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Die Mutter setzte einen Fuß nach dem anderen auf den ausgedörrten Steppenboden, wie sie es die letzten hundert Kilometer auch getan hatte. Stumpfsinnig folgte sie dem Rest ihrer Sippe, wie es rund um sie alle Angehörigen aller Sippen taten und immer schon getan hatten. Gemeinsam hatten sie sich zu dem anderen, dem großen Volk gesellt, das sie als Anhängsel akzeptierte. Vielleicht war ihnen ihre Anwesenheit aber auch gleichgültig, so wie alles gleichgültig war auf diesem monotonen Marsch durch die flimmernde, glühende Luft.
Doch auf die Mutter traf dies nicht ganz zu. Zum ersten Mal wurde sie von ihrem eigen Fleisch und Blut begleitet. Das machte die diesjährige Wanderung zu etwas Besonderem. Auf ihre Tochter zu achten, riss die Mutter immer wieder aus der lähmenden Eintönigkeit heraus.
Und natürlich gab es noch etwas anderes, das hin und wieder die Eintönigkeit durchbrach, etwas das unvergleichbar schlimmer war als Monotonie. Die Wanderer begannen es vorauszuahnen, eher zu fühlen als zu wissen. Unruhe breitete sich aus, was nicht ganz angebracht war, doch ihre angeborene Gelassenheit verhinderte, dass bereits jetzt Panik und Entsetzen ihre Köpfe füllte. Dies sollte noch früh genug geschehen.
Die Mutter konnte das Wasser riechen. Gewöhnlich hätte es Erlösung bedeutet, Abkühlung, das Ende des Durstes, und das bedeutete es auch jetzt. Doch das war völlig unbedeutend im Vergleich mit der verschütteten, verdrängten Erinnerung, die nun in ihren Geist zurückkroch wie Maden. Diese Erinnerung brachte die erste Angst mit sich, die es auf diesem Planeten gegeben hatte, und die an Schrecklichkeit niemals überboten worden war: die Angst, gegessen zu werden.
Sie erinnerte sich wieder an die gepanzerten Bestien, die auf sie lauerten, an die Kiefer, die ihre Knochen zermalmen und ihr Fleisch zerreißen konnten, an die Mäuler, die ihre kompletten Schädel packen und ihren gesamten Körper mit wenigen Bissen verschlingen konnten. Nichts, worüber ihre Sippe oder auch das andere, das stärkere Volk verfügte, konnte man damit vergleichen. Nichts konnte sich dagegen wehren.
Die Mutter war nach vorne geschoben worden. Die chaotischen Wellen, die durch die immer dichter gedrängte Masse aus Leibern liefen, hatten sie in die erste Reihe gespült, und plötzlich stand sie am Ufer des Flusses und blickte die Böschung hinunter. Ihr Kleines schmiegte sich an sie und sie spürte seinen Körper zittern. Ihre Lunge saugte gierig die heiße Luft in ihre Kehle und ihr Herz pumpte immer schneller den Sauerstoff durch ihren Körper, stellte ihr in panischer Hoffnung so viel Energie wie möglich zur Verfügung, damit sie fliehen oder kämpfen konnte. Doch beides war aussichtslos. Ein Umkehren stand nicht zur Debatte. Hinter ihr in der wasserlosen, staubigen Steppe erwartete sie ebenfalls der Tod, nur langsamer, dafür aber mit absoluter Sicherheit. Und zum Kämpfen waren sie nicht gemacht, besonders nicht gegen diese Kreaturen, die sich beinah unsichtbar im Wasser verbargen, in dem ihnen jeder Eindringling hoffnungslos unterlegen war. Ihre einzige Option war die Flucht nach vorne.
Die Mutter schickte ihre Blicke aus ihren geweiteten Augen über den Fluss. Die richtige Stelle konnte entscheidend sein. Von hinten drängten immer mehr ihrer Begleiter nach, widerstrebend, aber ihrerseits getrieben von der riesigen Meute und der Erkenntnis der Unausweichlichkeit. Mit jeder Sekunde stieg der Druck, der auf der vordersten Reihe lastete. Die Mutter hatte nicht mehr viel Zeit. Sie musterte das trübe Wasser und versuchte dessen Tiefe und die Stärke der Strömung zu erahnen. Sie suchte nach unbewachsenen Stellen am Ufer, hinter denen sich keines der Monster verbergen konnte.
Schließlich brach der Damm. Einige Meter neben ihr liefen die Ersten die Böschung hinunter. Fast überrumpelt von diesem Startschuss setzte sich auch die Mutter in Bewegung und ihr Spross folgte ihr, mit verwirrten Augen, konnte nicht fassen, was er da tat. Sie schlitterten den Hang entlang und stürzten sich in den Fluss. Jetzt keine Zeit mehr verlieren! Das Plätschern des aufgewühlten Wassers erfüllte die Luft. Wer genau hinhörte, erkannte auch die sanfteren Geräusche, die zeigten, dass etwas Schleichendes, Heimtückisches ihre Ankunft bemerkt hatte und darauf reagierte.
Es gab zwei mögliche Strategien: Sie konnten versuchen, die Ungeheuer im Auge zu behalten und ihnen auszuweichen, oder sie zu ignorieren und so schnell wie möglich das andere Ufer zu erreichen. Ersteres brachte nicht viel. Ihre Feinde waren schneller und stärker und sie waren perfekt angepasst an dieses schreckliche, substanzlose Element, für das die Mutter und ihre Sippe nicht geschaffen waren, das sie noch hilfloser und ausgelieferter machte, als gewöhnlich.
Die Mutter entschied sich, die Bestien zu ignorieren. Sie strampelte zügig mit ihren Beinen. Jede Bewegung musste gelingen und sie ihrem Ziel entgegentreiben. Nur nicht von der Panik übermannen lassen. Nicht in hektisches, sinnloses Zappeln verfallen. Dann bräuchte es gar keine Ungeheuer mehr – die Strömung, die an ihr zerrte, war allein schon in der Lage, für ihr Verderben zu sorgen.
Die Mutter keuchte. Sie starrte auf das andere Ufer, das keinen Zentimeter näher zu kommen schien. Sie versuchte nicht an das zu denken, was hinter ihr liegen mochte, ein Monster, das sich vielleicht gerade jetzt an sie heranpirschte, das ihren aus dem Wasser ragenden Hals fixierte, um seine Zähne durch ihr Fleisch zu bohren. Und sie konnte es nicht einmal sehen.
Sie konnte nur ihre Tochter neben sich spüren. Das heißt, sie hatte es gekonnt. Die Mutter hatte nicht bemerkt, dass die Wellen und die Geräusche, die ihr Nachwuchs ausgesandt hatte, verschwunden waren. Nichts war mehr neben ihr. Egal. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie konnte niemandem helfen. Sie musste nur hier raus.
Weiter entfernt hörte sie Geräusche, die viel lauter waren als Schwimmbewegungen. Ein Monster hatte dort seine Beute gefunden. Schrecklich, aber trotzdem eine gute Nachricht. Das einzige, worin sie den Kreaturen weit überlegen waren, war ihre Anzahl. Die Bestien konnten bei weitem nicht alle erwischen. Die verzweifelte Schar konnte nicht hoffen, die Kreaturen zu besiegen oder ihnen zu entgehen, aber jeder einzelne konnte immerhin hoffen, dass sie nicht ihn, sondern einen der vielen anderen töteten.
Irgendetwas bewegte sich neben der Mutter. Das war nicht ihre Tochter. Zu viel davon befand sich unter der Oberfläche. Sie trat aus. Wenn sie Glück hatte, konnte ein guter Treffer gegen den Kopf ihr das Leben retten. Auch die Monster waren nicht unverwundbar. Sie spürte nichts, als sie mit ihrem Fuß durch das Wasser schlug.
Die Mutter glotzte auf das Ufer, das meterweit entfernt war. Sie achtete nicht auf das, was neben ihr schwamm. Was hätte sie schon davon gehabt? Etwas stieß durch das Wasser und überschüttete sie mit Wassertropfen. Die Hälfte ihres Sichtfeldes verschwand. Eine schmerzhafte, ungeheure Kraft klemmte ihren Kopf ein. Im nächsten Moment gurgelte das Wasser in ihren Ohren und sie konnte nur noch graubraune Schlieren sehen. Instinktiv hörte sie zu atmen auf. Sie schlug noch einmal mit ihren Beinen aus, dann drehte die Bestie ihren Hals um hundertachtzig Grad herum.
Allmählich stiegen die letzen Nachzügler aus dem Fluss und liefen sofort ein paar Schritte fort vom Ufer, bevor sie wieder in ihren üblichen Trott verfielen. Sie schüttelten das Wasser und die Angst von sich. Inmitten der Herde stand ein kleines verlorenes Junges, das verwirrt von der Masse mitgezogen wurde. Es war zweifelhaft, ob es ohne seine Mutter überleben würde. Die anderen würden keine große Hilfe sein. Ihre Solidarität war nicht besonders ausgeprägt, ebensowenig wie ihr Gedächtnis.
Als die eineinhalb Millionen Streifengnus und die sechshunderttausend Zebras sich allmählich vom Ufer entfernten, begannen sie die Krokodile bereits zu vergessen, so wie sie sie nach jeder Flussüberquerung und jeder jährlichen Wanderung vergaßen. Wieder einmal hatte der Großteil es geschafft, und die paar Krokodile waren nicht in der Lage den Bestand der Herden zu gefährden. Die Erinnerung würde früh genug wiederkehren. Es gab genügend Flüsse in der afrikanischen Savanne.