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1Tag und 1 Stunde meines Lebens

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29.01.2002
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1Tag und 1 Stunde meines Lebens

Aus der Ferne nehme ich ein Geräusch wahr. Es wird langsam aber stetig immer lauter. Ich schlage meine Augen auf und kann eine von etwas halb verdeckte, grün leuchtende LCD-Anzeige erkennen. Mein Wecker. Für mein Auge nur halb sichtbar, weil durch ein Teil meines Kissens verdeckt. Bewusstsein nimmt mich ein. Ich muss aufstehen.

Ich schalte das Videospiel ein. Langsam sinkt der Schriftzug einer bekannten Firma für Spielekonsolen den kleinen Bildschirm herab, bis er mit einem "Bing" in der Mitte stehen bleibt. Gleich gehts los.

Ich krieche noch schlaftrunken aus meinem Bett und schleppe mich ins Bad. Dort angekommen reibe ich mir den Schlaf aus den Augen und Wasche mich. Ich will das Bad schon wieder verlassen, da sagt mir eine innere Stimme: "Zähen putzen nicht vergessen!" Ich mach auf dem Absatz kehrt, um auch das noch zu erledigen. Dann ziehe ich mich an und verlasse das Haus. Ohne Frühstück.

Ein Schriftzug im LCD fordert mich auf, die "Start"-Taste zu drücken. Ich tue es. Nun muß ich mir einen Modus wählen. Auch das tue ich. Nun noch eine Melodie. Oh. Ich wollte den A-Modus gar nicht. Noch mal zurück. B-Modus wählen, die Melodie wie immer eben, und zum Schluss noch mal den Startknopf. das Spiel beginnt.

Ich fahre auf die Arbeit. Aus dem Radio tönt ein bekanntes Lied, ich singe laut mit. Dort angekommen grüße ich alle und setze ich mich an meinen Schreibtisch, schalte meinen Computer an. Das Telefon klingelt. Ich nehme ab und höre Frau Bruder am Ende der Leitung. Sie möchte eine Programmänderung. Ich notiere es, und lege auch gleich los. Entwicklungsumgebung laden. Ein paar Zeilen schreiben, ganz einfach.

Der Erste Stein erscheint am oberen Bildschirmrand. Ich überlege kurz, positioniere, und drücke das Pfeilkreuz nach unten. Nach kurzer Verzögerung saust der Klotz schnell hinab. Genau dort hin, wo er hin sollte. Der nächste Stein erscheint. Ich positioniere, drücke, der Klotz fällt, passt. Total easy.

Nach zwei Stunden ist die Angelegenheit vom Tisch. Ich installiere das Update, informiere Frau Bruder. Sie testet noch im selben Moment. Sie ist zufrieden. Fein. Ich schaue in meine Ablage. Eine Kundenbestellung. Nach einer Tasse Tee hole ich vom Lieferanten einige Angebote ein. Recht günstig. Ich schreibe eine Auftragsbestätigung und lege sie auf das Fax. Fertig. Was noch? Ah ja. Das Programm für den Chef meiner Ex. Da gehts jetzt weiter. Ich setze mich dran und Programmiere. Gar nicht mehr so einfach. Ich muss oft anrufen und fragen, wie ich es ausprogrammieren soll. Der Entwurf war nicht der Beste. Ich muss eine Prozedur komplett löschen. Ein Gruß von Kathrin. Lässt mich kalt.

Klotz für Klotz komme ich weiter. Wieder kommt einer, der gut passt. Ich positioniere, drücke auf den Pfeil nach unten und er saust genau in die eine Lücke. zwei Reihen meines Stapels verschwinden, begleitet von einem tiefen Ton. Weiter gehts. Gerade kommt wieder ein Stein, den ich gut gebrauchen kann. Siegessicher positioniere ich, drücke nach unten. Kurz vor dem Aufprall merke ich, dass ich mich um eine Spalte verschätzt habe - zu spät. Der Stein verfehlt sein Ziel und erzeugt nun ein Loch im Stapel. Egal. Weiter gehts.

Nach langer Zeit konzentriertem Programmieren schaue ich auf die Uhr. Schon seit 20 Min. Mittagspause. Ich schalte den Bildschirm aus und gehe etwas essen. eine halbe Stunde später sitze ich wieder da, den Kopf auf dem Tisch, ruhend. Mein Arbeitskollege legt mir etwas auf den Tisch. Ich hebe den Kopf. Eine weitere Programmänderung an einem unserer größten Programme. Das wird was. Ich schalte den Monitor wieder ein. Weiter gehts.

Ich erlaube mir diesen Fehler nicht noch mal. Die Pfeiltaste, die nach unten zeigt, bleibt ab jetzt unberührt. Ich konzentriere mich. Achte auf die korrekte Position. Doch immer mehr Steine, die ich nicht gebrauchen kann, tauchen auf. Ich improvisiere. Meine Konzentration lässt nach. Immer mehr Löcher entstehen. Die Ursachenforschung meines Unterbewusstseins meldet als Ergebnis Harndrang. Ich drücke den "Start"-Knopf, und lege das Gerät aus der Hand. Auf dem Display blinkt "PAUSE" auf. Ich reibe mir die Augen und gehe auf´s Klo. Nach 3 Minuten bin ich wieder startklar und nehme den Kampf erneut auf.

Nach drei Stunden ist auch diese Änderung geschafft. Doch das Update ist fehlgeschlagen. Ich prüfe, warum. Nach einer weiteren Stunde habe ich Gewissheit. Ein Parameter an falscher Stelle übergeben. Anfängerfehler. Ich ärgere mich, packe meine sieben Sachen, verlasse die Firma. Auf der Straße geht der Kampf weiter. Ein Sattelzug mit 70 Km/h und keine Überholmöglichkeit. Ruhig bleiben. An einer dennoch riskanten Stelle wage ich es doch. Kein Gegenverkehr da. Glück gehabt. Daheim angekommen beginne ich zu kochen. Ich esse und Stelle mein Geschirr in die Küche. Heute keine Hausarbeit. Morgen. Vielleicht. Ich setze mich vor den Fernseher und zappe durch die Gegend. Bei den Nachrichten bleibe ich hängen.

Ich schaffe es, meinen Stapel durch Geschick im Rahmen des Zulässigen zu halten. Jetzt bloß keinen Fehler mehr machen. Doch schon wieder, ein Klotz, von dem ich nicht weiß, wo ich ihn hinsetzen soll. Nach längerer Überlegung erledigt sich das Problem von selbst. Er bleibt nach Kerzengeradem Fall direkt in der Mitte meines schon zu großen Turmes stehen. Mist. Das wieder auszubügeln dauert. Ich baue drum herum und kann sogar wieder etwas Land gut machen. Doch eine große Lücke klafft nun ganz oben und scheint mich fast auszulachen. Ich kämpfe nun wirklich.

Ich schaue noch in ein paar Talkshows rein und lache über die Dummheit mancher Menschen, wobei weinen da eher angebracht wäre. Der Film um viertel nach acht ist bestimmt gut. Ich vertreibe mir die Zeit mit ein paar daily commedy´s. Der Film geht los. Er ist wirklich gut. Danach kommt noch eine Reportage. Ich werde müde. Der Kommentator spricht immer leiser. Bis er schließlich ganz verstummt. Das Bewusstsein hat mich verlassen.

Ich schlafe ein.

Die Lücke oben ist immer noch da. Und auf der Anzeige wird der Platz auch langsam eng. Bald bin ich oben angelangt. Ich setze die Klötze nun nicht mehr mit System und aus Zweckmäßigkeit, sondern mit Hast und aus Überlebenswillen. Immer mehr Lücken entstehen, immer mehr Steine Fallen, doch immer weniger Reihen verschwinden. Ein Stein, der mir vor den drei letzten gefehlt hat, taucht jetzt auf aber ist nun nutzlos. Ich will ihn links an den Rand setzen, doch ein anderer Klotz auf meinem Turm behindert mich. Der Stein bleibt genau in der Mitte stecken und der nächste neue Stein besiegelt mein Schicksal und das Ende dieses Spieles.

Game over.


Hendrik Bettink

 

Hallo!

Wow, erinnert mich stark an Benjamin von Stuckrad-Barres "Blackbox", soll heißen: Fantastisch, weil: Clever, weil: Innovativ erzählt. Und: Weiter so!

Wer ist noch dafür, dass diese Geschichte ins Gesellschafts-Forum verschoben wird???

kc

 

Hallo!

Ich hab eben auch "Nachruf" gelesen. Diese Geschichte hier ist im Vergleich viel fluessiger, viel durchsichtiger geschrieben, vom Schreibstil meiner Meinung nach viel ausgereifter.

Gruss
Dany

 

Das liegt daran, dass diese Geschichte hier drei Jahre später entstanden ist. Der Nachruf ist schon älter. Nur noch nicht veröffentlicht worden. Doch. Jetzt eben. :teach:

 

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