- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
03:17
Warum zum Teufel war das Handy an?
Mein Gehirn war voll träger Schwere als ich die Augen aufschlug. Ich blinzelte nach der Digitalanzeige meines Weckers.
03:17 leuchtete da. Und daneben auf meinem Nachttisch rumpelte der Vibrationsalarm meines Mobiltelefons und das neonblau leuchtende Gerät gab laute Klingeltöne von sich. Doch nicht etwa die Arbeit... aber ich hatte doch gar keinen Dienst.
Ich nahm das Handy und warf einen Blick auf das Display.
Ben.
Scheiße. Nicht schon wieder. Heute fehlte mir dazu echt der Nerv.
Nach ein paar Sekunden gab ich nach.
»Ben, Scheiße, du kannst nicht einfach...«
»Du musst mir helfen, Jo. Ich hab Mist gebaut. Echt, ich hab Scheiße gebaut. Große Scheiße, Mann.« Seine Stimme klang verwaschen und unklar, das Knistern war überdeutlich.
»Hast du getrunken?«
»Nein - Ja. Ich hab was getrunken.«
»Ich hab keine Lust, mal wieder deine Begleitung nach Hause zu spielen und dir übers Handy die Zeit zu vertreiben. Ich will schlafen. Weißt du, wie spät es ist? Ich hab heute von Sieben bis Acht Uhr abends gearb...«
»Ich... Du musst mir helfen, Jo, ich hab große Scheiße gebaut.«
»Was denn...?«
»Ich... ich... Jo?«
»Ben?«
»Ja? Ich kann doch so tun, als wäre nichts gewesen. Als hätte es niemand mitgekriegt. Vielleicht hat es auch niemand mitgekriegt. Vielleicht weiß niemand davon, nur ich. Und sonst keiner. Das wäre doch gut so, ja, es ist einfach nicht passiert.« Pause. »Es ist nichts passiert.«
»Was redest du da eig...?«
Er hatte aufgelegt.
Ich spürte irgendetwas in meinem Kopf gegen die Schädeldecke hämmern, ganz sanft zuerst, aber dann immer stärker. Immer der selbe Mist mit ihm.
Irgendwo musste doch meine Thermoskanne sein. Mit dem Tee, den ich vor dem Zubettgehen gemacht hatte. Orangengeschmack oder so ähnlich. Vorgestern erst im Teeladen gekauft und bisher nicht probiert.
Wie lange hatte ich nun geschlafen? Zwei Stunden?
Das Dröhnen in meinem Kopf wurde stärker.
Paracetamol würde meine...
Das Handy klingelte erneut.
»Jo?«
»Ben, was soll das alles? Wo bist du eigentlich?«
»Am Bahnhof, irgendwo am Bahnhof. Es ist kalt.«
»Das glaube ich gern...«
»Meine Jacke ist noch bei Anna. Ich habe sie liegen lassen. Vorhin.«
»Du hast deine Jacke liegen lassen?« Ich schob den Vorhang zur Seite und sah durch das Fenster nach draußen. Eine frische Nacht mit klarem Himmel. Es musste mächtig kalt sein da draußen. »Warum lässt du einfach so deine Jacke liegen? Habt ihr gestritten?«
»Irgendjemand wird es mitkriegen, Jo.«
»Was mitkriegen?« Ich hatte den Tee gefunden und goss etwas in meinen Becher. Sofort war ein Hauch von Orange in meiner Nase.
»Irgendjemand hat es gehört. Bestimmt. Irgendjemand hört immer alles. Irgendjemand ist immer da.« Etwas war in seiner Stimme, neben dem Alkohol. Es war - Wut. »Man wird verpfiffen. Es wäre viel einfacher, wenn man manchmal einfach nur alleine wäre. Nicht? Einfach alleine. Wenn man tun könnte, was man will... was man will.«
»Ben, es ist kalt da draußen. Geh zu Anna zurück und rede mit ihr, Herr Gott noch mal.«
»Ich will nicht. Vielleicht... vielleicht liegt sie immer noch da.«
»Wer liegt immer noch da?« Etwas war gerade in meinen Magen geschossen.
»Sie liegt vielleicht immer noch da, Jo.«
»Was hast du getan?«
»Ich... ich hab sie liegen lassen.«
Ich sprang auf und lief in meiner Wohnung auf und ab. »Sie liegen lassen? Wo? Was hast du getan? Ben...? Was...?«
»Machst du dir jetzt Sorgen?«
»Ja, natürlich mache ich mir Sorgen, was hast du getan?«
»Ich... soll ich zur Wohnung zurückgehen?«
»Was hast du getan? Ben, bitte, sag mir, was du getan hast.«
»Keine Polizei, Jo, bitte, keine Polizei.«
»Spinnst du jetzt völlig?« Ich hatte mich wieder hingesetzt. Und das wurde mir erst in diesem Moment bewusst.
»Es ging so schnell, ich habe getrunken... getrunken... viel zu viel getrunken. Ich habe... ich weiß nicht, es ging so schnell... sie hat geschrieen und nicht mehr aufgehört... ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe, Jo. Sie lag einfach da. Und ich konnte nichts tun. Ich hab... ich hab...« Seine Stimme wurde weinerlich. »Es ging so schnell, Jo, ehrlich, ich wollte das nicht. Ich will meine Hände nicht ansehen, Jo, ich will meine Hände nicht ansehen...«
»Was ist passiert?« Hatte ich das eben gesagt oder nur gedacht?
»Sie lag einfach da, Jo. Sie lag einfach da. Mit dem Gesicht... ich weiß nicht, was passiert ist... sie hat immer rumgeschrieen, immer muss sie rumschreien. Ich verstehe das nicht, es geht mir nicht in den Kopf.«
»...«
»Jo? - Jo? - Jo?!«
»Ja, ja, ich bin noch da.«
»Soll ich zurückgehen?«
»Ich...«
»Jo, mir ist kalt.«
»Du musst zurückgehen, Ben.«
»Ich kann das nicht.«
»Du musst zurückgehen.«
»Ich... kann das nicht. Ich...«
Ich konnte hören, wie er sich in Bewegung setzte. Er murmelte unverständliche Dinge, aber vielleicht war ich nur nicht in der Verfassung, sie zu verstehen.
Ich starrte auf die Wand vor mir, auf die weiße, nackte Wand, ich hörte das Summen von meinem Kühlschrank und fragte mich, warum er jetzt in diesem Moment summte. Ausgerechnet jetzt.
Draußen war es still und diese Stille war mir fremder als sonst.
»Jo?«
Seine Stimme riss mich aus der Lethargie, ich hatte das Handy fest gegen mein Ohr gepresst, so fest, dass es schmerzte.
»Ja?« Meine Stimme war nicht mehr meine Stimme.
»Jo, Scheiße, Mann, Jo, sie ist weg.«
Ich begriff nicht.
»Sie ist weg, Jo, ich weiß nicht, was ich machen soll, sie ist weg, einfach weg, sie war doch vorhin noch hier gelegen, aber nun ist sie weg. Anna... Anna! Einfach weg.«
Er war wieder in Annas Wohnung zurückgekehrt. Endlich.
»Ben, wir müssen etwas tun, wir müssen etwas tun. Beruhig dich erst mal. Vielleicht ist sie schwer verletzt und liegt irgendwo in der Wohnung. Wir müssen einen Krankenwagen...«
»Ich kann sie nirgends sehen. Oh mein Gott, Jo, meine Hände, ich habe meine Hände angesehen. Meine Hände... Jo, meine Hände.«
»Was ist mit deinen Händen?«
»Der ganze Teppichboden... Jo, wie soll man denn das wieder sauber kriegen?«
»Ben, Scheiße, reiß dich zusammen, du musst Anna finden.«
»Jo, ich... sie ist weg. Sie ist weg. Und überall, überall das viele Blut. Wo ist sie hin? Jo, was soll ich tun? Ich wollte ihr nie weh tun, hörst du. Nie weh tun. Was soll ich tun? Ich habe nur noch dich, hörst du? Nur noch... dich.«
Es piepte und die Verbindung brach ab.
Entweder der Akku oder Ben hatte aufgelegt.
Das Telefon lag in meiner Hand.
Und ich dachte an gemeinsame Abende, an Bier, an Lachen, an raue Lippen, dachte an verschwitzte T-Shirts im Sommer, dachte an die Rolling Stones, an die Beatles, dachte an Weinabende, an Kartenspiele bis spät in die Nacht, an Kinofilme, an Gespräche, an Lagerfeuer, an Spanien, Portugal, Holland, Schweden, Frankreich, Belgien, Irland und Afrika, ich dachte an leere Versprechen, an Treue, dachte an Sophie, Lena und Claudia, an den Geschmack von gegrilltem Fleisch, an den Geruch von Schweiß in Fitnessstudios, an weiße Strände und Strände aus Stein, an salziges Wasser, an dummes Gerede und an blöde Witze.
Auf dem Display vor mir konnte ich ganz deutlich die Ziffern erkennen, die ich soeben wie von selbst eingetippt hatte.
110.
Aber ich drückte nicht auf den Wählknopf.
Noch nicht.
Ich nehme meinen Mantel.