100 Jahre Frieden
„Meine Damen und Herren, liebe Mitbürger!“ Tosender Applaus brandete Gavin B. Williams entgegen. Er nickte verhalten lächelnd in die Menge und schielte mit einem Auge auf die Rede, die vor ihm auf dem Rednerpult lag. Ach du meine Güte, was für ein Stuss. Er würde ein ernstes Wort mit seinem Assistenten reden müssen.
„Freudentränen steigen mir in die Augen, wenn ich daran denke, weshalb wir hier zusammengekommen sind…“
Das Klatschen tausender begeisterter Hände ähnelte dem Geräusch der sich drehenden Rotorblättern eines Hubschraubers, der gerade im Tiefflug über den Dschungel raste. Ein dreckiges braunes Band schlängelte sich unter ihm entlang. Der Fluss bildete die Grenze zwischen zwei Nachbarländern, die bereits seit Jahrhunderten im Clinch lagen und immer wieder Kämpfe vom Zaun rissen. Der Pilot starrte nach unten und suchte nach einem ganz bestimmten dunklen Punkt im Wasser.
Der kleine Pedro klammerte sich an seinen Vater fest. Die warme braune Brühe, durch die sie waten mussten, ging seinem Vater bis zum Hals. Pedro lachte fröhlich und paddelte mit den nackten Füßen im Wasser. Er freute sich auf dieses große Abenteuer schon seit Wochen. Am anderen Ufer warteten seine Mutter und der große Bruder, der schon vor Monaten über den Fluss geschwommen war. Pedro zitterte vor Aufregung und Hunger. Er freute sich auf seine Mama und noch mehr freute er sich auf die Pfannkuchen mit Sirup, die sie ihm versprochen hatte, bevor sie fort ging. Wie ein riesiger plumper Vogel brach aus dem Wald plötzlich ein Hubschrauber. Noch nie hatte Pedro einen so großen Hubschrauber so nah gesehen.
Übermütig winkt er ihm zu. Sein Vater aber schreit entsetzt auf, gibt seinem Sohn irgendeinen unverständlichen Befehl und taucht unter. Die Hand des kleinen Jungen rutscht von der Schulter des Vaters ab und die Strömung des Flusses reißt ihn mit sich fort. Gefährliche Wirbel ziehen ihn in die Tiefe und wie aus weiter Ferne hört er noch das Knattern der Maschinengewehre.
„Wenn ich zurückdenke empfinde ich vor allem eines: Dankbarkeit. Denn noch meine Großeltern konnten von einer Welt ohne Krieg nur träumen. Doch sie haben es geschafft. WIR haben es geschafft! Eine friedliche Welt für unsere Kinder! Eine Welt in der sie ohne Angst vor dem Morgen aufwachsen dürfen.“ Die Menge johlte fanatisch. Eine Mutter hielt ihr Baby hoch und hundert andere taten es ihr nach.
In einer mittelprächtigen Wohnung in Europa stand zur selben Zeit ein Mann am Fenster. Sein Hemd spannte sich über dem Wohlstandsbauch und graue Haare durchsetzten den einst rabenschwarzen Bart. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und starrte ins Nichts. Eine Frau betrat den Raum und schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Ach Liebling. Was geht dir nur wieder durch den Kopf?“ Der Mann lächelte nur und gab ihr einen Kuss auf die Wange. In dem Regal, dass hinter dem Sofa seinen Platz hatte, standen seine Werke fein säuberlich aufgereiht und nach Fachgruppen sortiert. Ratgeber, Romane, Artikel. Vieles hatte sich im Laufe seines Lebens angesammelt und seinen Weg zum Schriftsteller geebnet. Doch sein neuestes Buch machte ihm Kopfzerbrechen. Er hätte es sich denken können, dass kein Verlag so etwas herausgeben würde. Ein Werk, das die Schwachstellen im System des Weltfriedens aufdeckte, kam einer stillen Revolution gleich. Sein Verleger, der ihn seine ganze Karriere über begleitet hatte, wollte seitdem nichts mehr von ihm wissen. Und doch war er sich sicher, mit diesem Buch das Richtige getan zu haben. Er erzählte seiner Frau von seinen Gedanken und wie immer lächelte sie und beruhigte ihn. Wie sehr er sie doch liebte.
„Komm mit in die Küche. Ich mixe dir deinen Lieblingsdrink. Der bringt dich auf andere Gedanken, Liebling.“ Er sah ihr zu, als sie mit geübten Griffen die Zutaten abmaß und zusammenmischte und ihm den Drink in die Hand gab. Er setzte die Lippen ans Glas und trank. Als er den unscheinbaren Geruch von Bittermandeln wahrnahm, war es schon zu spät.
„Hier stehen wir heute. Kameradschaft und Disziplin stellen zwei Grundpfeiler unserer Gesellschaft dar. Aber auch die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft wurde uns zum Credo.“
Bob kontrollierte noch einmal seine Waffe. Er wusste was er zu tun hatte. Er Bob J. Jonson würde heute Geschichte schreiben. Er würde derjenige sein, von dem in den Geschichtsbüchern der Zukunft geschrieben stehen würde: „An diesem Tag wurde der gefährliche Terrorist Basram von einem Soldaten der Eliteeinheit „White Dove“ erschossen.“ Er, der dumme kleine Bobby aus Wyoming, von dem alle dachten, dass aus ihm nie etwas Anständiges werden würde, würde als wahrer Held nach Hause zurückkehren. Nur noch mit halbem Ohr hörte er auf die Worte seines Einsatzleiters. Er kannte jeden Punkt in der Einsatzplanung schon lange auswendig. Basram sollte in seinem eigenen Haus überrascht werden. Spitzel hatten die Armee darüber informiert, dass Basram heute eine Geburtstagsparty für seine Tochter geben würde. Ein idealer Zeitpunkt. Bob und seine Kameraden bezogen Stellung. Das Gewehr im Anschlag kroch Bob über das niedrige Dach des Hauses und lockerte einige Schindeln. Der Raum lag direkt unter ihm. Zwei kümmerliche Luftballons kullerten über den mit Teppichen bedeckten Lehmboden und an die 20 Kinder saßen im Kreis um ein Tuch herum, auf dem sich Kuchen, Süßigkeiten und Geschenke stapelten. Eine Tür öffnete und schloss sich wieder. Das kleine Mädchen mit der selbst gebastelten Krone auf dem Kopf sprang auf und hüpfte lachend auf den Mann zu, der gerade das Haus betreten hatte. Bob sah durch das Fernglas an seinem Gewehr. Kein Zweifel, das war Basram. Er stand perfekt in der Schusslinie. Jetzt oder nie!
Aber er hat das Kind auf dem Arm, meldeten sich unerwünschte Gedanken. Jetzt oder nie, verdammt noch mal! Bob zielte und schoss. Lautlos fand die Kugel ihren Weg. Basram sackte vornüber und kreischend stürmten die kleinen Geburtstagsgäste aus dem Haus um dort von den wartenden Truppen in Empfang genommen zu werden. Bob lag auf dem Dach und starrte in die Tiefe. Dort lagen Basram, der gefährlichste Terrorist der Welt, und seine Tochter wie Inseln in einem Meer aus dunkelrot fließendem Blut. Bob starrte in die toten Augen des Mädchens. Sie sah ihn mit großen schwarzen Augen an, als wolle sie ihn nach dem Grund für diesen Schuss fragen. Unter ihm jubelten seine Kameraden, riefen ihm zu, dass er seine Aufgabe gut gemacht hatte und dass er dafür mindestens eine Auszeichnung bekommen würde. Doch Bob starrte nur hinunter auf das kleine Mädchen, drehte das Gewehr herum und zielte genau.
„100 Jahre Frieden! Kein Weg war uns zu steil und keine Aufgabe zu groß um das zu erreichen, wovon Millionen Menschen vor uns geträumt haben! Heute, meine lieben Freunde, können wir wahrhaftig sagen: Ja! Weltfrieden ist möglich!“ Gavin B. Williams badete im Applaus, sammelte seine Blätter ein und überließ dem nächsten Redner die Bühne der Politik.