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124,1 Minuten im Jahr
124,1 Minuten im Jahr (editiert )
Herr Gronefeld konnte nicht denken, sein Kopf war wie leergefegt.
Er fühlte dafür umso intensiver: Der Gesichtsaudruck des Mannes, der breitbeinig vor ihm stand, bereitete ihm Entsetzen. Nackte, lähmende Angst.
Herrn Gronefelds Augen wollten schier aus den Höhlen quellen, während er sein Gegenüber ungläubig, ja völlig fassungslos, anstarrte. Sein Mund formte vergeblich Worte, stammelte Unverständliches. Die Sekunden schienen sich ins Unendliche zu dehnen, während eine Blaupause der Realität nach und nach in seinem Hirn Gestalt annahm und ihn begreifen ließ…
Wie konnte das sein? Ein Alptraum. Es musste einfach ein Traum sein. Die unerträgliche Wahrheit überstieg, was sein messerscharfer Verstand zu fassen vermochte – oder zu erfassen gewohnt war. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und ließ das Blut in seinen Ohren rauschen.
Es konnte unmöglich sein. Es mußte einen Ausweg geben.
Während das Adrenalin gewaltsam durch seine Adern pulsierte und ihn langsam aber sicher in eine handfeste Panik versetzte, die jedes klare Denken unmöglich machte, sah er sich gehetzt um.
Alle Türen schienen fest verschlossen. Als wüssten sie haargenau, dass es ruchlose Übeltäter und Kriminelle aufzuhalten gab. Sie zurückhalten und der gerechten Strafe zuführen, das schien ihr einziger Zweck.
Nein, es gab keinen Ausweg.
Wie hatte es nur soweit kommen können?
Er war an diesem schicksalhaften Morgen um 7:30 aufgestanden, wie er es seit 16 Jahren an jedem Morgen eines Werktages tat.
Nachdem er bedächtig in seine Pantoffeln geschlüpft war, nahm er seinen gebügelten Morgenmantel vom Haken an der Tür und zog ihn über seinen seidenen Pyjama an, während er durch den Flur zum Badezimmer ging.
Während er die Zahnbürste in seinen Mund schob, drehte er die kleine Elmex-Sanduhr um. Zufrieden betrachtete er anschließend, wie der feine Sand mit immer gleicher majestätischer und würdevoller Präzision durch die Verengung in der Mitte des Glases rieselte. Währenddessen putzte er sich die Zähne.
Danach ging er die sieben Stufen von seiner Wohnungstür zur Haustür hinunter und zog die Zeitung aus dem Briefkasten.
Typisch für das Sommerloch gab es nur mäßig interessante Neuigkeiten, erkannte Herr Gronefeld mit einem Blick, als er treppaufgehend die Schlagzeilen überflog. Zum Beispiel hatte - nach jahrelangem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen und desaströsen Zuständen in der Wirtschaft - die CDU sich immerhin einen Ruck gegeben und forderte endlich: Klarheit.
„Nun denn“, dachte Herr Gronefeld befriedigt, „das wurde aber auch Zeit, dass da mal jemand hart durchgreift.“
Sein Toast, den er zuvor in den Toaster gesteckt hatte, sprang heraus, als er wieder in der Küche ankam. In den nächsten 18 Minuten genoss er sein Frühstück – zwei Scheiben Toast mit etwas Butter, eine Tasse Tee und die Seite 1 der Zeitung – und zog sich anschließend an. Pünktlich um 8 Uhr verließ er, makellos gekleidet, das Haus.
Er trug wie immer einen Anzug, heute einen grauen Zweireiher. Dazu ein gestärktes blütenweißes Hemd und eine dezente und geschmackvolle Krawatte, farblich abgestimmt zu seinem Brillengestell.
Gewöhnlich fuhr er mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit, da er sich scheute sein gepflegtes Auto vor dem Amt abzustellen. Es war nämlich schön des Öfteren zu Übergriffen auf sein unschuldiges Auto gekommen. Wußte der Himmel warum es eine solche Anziehungskraft auf frustrierte Menschen ausübte. Diese kühlten leider regelmäßig ihr Mütchen daran, bis er sich schließlich entgültig entschloss, sein Fahrzeug aus dem Gefahrenbereich zu halten. Er plante demnach auch heute die Bahn zu nehmen.
Es war ein wunderschöner lauer Morgen. Die kühle Luft hatte einen leichten, frischen Geruch und der Tau der auf den Wiesen des Stadtparks verdunstete, brachte eine angenehme, süße Note von frisch gemähtem Gras dazu. Die Morgensonne warf dazu ihr spezielles Licht auf das Kopfsteinpflaster der Straße, und schuf einen märchenhaften Moment.
Herr Gronefeld gelang es jedoch auf seinem Weg zur Haltestelle der Straßenbahn all dies nicht zu bemerken, da er damit beschäftigt war, die Wurzel aus 22373 auszurechnen.
Seit er sich nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren musste, war es eine seiner liebsten Angewohnheiten, sich morgens, auf seinem Weg zur Arbeit, mit einer kleinen Rechenaufgabe auf sein Tagewerk vorzubereiten. Dort erlaubte er sich keinesfalls Fehler und versuchte sich daher schon vorher bestmöglichst zu konzentrieren.
An der Haltestelle der Straßenbahn ordnete er Regenschirm und Mantel sorgsam über einem Arm und schlug dann genüsslich Seite 2 seiner Zeitung auf, um die schlechtestenfalls verbleibenden 4 Minuten und 16 Sekunden mit nützlicher Lektüre zu verbringen.
Über die Unpünktlichkeit der 08:07 Uhr Straßenbahn hatte er sich wirklich schon oft geärgert. Durchschnittlich 0,34 Minuten waren es täglich, so hatte Herr Gronefeld ausgerechnet.
“Das sind 124,1 Minuten im Jahr!“ dachte er also meistens ehrlich empört, während er wartete.
Die Frau, die auf der anderen Seite des Mülleimers stand, kam ihm gleich bekannt vor und lange musste er nicht überlegen, um sich zu erinnern, denn er vergaß so gut wie nie ein Gesicht. Sie hatte auch immer noch denselben löchrigen Mantel an und die alte Wollmütze auf dem Kopf, die sie bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte.
Das war im Amt gewesen, in seinem Büro. Sie hatte den Antrag falsch ausgefüllt und deswegen hatte er ihn ablehnen müssen, obwohl sie dem Grunde nach berechtigt gewesen wäre, die Leistung zu erhalten.
Bedauerlich ist es schon, dachte er, aber so sind nun mal die Regeln. Und die sind ja nicht zu ändern.
Sie schien ihn ebenfalls erkannt zu haben, aber überraschenderweise schien sie nicht böse auf ihn zu sein. Das allerdings kam ihm nur rechtens vor. Er konnte ja schließlich nichts für die Regeln, dachte er, er hatte sie nicht gemacht, aber manche Menschen, beziehungsweise eigentlich die meisten, verstanden das nicht und waren regelrecht rachsüchtig.
Als er ihr ins schliesslich ins Gesicht blickte, zuckte er merklich zusammen. Sie lächelte ihn freundlich an. Verlegen musste feststellen, dass die Frau offensichtlich gemerkt hatte, dass er sie musterte. Er fühlte sich folglich genötigt die Situation irgendwie zu bereinigen.
„Guten Tag", sagte er nicht freundlich und nicht unfreundlich, „ich überlegte gerade woher mir ihr Gesicht bekannt vorkommt.“
„Wir kennen uns aus dem Amt“, antwortete die Frau ruhig.
Kleine Lachfältchen umränderten ihre Augen, und ließen sie entspannt und glücklich aussehen,
„Sie sind mein Sachbearbeiter.“
„Richtig!“, beeilte sich Herr Gronefeld zu sagen, „soeben war es mir selbst wieder eingefallen.“
Sie sahen sich einen weiteren Augenblick lang schweigend an. In dieser Zeit vertiefte sich das Lächeln auf dem Gesicht der Frau, und ebenso das Unbehagen das Herr Gronefeld bei dessen Anblick empfand.
„Wie geht es ihnen jetzt?“, fragte er, ganz entgegen seiner Gewohnheit – Smalltalk war etwas, das er zutiefst verabscheute, „haben sie ihre Wohnung noch?“
„Nein, ich musste ausziehen. Sie wissen ja warum.“
Ihr Gesichtsausdruck blieb unentwegt freundlich und ehrlich. Keine Spur von Groll.
Ein kleiner struppig aussehender Hund kam vorsichtig herbei und strich mit begehrlichem Blick um ihren Einkaufskorb.
„Oh, das tut mir leid.“, sagte Herr Gronefeld nach einem kurzen Schweigen, und stellte überrascht fest, dass das tatsächlich stimmte.
„Und sie?“, setzte sie hinzu, „Geht es ihnen besser?“
Herr Gronefeld hätte sich beinahe verschluckt und presste unter dem anschließenden Husten hervor: „Aber…was meinen sie denn damit? Ob es mir besser geht?“
„Nun…“, sie schien sorgfältig ihre Worte abzuwägen, „ich habe mir nach dem letztem Mal vor zweieinhalb Wochen Sorgen um sie gemacht.“
„Wie…?“ stammelte Herr Gronefeld, nun völlig aus der Bahn geworfen, „Sorgen gemacht? Aber wieso denn?“
„Sie sahen so unsagbar traurig und verloren aus.“
Ihre Augen sahen ihn weiter durchdringend mütterlich an.
Das Lächeln blieb. Ob sie ihn auf den Arm nahm?
„Wirklich? Ist das so…? Nun, mir geht es gut, vielen Dank!“, er versuchte seine Stimme fest und bestimmt klingen zu lassen. Eine Einleitung quasi, um mit dem nächsten Satz das merkwürdige Gespräch zu beenden. Dies war aber nun garnicht notwendig, denn sie hatte sich bereits abgewandt und streichelte den Hund, der mit seiner kleinen hellrosa Zunge ihre Hand leckte.
Diese Frau, mit ihren unpassenden Unterstellungen, hatte ihn merkwürdigerweise tief aufgewühlt. Da mußte er es tatsächlich vergessen haben. In seiner Verwirrung über das seltsame Gespräch, vermischt mit den 1000 anderen Gedanken, die sich plötzlich aufdrängten.
Zum Beispiel an den Gesichtsausdruck seiner Frau, als sie vor drei Wochen mit gepackten Koffern im Flur gestanden hatte, als er aus dem Büro kam.
„Du bist doch in Wirklichkeit schon lange nicht mehr da. Ich ziehe nur die Konsequenz." hatte sie gesagt.
Und ohne ein weiteres Wort war sie für immer gegangen.
Er verstand es nicht, nichts von dem Einen, noch dem Anderen.
Ungläubig musterte er den Mann, der immer noch wartend vor ihm stand. Die Situation schien ihm so unwirklich. Was konnte er denn bloß tun?
Dies war so falsch. Er wollte erklären, sprechen, regeln. Sein Verstand arbeitete wie eine Dampfmaschine unter Hochdruck, aber es war schlicht und einfach zu spät.
Das Mahlwerk des Gesetzes hatte bereits seine paragraphenbewehrten Klauen nach ihm ausgestreckt und war bereit ihn zu verschlingen. Seine Integrität zu zermalmen, wie ein LKW eine Haselnuss.
Denn er war schuldig.
Nichts konnte das ändern. Es war unverrückbare Realität.
Er war Abschaum. Der eitrige Auswurf der Gesellschaft. Ein Abszess am Hintern der Gerechtigkeit, der ohne Gnade beseitigt werden musste.
Sein Dasein, wie er es kannte, so glaubte er zu wissen, würde heute ein Ende finden.
Der kalte Schweiß, der ihm von Anfang an aus allen Poren ausgebrochen war, lief ihm nun in Sturzbächen unter seinem gebügelten Anzug den Rücken und die Beine herab, und durchnässte sein Unterhemd und seine Socken.
„Ihren Personalausweis bitte.“ sagte der Mann unerbittlich, und streckte die Hand aus.
Mit zitternden Händen reichte er dem Mann das Dokument.
„Oh…“, sagte dieser gleich darauf, „der Herr Gronefeld aus dem Amt.“
Seine Augenbrauen hoben sich missbilligend.
„Nun… zu dumm, aber einen Fahrschein brauchen auch sie, da kann ich nichts für sie tun.“