2032 - Teil 2
Ich träume den Traum 2005. Alles ist toll: die meisten Menschen haben Arbeit und es gibt noch echte Bäume - nicht diese Plastikattrappen die Anfang der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts aufgestellt wurden, nachdem der Jahrtausend-Orkan den gesamte mitteleuropäische Baumbestand unwiderruflich ausgelöscht hatte. Die Atemluftregulierung erfolgt seither maschinell durch in Straßen und Wege eingelassene Sauerstoff-Generatoren sowie Kohlendioxid-Umwälzpumpen. Anfangs hatte mich das penetrante Grundbrummen dieser Maschinen noch ein wenig gestört. Aber wenn es überall brummt, blendet das Gehirn dieses Geräusch irgendwann einmal von alleine aus. Manchmal, in stillen Momenten, versuche ich mich ganz auf das Brummen zu konzentrieren und vertraute Melodien daraus zu bilden.
Auch kann ich in meinem Traum endlich wieder einmal im Internet surfen! Das Internet in dieser Form gibt es seit dem ersten Web-Krieg im Jahr 2023 nicht mehr. Der erste Web-Krieg eskalierte damals durch gezielte Virenattacken von revolutionären ID-Verweigerern, die sich in Island verschanzt hatten und von dort aus beinahe den Zusammenbruch des gesamten Systems herbeigeführt hätten. Dem ganzen vorausgegangen war ein jahrelanges Wettrüsten zwischen dem System und den Revolutionären mit immer brutaleren und aggressiveren Computerviren.
Die ganze zivilisierte Welt, alle nennenswerten Industriezweige, die weltweite Kommunikation - alles war damals vom Internet abhängig. Das System brach zwar nicht völlig zusammen, aber es lief so instabil, dass es zu Panik, Massenflucht und Plünderungen kam. Weltweit waren Massenarbeitslosigkeit und Hungersnöte die Folge. Der Wiederaufbau dauerte ganze drei Jahre und das neue Netz wurde unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen entwickelt. Angeblich sollen den Entwicklern nach Fertigstellung sogar die Erinnerungen mittels Neuroerasern gelöscht worden sein. Ich persönlich zweifle ja nach wie vor daran. Wer soll das neue Netz im Falle einer Störung denn sonst reparieren können? Und wenn es doch stimmt war ich womöglich einer der Entwickler und kann mich heute nur nicht mehr daran erinnern.
Das neue Netz dient nun ausschließlich der Verwaltung und der Steuerung. Die private Nutzung wurde verboten, beziehungsweise gar nicht erst ermöglicht. Hier besann man sich zurück auf traditionelle Medien wie Bücher oder Zeitungen. Holz war ja praktischerweise seit dem Jahrtausend-Orkan in Massen vorhanden und man verband somit das Angenehme mit dem Nützlichen. Viele User hatten jedoch anfangs noch Schwierigkeiten mit dem Umblättern und suchten vergeblich das touchpadgesteuerte Menu.
Was mit den ID-Verweigerern passiert ist, weiß keiner so genau. Da sie ihre Multichips umprogrammiert haben, kann man sie bislang auch noch nicht orten. Gerüchteweise sollen sie immer noch aktiv sein und kurz davor stehen, die Architektur des neuen Netzes zu knacken. Also wartet der Großteil der Menschheit nun gespannt auf den zweiten Web-Krieg.
Stichwort Multichip: auch den gibt es glücklicherweise 2005 noch nicht! Man ist frei und kann tun und lassen was man will, ohne dass das System etwas mitbekommt. Außerdem wird die eigene Existenz nicht in Frage gestellt, wie es bei mir einmal der Fall war: Es war im Sommer 2029 als ich bemerkte, dass etwas mit mir nicht stimmt. Mein Multichip tat etwas, was Multichips nie tun: er ging kaputt.
Ich machte mich auf den Weg zur Registrierungsbehörde um diesbezüglich Meldung abzugeben. Dort angekommen schilderte ich dem zuständigen Trouble-Shooting-Programm mein Problem. Es hörte sich das Ganze an, rechnete ein Weilchen herum und beharrte schließlich darauf, dass die Chips unkaputtbar seien und ich infolgedessen einfach nicht existiere. Die - zugegebenermaßen logische - Argumentation war die Folgende: würde ich existieren, hätte ich einen funktionierenden Chip. Wenn ich einen Solchen nicht habe könne ich auch unmöglich existieren. Je mehr ich mir darüber Gedanken machte, desto mehr zweifelte ich an meinem eigenen Sein. Vielleicht bildete ich mir ja auch wirklich nur ein, dass es mich gibt.
Nachdem ich mich zwei Tage später schon mit dem Gedanken angefreundet hatte, überhaupt niemals existent gewesen zu sein, sprang mein kleiner Chip-Freund auf einmal wieder an. Ich bin zwar seither wieder, aber diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass Sein und Nichtsein oftmals dicht beieinander liegen - dichter als dies wahrscheinlich 2005 noch der Fall war.
Ich wache auf.
Traurig, dass der Traum vorüber ist öffne ich meine Augen. In einer der folgenden Nächte werde ich wiederkommen. Alles ist so toll hier in der Vergangenheit. Naja, fast alles!
Was mich richtig nervt ist dieses dauernde Gejammere der Menschen, wie schlecht es ihnen doch angeblich geht!