auf den Rollstuhl, binden sie fest, schieben sie über das Gelände und rufen wieder und wieder: „Wo ist der große Stein, wo ist er, der Lapislazuli?“

Agafja bekreuzigt sich, schaut zum Himmel. Für einen Moment erinnert sie sich, wo das Gewehr versteckt ist, verscheucht aber den Gedanken. Wie dumm Spinnen doch sind und wie groß Gott, denkt sie.

 

Ja, @Fliege freut mich, dass du deine Gedanken zu dem Text mit mir teilst, gerade auch wegen der formalen, grundsätzlichen Kritik. Ich versuche mal zu sortieren, was du schreibst:

Jetzt ist dieses Perlentauchen aber auch so, dass Dir diese Perle in ihrer wahren Begebenheit bisschen das Wasser abgräbt. Irgendwann haben mich die kursiven Teile mehr abgeholt, als deine dazwischengeschobenen kleinen Prosateilchen.
verstehe ich, der Stoff ist sehr groß, das weiß ich, ihn aber nicht fassen zu wollen, in welcher Form auch immer, wäre ein Frevel. Stell dir den vorliegenden Text als eine Art Exposé vor.
Auf jeden Fall aber hat mich das Leben der Agafja unglaublich interessiert und mich beeindruckt. Allein dafür, dass Du mir ihrer Geschichte gezeigt hast, lohnt sich das Lesen allemal.
Mich berühren Figuren wie Agafja, deshalb schreibe ich über sie
Du willst das nur verorten, dafür reichen sicher paar Worte, aber diese paar Worte öffnen halt eine Tür zu einer weiteren Geschichte und als Leser würde ich sie gern öffnen, um zu erfahren, was sich hinter der Tür befindet. Hoffe, Du weißt, was ich meine.
ist natürlich der Form geschuldet, die Flucht in den Osten, die Hungerjahre, das Leben in der selbstgewählten Einsamkeit; entweder breit angelegt, oder eben angedeutet, hier kann ich nur andeuten
Dieser Satz allein könnte einen Roman füllen. Du hast keine andere Wahl hier, als diese extreme Verknappung - aber ja, nächste Tür. Einmal durchs Schlüsselloch blinzeln und weiter.
ein Klappentext, ich weiß
Ich weiß, Du hast gerade ein ganz anderes Romanprojekt am Wickel, aber den hier!, der wäre es auch wert. Aber so was von. Falls es den nicht schon gibt. Wahrscheinlich gibt es den schon, ...
den gibt es noch nicht, auch nicht auf Russisch und was ihr (du bist ja nicht die erste, die das sagt) gibt mir zu denken, sehr sogar
Hier hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal einen echten, wirklichen Blick auf die Prot. werfen zu können, auf ihr Leben abseits dem, was wir Zivilisation nennen. Vielleicht, weil Du hier mal ein Detail aufgegriffen hast.
wenn man sich vorstellt, wie die Hütte der Lykows im Jahr 1978 aussah, als sie gefunden wurde, ein einziges Fenster, kaum größer als ein DIN-A-4-Blatt, so viele Details, so viel zu erzählen
Fand ich jetzt merkwürdig in Zusammenhang mit der Spinne und ihrer Funktion als Strichcode, als Zeichen für alles, was sie ablehnt, ihr zuwider ist. Das ausgerechnet das jetzt Erregung hervorruft?
das ist der Versuch, sie in die Moderne zu holen. Und die echte Agafja hat genau das gesagt: dass sie sich vor den Strichcodes besonders fürchtet
Weiß nicht, vielleicht wäre das die Geschichte gewesen, die Du zwischen den Wiki-Auszügen hättest in Gänze erzählen können. Weißt was ich meine, eine ganze Geschichte, von mir aus einen einzigen Tag in ihrem Leben und den Rahmen des ganzen Lebens drumrum. Aber auch deine Einschübe sind Versatzstücke, und ich denke, vielleicht wäre das eine Möglichkeit gewesen, eine einzige Geschichte aus dem ganzen Zyklus, im Rahmen, statt dieser vielen Lichtpunkte, die da so losgelöst voneinander nur Schlüssellöcher bleiben.
mm, hättest du hier im Rahmen der Challenge 50 Seiten lesen wollen?
Auch, wenn meine Zeilen bisher nicht so klingen mögen, aber ich finde das mutig von Dir, das auszuprobieren, sehr sogar, zumal im Rahmen einer Challenge. Und ich finde das auch erfrischend, solche Experimente hier zu lesen.
dankeschön, ich mag es gern, die Challenge für Experimente zu nutzen, bzw, die Aufmerksamkeit, die Anregungen, die ich erhalte
Und wenn man sich dann selbst noch auf so paar Zeilen beschränkt, ist kaum lösbar, den Leser emotional abzuholen. Ist wie ein Buffet dann, auf das man aber nur einen Blick werfen darf - oder so :D
und der Bojarski fehlt auch noch :D
danke dir sehr Fliege
viele Grüße
Isegrims

Hallo MRG

egal, was, Leseeindrücke sind auf jeden Fall willkommen, danke dir dafür, dass du dich mit dem Text auseinandergesetzt hast!

Was ich ein bisschen schade fand war, dass ich nicht so richtig in einen Lesefluss gekommen bin. Die Einschübe haben mich immer wieder rausgerissen, also es war eher so ein hin- und her springen in meinem Kopf, weiß nicht, ob du damit etwas anfangen kannst.
ist der Form geschuldet, andererseits musste ich einiges erklären, sonst hätte man das Ungeheuerliche des Stoffes gar nicht verstanden, glaube ich
Ich glaube, was ich mir gewünscht hätte wäre eine Erzählung, die auf den Informationen beruht, aber die Einschübe nicht beinhaltet. Ja, natürlich die Geschichte ist viel zu groß dafür, aber ich habe an die "Sternstunden der Menschheit" von Stefan Zweig denken müssen (ich liebe das Buch).
der Unterschied zu den Sternstunden (eine feine Leseerinnerung) besteht mMn vor allem darin, dass Zweig über Menschen schreibt, über die der Leser schon was weiß, auf was zurückgreifen kann, um das Puzzle zusammenzusetzen
In der jetzigen Fassung kommt es mir etwas so vor, dass du einen Rohdiamanten hast, der noch nicht geschliffen ist.
:Pfeif:wird so sein
Du sprichst ja hier die Mutter an und vielleicht könntest du die Mutter dann noch stärker in Szene setzen. Erwähnen tust du sie ja hier kurz. Ich weiß nicht, ob mein Kommentar Sinn ergibt für dich. Jedenfalls passen die Teile für mich noch nicht so richtig zusammen,
ich könnte die Mutter, den Vater, die Geschwister, die Burunduks in Szene setzen, so viele Möglichkeiten ...

Liebe Grüße auch an dich
Isegrims

 

Hi @Isegrims!

Mensch, da haben sich meine dilettantischen Russisch-Lernversuche vorletztes Jahr direkt gelohnt: Ich konnte den Titel auch ohne Klammern lesen (auch wenn ich trotzdem noch nicht weiß, was damit gemeint ist, aber das finde ich jetzt raus)! Finde die kyrillische Schrift super schön.

Sie legt den blauen Stein vor sich auf den Schrein und nimmt die Bibel zur Hand, streicht über das Leder, spürt die Kratzer auf dem Einband, die Tränen und Schweißtropfen des Vaters, der Mutter, der Geschwister, die es in den Händen gehalten, an sich gedrückt haben.
Streng genommen kann sie ja die Tränen und Schweißtropfen nicht auf dem Leder spüren (höchstens Wellen, die dadurch im Leder entstanden sind). Könntest du alternativ zB einfach ein "erinnert sich an (die Tränen...)" einstreuen, ansonsten müsstest du wahrscheinlich den Satz aufbrechen.
Ansonsten gefällt mir der Einstieg gut, auch dieses Bild, man kann sich die Szene sehr gut vorstellen und sie kreiert eine passende Atmosphäre und trägt viel Information.

er Hohn der Völker …
(Psalm 89, Einheitsübersetzung)
Bei diesem Einschub muss ich direkt an John Steinbecks East of Eden denken; ein bemerkenswertes Buch, in dem die Geschichte um ein Zitat aus der Bibel gesponnen ist. Finde ich also prinzipiell eine gute, spannende Idee.

Die Quellenangabe finde ich hier etwas unpassend. Könntest du die nicht in den Text mit einbauen? ZB vor dem Einschub: "Sie schlägt das Buch auf, Psalm 89, die vergilbten Seiten knistern …" oder so ähnlich. Nur eine Idee.

Einige der Buchstaben sind verblichen, unmöglich zu entziffern, aber Agafja stört sich nicht daran, Worte sind ein steter Fluss, ein Flüstern zwischen den Baumwipfeln und dem Rauschen des Jerinat, Worte, einzelne Sätze, das, was die Eltern, die Geschwister vor langer Zeit gesagt haben, versteckt sich im Holz der Hütte, die sie gemeinsam gebaut haben, Gegenstände nehmen auf, was sie zu fassen bekommen.
Den Satz hätte ich nach "Jerinat" durch einen Punkt getrennt.
Bei dem fetten Teil springt mein Verstand kurz an, fragt sich, wie das möglich ist. Aber ich mach ihn dann wieder aus und finde es eine schöne Vorstellung, dass zB ein Haus, in dem man lebt, einen Teil der darin Lebenden aufnimmt.

Forschungsstation hundert Werst
Verstehe/kenne ich nicht.

Las(z)urstein …
(Wikipedia, Lapislazuli)
Okay, hier wird es schwieriger mit Quelle in den Text einbauen...

warst klein wie eine Erbse und süß wie eine Himbeere, hört sie die Mutter sagen.
Schön :)
(Was mir auffällt: Hier schreibst du "hört", weiter oben bei der Aussage des Vaters schreibst du "hörte".)

was die Menschen Zivilisation, was Agajfja Sodom und Gomorrha nennt

kochten Suppe aus Gras, aus Baumrinde und kauten solange am Leder ihrer Schuhe, bis sie sich einbildete, satt zu sein, bis Gott zu ihnen sprach
Hat nur sie es sich eingebildet? Ansonsten fehlt da ein "n"

in Hotelzimmern geschlafen, die in großen, steingefügten Gebäuden wie eine Ansammlung von Bienenwaben wirkten.
Gefällt mir.

Wasser, das auf der Haut angelangt, grausamen Widerstand hervorrief
Das Bild leuchtet mir nicht so ganz ein... Wie kann Wasser einen Widerstand hervorrufen?

vermutlich an Hunger gestorben …
Eine "interessante" Vorstellung, dass jemand an Hunger stirbt, bevor es die Unterernährung verursacht.

wie ein Soldat in exakt gerader Bahn auf und ab, ohne sich ihr jedoch zu nähern …

… losrennen, blitzschnell auf ihren mannigfachen Beinen, sich einfach in Luft auflösen, sobald sie Gefahr

Hier verstehe ich den Sinn der Leerzeile nicht so ganz, denn die beiden Teile gehören doch zusammen, sind nicht durch einen Einschub getrennt.

als wollte die Spinne notieren, was sie sieht, vermessen …
… eine merkwürdige Erregung,
Hier hast du zB keine Leerzeile drin..

blutverschmiert, zerschmettert, röchelnd, verbogen.
Bei verbogen muss ich direkt an Metall denken. Mir fällt allerdings auch kein besseres Wort ein. Verrenkt vielleicht?

schläft am Mittag ein wenig
schläft ein wenig am Mittag?

streckt sich auf ihr Bett
"streckt sich auf ihrem Bett" passt besser finde ich, denn sie streckt sich ja nicht auf ihr Bett (drauf), sondern legt sich drauf und streckt sich dann.

Am nächsten Tag wacht Agafja auf und sieht das Glühen der Spinne und als sie sich die Augen reibt
Erinnert an Cormac McCarthy, der gerne mal ein paar Kommata weglässt... Ich denke da sollte normalerweise eins rein, hinter Spinne, oder?

entdeckt eine winzige Stelle, einen Punkt, kaum zu erkennen, der genau so aussieht, wie die Zeichen, die in den Städten an allen Produkten angebracht sind, die irgendwo verkauft werden, Joghurtbecher, Musikabspielgeräte, Schälchen, Flaschen, Kleidungsstücke, einfach an allem, was man Agafja auf ihrer Reise als die Errungenschaften der modernen Zeit präsentiert hatte. Sie zittert, lässt die Spinne beinahe fallen, denn sie weiß, was das Zeichen, die Ziffernfolge bedeutet, der Teufel, der Antichrist, Beelzebub
Bei der Erwähnung des Strichcodes und der Zahl des Teufels kurz vorm Ende springe ich nochmal zu dieser STelle zurück; denn mir wird nicht ganz klar, was dieser winzige Punkt sein soll - ein Strichcode, EAN code? Aber wieso ist es ein Punkt? Ist das so, bei so Plastikspielzeug?

Das Ende fand ich gut und tragisch zugleich - die Symbolik passt gut, ihr Vergleich der Männer mit der Spinne, als Repräsentative der bösen Zivilisation...aber Gott ist größer...gefällt mir!

Anfangs war ich etwas skeptisch was die Struktur angeht, fand es etwas abgehackt und habe nebenbei überlegt, ob man nicht besser einen flüssigen Text draus macht. Aber ich hab mich drauf eingelassen und fand es dann auch spannend, zu lesen, was mit ihr passiert, habe die Einschübe als unterstützende Infor gesehen. Sehr interessant, wie du das gemacht hast, kreativ und gut recherchiert! Mal was anderes.

Viele Grüße,
rainsen

 

Guten Abend @rainsen

klasse Kommentar, hat mir ein paar Impulse gegeben. Gerade die unterschiedlichen Blickwinkel auf den Text, helfen ungemein.
Einige der von angemerkten Änderungsvorschläge, setze ich auf die Liste. Ich möchte den Text bald noch mal grundlegender bearbeiten.
Vielen Dank für das genaue Lesen!

Finde die kyrillische Schrift super schön.
finde ich auch
Könntest du alternativ zB einfach ein "erinnert sich an (die Tränen...)" einstreuen, ansonsten müsstest du wahrscheinlich den Satz aufbrechen.
mm, nein, die Assoziation funktioniert doch, und ein Einschub würde mMn den Rhythmus stören
Ansonsten gefällt mir der Einstieg gut, auch dieses Bild, man kann sich die Szene sehr gut vorstellen und sie kreiert eine passende Atmosphäre und trägt viel Information.
das ist gut
Bei diesem Einschub muss ich direkt an John Steinbecks East of Eden denken; ein bemerkenswertes Buch, in dem die Geschichte um ein Zitat aus der Bibel gesponnen ist. Finde ich also prinzipiell eine gute, spannende Idee.
eine der Möglichkeiten, einem längeren Text dann Struktur zu geben
Die Quellenangabe finde ich hier etwas unpassend. Könntest du die nicht in den Text mit einbauen? ZB vor dem Einschub: "Sie schlägt das Buch auf, Psalm 89, die vergilbten Seiten knistern …" oder so ähnlich. Nur eine Idee.
stimm, pass aber nicht zum Konzept dieses Textes
Verstehe/kenne ich nicht.
Werst ist die alte russische Entfernungseinheit
(Was mir auffällt: Hier schreibst du "hört", weiter oben bei der Aussage des Vaters schreibst du "hörte".)

Das Bild leuchtet mir nicht so ganz ein... Wie kann Wasser einen Widerstand hervorrufen?
ja, ich muss den Text noch mal bearbeiten, wird passieren, die nächsten Tage
Eine "interessante" Vorstellung, dass jemand an Hunger stirbt, bevor es die Unterernährung verursacht.
genau genommen hast du recht :D
Hier verstehe ich den Sinn der Leerzeile nicht so ganz, denn die beiden Teile gehören doch zusammen, sind nicht durch einen Einschub getrennt.
auch so was, stimmt
Bei der Erwähnung des Strichcodes und der Zahl des Teufels kurz vorm Ende springe ich nochmal zu dieser STelle zurück; denn mir wird nicht ganz klar, was dieser winzige Punkt sein soll - ein Strichcode, EAN code?
so genau schaut die nicht hin, sie vermutet das Teufelszeichen
Das Ende fand ich gut und tragisch zugleich - die Symbolik passt gut, ihr Vergleich der Männer mit der Spinne, als Repräsentative der bösen Zivilisation...aber Gott ist größer...gefällt mir!
:Pfeif:
Aber ich hab mich drauf eingelassen und fand es dann auch spannend, zu lesen, was mit ihr passiert, habe die Einschübe als unterstützende Infor gesehen. Sehr interessant, wie du das gemacht hast, kreativ und gut recherchiert! Mal was anderes.
hat sich nicht jeder darauf eingelassen, aber doch einige, ist so, wenn die Struktur den Leseerwartungen nicht ganz entspricht. Umso besser, dass es bei dir geklappt hat.

viele Grüße vom Rande des Sturms
Isegrims

 

Lieber @Isegrims,

jetzt will ich kommentieren und gucke mir stattdessen ein Youtube-Video nach dem Anderen von Agafja an. Faszinierend, ihr Leben dort in der russischen Wildnis, ihre Weltsicht, ihre Stärke, vor allem ihr Gesicht. Ich finde die collagenartige Form, die du gewählt hast, passend, um sich über mehrere Kanäle dieser Frau anzunähern. An verschiedenen Punkten hast du dann das reale Leben von Agafja, bzw. das, was man von ihr weiß und was sie selber erzählt hat verlassen und fiktive Details eingebaut, die Spinne z.B. oder dass der Vitja mit dem Rollstuhl in den Abgrund gestürzt ist. In Wirklichkeit ist das der Geograph, der noch lange da neben ihr in der Nachbarhütte gelebt hat, oder? Ich glaube, ich mag die Mischung einfach nicht. Mir wäre es lieber, wenn es entweder eine ganz ausgedachte Figur wäre, die du anders nennst und deren Geschichte von Agafjas Schicksal inspiriert ist. Oder eben Agafja, aber bei dem bleibend, was man wirklich weiß. In dem Fall würden sich die erzählerischen Teile eben der Information unterordnen, sie bereichern, im anderen wärst du ganz frei. Aber ich erinnere mich, dass du so etwas auch schon mit Goethe mal gemacht hast und vielleicht bin ich da auch einfach zu engstirnig.

Auf dem Rollstuhl, den sie aus Brettern und zwei Reifen, (gebaut haben?) die sie bei den Leuten aus der Forschungsstation hundert Werst nach Westen geholt haben, liegt die warme Decke ihres Bruders.
Fehlt da nicht was?
… weg von den Menschen, die sich gegenseitig umbringen, weg von den Lastern, der Gier der Städte. Die Bolschewiki wollten das Gute und trotzdem mordeten sie, weil sie nicht an Gott glauben, weil sie an gar nichts glauben, hörte sie ihren Vater sagen. Wir mussten weg, Agafja, wir mussten. Du hast damals geweint, warst klein wie eine Erbse und süß wie eine Himbeere, hört sie die Mutter sagen. Lange waren sie gewandert, hatten gehungert und die Schuhe abgelaufen, erinnert sie sich. Bis sie in die Baikal-Region gelangten, weitab von anderen Menschen, weit weg von dem, was die Menschen Zivilisation, was Agajfja Sodom und Gomorrha nennt, das Reich des Antichristen …
Schöne Stelle, auch kommt mir deine isegrimsche Formulierung hier ganz passend und behutsam eingefügt vor.
Dort gab es Wasserhähne, Duschköpfe, warmes, kaltes, laues Wasser, das auf der Haut angelangt, grausamen Widerstand hervorrief und nach Jauche schmeckte. Kein Wasser war vergleichbar mit dem des Jerinat, keins. Man muss zuhause bleiben, wenn man nicht krank werden will.
auch ein toller Satz, der Rythmus, die Formulierung mit dem grausamen Widerstand
Als sie von ihrer Reise zurückkam, war ihr Vater gestorben und sie hatte verflucht, was die Menschen Zivilisation nannten.
Darf sie fluchen?
… eine merkwürdige Erregung, fast so wie an den Abenden, wenn es kribbelt und zwickt und sie sich zwischen den Beinen streichelt, sich süßen Gedanken hingibt, an Männer denkt und den Stab aus Glas benutzt, den sie in Sankt Petersburg gekauft hat …
Das glaube ich einfach nicht, dass sie sich einen Stab aus Glas in Sankt Petersburg gekauft hat.
so plötzlich gekommen wäre, wenn sie sich erst an sein schiefes Grinsen, den rauen Bart, das rote Gesicht, den ausgemergelten Körper, die Spinnenfinger gewöhnt hätte, dann, ja dann, hätte sie ihn nicht zurückgewiesen, weitergetanzt, vielleicht sogar geküsst, vielleicht sogar mehr. Aber weil der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, hatte sie ihn weggestoßen, den Tanz beendet und ihm gesagt, er solle jetzt gehen, in seine Hütte, weg von ihr. Er hatte den Kopf geschüttelt, die Augen sprühten Feuer …
Die Agafja im Film betont jedenfalls, dass man in die Hölle kommt, wenn man tanzt.
Wie dumm Spinnen doch sind und wie groß Gott, denkt sie.
Dieser Schlusssatz gefällt mir wiederum. Denn der Blick, den Agafja auf die "weltlichen Dinge" hat, ist schon horizonterweiternd und das spiegelt sich hier für mich.

Immer spannend, deine Experimente, lieber Isegrims, trotz meiner Vorbehalte.

Liebe Grüße von Chutney

 

Liebe @Chutney

danke für deinen Besuch und die Glühwürmchen auf den Text, auf den man sich einlassen muss, gerade weil er in dieser hybriden Form präsentiert wird.

jetzt will ich kommentieren und gucke mir stattdessen ein Youtube-Video nach dem Anderen von Agafja an. Faszinierend, ihr Leben dort in der russischen Wildnis, ihre Weltsicht, ihre Stärke, vor allem ihr Gesicht.
ehrlich gesagt: was kann ich mehr wollen, was kann Literatur mehr wollen, als den Blick ins weite oder ins nahe richten
Ich finde die collagenartige Form, die du gewählt hast, passend, um sich über mehrere Kanäle dieser Frau anzunähern. An verschiedenen Punkten hast du dann das reale Leben von Agafja, bzw. das, was man von ihr weiß und was sie selber erzählt hat verlassen und fiktive Details eingebaut, die Spinne z.B. oder dass der Vitja mit dem Rollstuhl in den Abgrund gestürzt ist. In Wirklichkeit ist das der Geograph, der noch lange da neben ihr in der Nachbarhütte gelebt hat, oder?
ja, genau von dem habe ich mich inspirieren lassen, er hat eine Beiprothese aus Holz
Ich glaube, ich mag die Mischung einfach nicht. Mir wäre es lieber, wenn es entweder eine ganz ausgedachte Figur wäre, die du anders nennst und deren Geschichte von Agafjas Schicksal inspiriert ist. Oder eben Agafja, aber bei dem bleibend, was man wirklich weiß.
Die Diskussion haben wir schon mal geführt, erinnerst du dich? Ich glaube, dass im Grunde jede Figur fiktiv ist, die ausgedachte und die reale. Ist es nicht so, dass jeder seine eigene Legende erzählt, ein Goethe, eine Agafja, ein Isegrims, eine Chutney? Wir schöpfen aus Fiktion und Wirklichkeit, auch wenn wir scheinbar fiktive Figuren erfinden, denke ich.
In dem Fall würden sich die erzählerischen Teile eben der Information unterordnen, sie bereichern, im anderen wärst du ganz frei. Aber ich erinnere mich, dass du so etwas auch schon mit Goethe mal gemacht hast und vielleicht bin ich da auch einfach zu engstirnig
Das von dir beschriebene Konzept hat natürlich was, aber wäre mir zu wenig.
Schöne Stelle, auch kommt mir deine isegrimsche Formulierung hier ganz passend und behutsam eingefügt vor.
auch ein toller Satz, der Rythmus, die Formulierung mit dem grausamen Widerstand
dankeschön, über den grausamen Widerstand habe ich lange nachgedacht
Darf sie fluchen?
Das glaube ich einfach nicht, dass sie sich einen Stab aus Glas in Sankt Petersburg gekauft hat.
Die Agafja im Film betont jedenfalls, dass man in die Hölle kommt, wenn man tanzt.
Das sind Details, die ich bewusst eingefügt habe, auch um die Figur nicht ganz so einförmig zu gestalten. Keiner ist komplett heilig.
Immer spannend, deine Experimente, lieber Isegrims, trotz meiner Vorbehalte.
Das freut mich sehr.

Tja, die oben erwähnten Glühwürmchennächte, die wären was! Unter Freunden, bei guten Gesprächen, gerne unter Wortkriegern.

Liebe Grüße
Isegrims

 

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