24 Stunden
24 Stunden
Ich schlug die Augen auf und befand mich in einer Art Traumwelt. Zwar war ich in meinem mir wohlbekannten Zimmer, aber alles war mit weißem Licht bestrahlt, das von der Mitte des Zimmers kam. Nach einiger Zeit hatten sich meine Augen nach heftigem Blinzeln an das helle, aber doch sehr angenehme Licht gewöhnt. Nun sah ich sie. Die, die mir so oft in meinen Träumen erschienen war und mir jedes Mal etwas vorrausgesagt hatte, das einige Stunden oder Tagen tatsächlich auch eintraf - Meine Großmutter. Sie ist vor acht Jahren gestorben und ist mir seither in meinen Träumen vorgekommen. Doch diesmal war sie präsent. Sie rief mich leise bei meinem Namen: „Nivéa! Nivéa!“
Es klang so zart und liebevoll, dass Erinnerungen an sie mich ergriffen.
Sie hat immer so geredet und es war himmlisch, wenn sie mir vorgelesen hatte. Sie hatte mir viel beigebracht, hat mit mir gespielt, als ich klein war und war immer für mich da. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihr gehabt. Sie kam auch in einem Traum vor, bevor meine Schwester einen Autounfall hatte und dabei knapp mit dem Leben davon kam. Meine Großmutter erschien mir immer bevor etwas Schlimmes passierte, doch nie ist sie, wie an diesem Tag, als...wie soll ich sagen...als Geist erschienen.
Wieder hörte ich ihre liebliche Stimme meinen Namen rufen. Ich antwortete: „ Großmutter!“
„Nivéa, höre mir gut zu! Du wirst nicht mehr lange Leben!“
„Wie lange?“, fragte ich sie ohne den Sinn dieser Worte zu realisieren.
„Wenn ich wieder weg bin, hast du noch genau 24 Stunden!“
„Was?“, ich verstand nicht, ich strich mir nervös die Haare aus dem Gesicht.
„24 Stunden, Nivéa! Wir werden uns bald wiedersehen, meine Liebe.“
„ Warte!“, rief ich, denn ich spürte, dass sie bald verschwinden würde.
„ Mach dir keine Sorgen. Du wirst keine Schmerzen haben!“, ihre Stimme wurde immer leiser und schien immer weiter entfernt. Auch das Licht erlosch langsam.
„ Deine letzten Stunden schlagen jetzt!“
Auf einmal war alles wieder normal, die Sonnenstrahlen schienen durchs Fenster auf mein Bett. Ich schaute auf meine Armbanduhr, die ich mir nun anzog. Es war Punkt 10.
„Was war passiert? Was sollte das bedeuten?Ist es ernst zu nehmen? Es war doch nur ein Traum! Oder? Nein, war es nicht. Ich war doch war als sie da war...oder war es doch ein Traum? Nein. Was sagte sie? Nur noch 24 Stunden? Ja, das sagte sie...“
Ich stand langsam auf und ging zu meinem Schrank.
„Was soll ich bloß anziehen?“, fragte ich mich, wie jeden Morgen, doch jetzt war es anders, denn es war der letzte Morgen.
„Wie seltsam das klingt. Der letzte Morgen, der letzte Tag - Die letzten 24 Stunden.“
Ich zog meinen weißen langen Rock und ein blaues, kurzärmliges Oberteil an.
Welches Datum mochte heute sein?Ich schaute auf den Kalender. 17 Juni.
„Morgen werde ich schon nicht mehr sein. Was für ein bizarrer Gedanke. Es kann doch nicht sein, ich bin ja nicht krank. Vielleicht ein Unfall? Ich verstehe es nicht. Wie kann ich einer Traumgestalt, die meiner Großmutter ähnelt, Glauben schenken? Bin ich komplett wahnsinnig?“
Doch im Grunde wusste ich genau, dass es stimmte. Ich ging die Treppen zur Küche runter, holte mir Johannisbeeren und Milch aus dem Kühlschrank und wusch die Beeren daraufhin.
„Wie angenehm ruhig es ist.“
Meine Eltern waren auf eine Messe für mehrere Tage gefahren, nachdem sie meine kleine Schwester in den Kindergarten gebracht hatten. Ich tat jede abgerupfte Beere in eine Schüssel, übergoss diese mit Milch und Zucker und aß mein Lieblingsgericht.
„Was soll ich heute bloß machen?“
Meine große Schwester Aurelia und meine beste Freundin Chantal durchhuschten mehrmals meine Gedanken.
„Wie kann ich denn daran glauben?! Nur weil mir meine Großmutter erschien!“, ich schrie mich selbst in meinen Gedanken an.
„Es schadet nichts, wenn ich die beiden sehe, auch wenn ich weiterleben würde.“
Meine Schüssel war leer, aber ich hatte soviel Zeit. Das meiste schien auf einmal unwichtig zu sein. Jeder Schritt wirkte überflüssig.
„Soviel Zeit hast du auch nicht mehr!“, ermahnte ich mich. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass schon eine Stunde vergangen war. Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer meiner Schwester, die zwei Stunden von Frankfurt entfernt wohnte. Ich war mir nicht sicher, ob sie zu Hause war.
„Aurelia Oprea“, hörte ich die Stimme am anderen Apparat.
„Hallo Lia. Du bist ja zu Hause.“
„Hallo Nivéa. Dich hab ich nun nicht erwartet. Ich muss erst später in die Uni.“
„Musst du denn in die Uni?“
„Wie? Versteh’ ich jetzt nicht.“
„Würdest du nach Frankfurt kommen? Heute?“, mir standen Tränen in den Augen.
„Was ist denn passiert?“
Ich konnte nicht weiterreden, denn mir war bewusst, wie unglaubwürdig das klingen musste.
„Nivéa? Was ist denn los?“
„Mir ist Großmutter erschienen.“, sie wusste, was es bedeutet, doch glaubte sie nicht wirklich daran.
„Im Traum wieder? Was hat sie gesagt?“
Ich versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken.
„Sie sagte...sie sagte, ich würde in einem Tag sterben!“
Stille.
„Nivéa?“, vernahm ich nach einer Weile ihre Stimme, „du scherzt doch jetzt nicht, oder?“
„Nein!“, sagte ich bestimmt, „glaubst du wirklich, ich würde über so etwas Scherze machen? Weißt du noch, als du den Unfall hattest?“, eine unsinnige Frage, wie könnte sie das vergessen haben, „Paar Tage zuvor ist sie mir auch im Traum erschienen und sagte mir, dass...“
„Ja, ich weiß. Ich werde kommen.“
„Wirklich?“, ich konnte es kaum glauben. „ Danke! Lia?“
„Ja?“
„Ich hab dich verdammt dolle lieb!“
„Ich dich auch! Tschüss, bis später.“
„Tschüss.“
Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich auf die bequeme Couch. Eine halbe Stunde war vergangen. Ich war an den Punkt angekommen zu glauben, dass ich wirklich am nächsten Morgen nicht mehr leben würde. Trauer überkam mich, aber keine Träne trat in meine Augen. Ich saß einige Minuten lang auf dem Sessel bis ich mich wieder beruhigt hatte. Nun nahm ich wieder das Telefon in die Hand, um Chantal anzurufen und hatte Glück, dass sie zu Hause war und nicht bei ihrem Freund.
„Hallo?“
„Hallöchen. Na wie geht’s dir?“
„Hallo, Nivéa. Mir geht’s ganz gut und dir?“
„ Geht so. Wollen wir uns treffen?“
„Ja, können wir machen. Jetzt gleich?“
„Ja, also dann an der Bank! Bis gleich!“, sagte ich.
„Bis gleich. Hab dich lieb!“
„Ich dich auch.“
Ich ging hoch in mein Zimmer, suchte meine kleine schwarze Tasche, hängte sie mir um und ging wieder runter. Ich überlegte noch kurz, welche Schuhe ich anziehen sollte und entschied mich für die Roten, da sie sehr bequem waren. Ich ging die zwei Stufen runter und wieder hoch, da ich einen Blick auf das Thermometer neben der Haustür werfen wollte. Es war schon sehr warm für den Vormittag und wunderschönes Wetter. Ich ging den Weg zu Bank viel bewusster und es fielen mir Sachen auf, die mir zuvor niemals aufgefallen waren, obwohl ich diesen Weg schon tausende Male gegangen war. Am Zaun waren einige Worte eingeritzt, dass jemand verliebt in jemanden war.Als ich die Bank erblickte, war Chantal noch nicht da. Ich setzte mich. Wie viele Erlebnisse wir auf dieser Bank hatten. Wir trafen uns hier vor einigen Wochen mit zwei Klassenkameraden, abends, um zu trinken. Allerdings hatten Chantal und ich zuvor zu wenig gegessen, sodass wir beide uns übergeben mussten. Die beiden anderen, brachten uns nach Hause. Für uns war die Bank etwas Besonderes. Abends konnten wir den Sonnenuntergang beobachten, da wir in diese Richtung saßen.
„Soll ich ihr erzählen, dass ich möglicherweise nur noch weniger als einen Tag zu leben habe? Oder soll ich es lieber lassen?“, fragte ich mich.
Ich tendierte eher zu das Nichterzählen, aber ich war mir noch nicht sicher. Nun kam Chantal um die Ecke und ich winkte ihr lächelnd zu. Sie winkte mir so übertrieben zurück, dass ich lachen musste. Wir machten unsere Standartbegrüßung: Küsschen Mund, Küsschen linke Backe.
„Und gibt’s was Neues?“, fragte ich sie.
„Ne. Er hat mir immer noch nicht geschrieben.“, sagte sie frustriert.
Sie meinte einen Jungen, den sie kennengelernt hatte, der in Darmstadt wohnte und mit dem sie per “sms“ Kontakt hielt. Sie würde sicher was von ihm wollen, wenn sie nicht mit ihrem Freund zusammen gewesen wäre und das schon seit zwei-einhalb Jahren.
„Das ist ja schon einige Zeit her, seit er geschrieben hat.“, bemerkte ich.
„Ja“, sagte sie kläglich, leicht verzweifelt. „ das ist mir auch aufgefallen. Soll ich ihm schreiben?“
Ich musste lächeln, da ich diese Frage schon so oft gehört hatte.
„Meinst du es würde dich glücklicher machen?“, fragte ich.
„Ja.“
„Dann schreib ihm.“, meinte ich, denn meistens wurde sie dadurch tatsächlich glücklicher. Mir ging es auch besser, obwohl die Gedanken, dass es der letzte richtige Tag war, ständig da waren.
„Wahrscheinlich sehe ich sie zum letzten Mal!“, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Ich lachte laut auf.
„Was ist so witzig?“, wollte Chantal wissen, die noch mit dem sms-Schreiben beschäftigt war.
„Ach nichts!“, meinte ich, dabei dachte ich: „Meine Güte, ich glaube wirklich daran.“
Wir redeten noch über alles Mögliche und Belangloses und ab und zu tauschten wir unsere Erinnerungen aus, was wir alles gemacht hatten.
„ Wie spät ist es?“, fragte sie. „ Ich muss um Eins zu Hause sein, da meine Mutter sonst alleine essen muss.“
Ich schaute auf meine Uhr. Es war viertel vor Eins.
„Die Zeit vergeht viel zu schnell.“, dachte ich. Anscheinend hatte ich sie traurig angeschaut, denn sie meinte:
„Sag mir doch, was du hast! Du bist die ganze Zeit schon so. Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst!“, ich sagte nichts dazu und schaute weg.
„Nivéa! Wozu sind wir beste Freunde, wenn du mir nicht alles erzählen kannst? Du hast mir doch sonst immer vertraut!“, sie klang verzweifelt, denn sie spürte, dass etwas anders war. Für mich war es eine Qual, denn ich wollte nicht, dass sie erfährt, was los war und andererseits wollte ich nicht, dass sie denkt, ich würde ihr nicht vertrauen. Ich lächelte sie an.
„ Es ist nichts. Ich hab dich verdammt dolle lieb und daran wird sich nie etwas ändern!“
Sie glaubte natürlich nicht, dass nichts wäre,das hatte ich erwartet.
„ Die Sonne scheint in unseren Herzen, auch wenn sie von dicken Gewitterwolken verdeckt ist!“
Mir standen Tränen in den Augen. Normalerweise war ich diejenige, die diesen Satz sagte, wenn es ihr nicht gut ging. Ich schaute auf die Uhr. Es waren noch drei Minuten bis zur vollen Stunde. Sie schaute mich mit einem Blick an, der sagte, dass sie gehen musste, aber nicht wollte.
„Wir telefonieren und treffen uns noch, ja?“, fragte sie.
„Ja.“, meinte ich knapp, doch hatte ich für mich beschlossen, dass es das letzte Mal war, dass wir uns sahen. Wir umarmten uns bewusster als je zuvor. Sie, weil sie nicht wusste, was los war und mir wenigstens so zeigen wollte, dass sie für mich da war. Ich, weil ich mir sagte und somit wusste, dass es das letzte Mal war, dass wir uns trafen. Wir liefen in entgegengesetzte Richtungen los, schauten beide zurück und winkten uns zu. Das letzte Mal.
Ich wollte nicht nach Hause, da ich wusste, dass eh keiner zu Hause war.
Ich fühlte mich so allein. Außer meiner Schwester, die noch nicht da war, wusste niemand, wann ich voraussichtlich sterben sollte. In mir waren eine unbeschreibliche Leere und Einsamkeit. Ich wollte nicht warten, dass Stunde um Stunde vergeht, bis zum nächsten Morgen, an dem ich sterben sollte. Schließlich nach einiger Zeit des Herumirrens, entschloss ich mich Essen kaufen zu gehen. Als ich zu Hause die Sachen in den Kühlschrank legte, war es halb zwei. Ich überlegte, was ich gerne zum letzten Mal zu Mittag essen wollte und entschied mich für Wutschi Wutschi mit Wau Wau. Ich musste lächeln, als mir der Name des Gerichtes einfiel. Eigentlich ist es ein Reiseintopf, Reis mit viel Gemüse. Ich lernte das von einer guten Freundin, die oft bei den Pfadfindern war. Seit ich es das erste Mal probiert hatte, war es mein Lieblingsgericht, das ich schon seit Langem nicht mehr gegessen hatte. Während ich das zubereitete, versuchte ich mich zu erinnern, wann und mit wem ich Wutschi Wutschi gegessen hatte. Es war jedes Mal sehr lustig gewesen, ich hatte das einmal mit Chantal gegessen, die sich nicht mehr halten konnte vor Lachen, schon allein wegen dem Namen des Eintopfes.
„Aber ist das jetzt auch lustig?“, fragte ich mich. „Nein!“
Aber die Erinnerungen waren schön, auch wenn diese als unwichtig erscheinen, sind sie doch gute und deswegen wichtig. Ich hatte keine Lust in der Küche zu essen, also setzte ich mich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Allerdings gab es, wie immer, nichts Interessantes zu sehen und so schaute ich eine schwachsinnige Talkshow an. Als ich fertig gegessen hatte, was etwas gedauert hatte, da ich jeden Bissen genoss, blieb ich noch etwas sitzen und legte meine Füße auf den Couchtisch. Anhand Teletext, wusste ich, dass es viertel vor drei war.
„Etwas mehr als ’ne Stunde und ich muss die Kleine abholen.“, bemerkte ich. Ich schaltete den Fernseher aus und ging in die Küche, um abzuspülen. Danach setzte ich mich in unseren überwucherten Garten. Diesen Garten mochte ich nie wirklich, weil sich keiner darum kümmerte und höchstens hier und da ein paar Blumen ins Beet zu pflanzen,welche dann ziellos vor sich hinwuchsen.
„Jetzt weiß ich, was ich mache!“, freute ich mich. Ich ging in unsere Gartenhütte, wo die Tür schon seit Jahren nicht mehr richtig zu ging, nahm eine Gartenschere und einen Rechen in die Hand und machte mich an die Arbeit. Zuerst schnitt ich die Büsche kürzer, damit diese nicht so überwachsen aussahen.
„Mit den Büschen ist es genauso, wie mit den Haaren. Wenn die Haare zu lang sind und nicht mehr geschnitten worden sind, fangen sie an zu splissen dann sieht es einfach nicht mehr schön aus.So ist es mit den Büschen auch.“, dachte ich. Nachdem dies getan wurde, schaute ich auf die Uhr und stellte fest, dass ich nur noch eine viertel Stunde hatte, um mich dann auf den Weg zum Kindergarten zu machen. Ich nahm den Rechen, setzte mich ans Beet und jätete das Unkraut. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht weniger wurde und war einerseits froh, dass ich mich zum Kindergarten aufmachen musste. Bei der Gartenarbeit war ich so konzentriert darauf es so schön wie möglich zu machen, dass ich ganz vergaß, was anders war als sonst.
„ Wie werde ich sterben? Werde ich einfach umfallen oder wie? Werde ich an einem Unfall sterben?“, fragte ich mich. Ich konnte mir nichts vorstellen. Der vorstellbarste Tod war ein Unfall.
„ Aber durch was werde ich umkommen? Werde ich überfahren? Oder werde ich im Haus irgendwie verunglücken?“
Ich schüttelte der Kopf, somit auch meine Gedanken.
„Das ist doch alles Schwachsinn! Nur weil du geträumt hast, dass deine Oma dir erschien und sagte, dass du in vierundzwanzig Stunden sterben wirst, glaubst du daran?! Wie kann das denn sein?!“, redete ich mir zu. Ich war zum Teil immer noch am Zweifeln, denn es gab einfach keine logische Erklärung dafür und sterben wollte ich sowieso nicht. Nun war ich am Kindergarten angekommen. Die Erzieherin machte mir auf und ich ging direkt zum Spielplatz des Kindergartens, denn ich wusste, dass die Kinder bei schönem Wetter immer draußen waren, so auch heute.
„Hallo Mäuschen!“, rief ich. Erst jetzt bemerkte sie mich und kam auf mich zugerannt, sodass ich sie in die Arme hob. Ich hängte ihr den Rucksack um, der im Flur aufgehängt wurde, nahm ihre Hand und verabschiedete mich. Da meine kleine Maus mit dem Auto in den Kindergarten gebracht wurde, konnte sie heute nicht mit dem Fahrrad zurückfahren. Normalerweise fing sie nach kurzer Zeit an zu meckern, aber diesmal ließ sie es erstaunlicher Weise bleiben.
„Was hast du heute im Kindergarten gemacht?“, fragte ich sie.
„Ich hab dir doch gesagt...ich vergiss es imma!“, das sagte sie immer und hoffte, dass wir es somit unterlassen würden, sie ständig zu fragen.
„Weißt du gar nichts mehr?“, fragte ich wieder.
„Nein“, sagte sie trotzig.
Wir fingen an ein fangähnliches Spiel zu spielen, damit meiner Schwester das “Nach-Hause-gehen“ nicht so lang vorkam.
„Ich kann die Kleine nicht alleine lassen.“, überlegte ich mir.
„Was soll sie denn so allein machen? Unsere Eltern kümmern sich nicht gut genug um sie! Wer soll mit ihr spielen? Wer soll sie trösten? Wer soll ständig ein offenes Ohr für sie haben? Ich kann nicht einfach auf einmal nicht mehr da sein!“
„Manno!“, hörte ich die Stimme meiner Schwester.
„Was ist denn?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort genau wusste.
„Du hörst mir nicht zu!“
„Tut mir leid, Maus!“, entschuldigte ich mich und gab ihr einen sehr dicken Schmatzer auf ihre Backe, sodass sie ausrief:
„Iiiih.“, und lachte.
„Soll ich dir noch einen so netten Kuss geben?“, neckte ich sie.
„Nein!“, schrie sie lachend auf und rannte vor mir weg. Ich lief ihr hinterher, in dem ich rief: „Der Kuss kommt! Der Kuss kommt!“
Schließlich hatte ich sie gefangen und gab ihr tausende Küsschen. Wir lachten uns kaputt. Als wir uns beruhigt hatten, nahm ich sie wieder an die Hand, da ich nach Hause wollte. Nach einiger Zeit, hörte ich den mir wohlbekannten Satz meiner Schwester:
„Meine Beine tun weh! Ich kann nicht mehr.“
„Ach Maus, wir sind doch gleich da.“, aber das glaubte sie mir nie.
„Nimmst du mich in die Arme?“
Ausnahmsweise, vielleicht, weil es mein letzter Tag war, nahm ich sie Hucke-Pack. Nach einer Weile musste ich sie allerdings wieder runterlassen, auch wenn sie nicht wollte, da sie mir zu schwer war und ich sie nicht mehr halten konnte. Als ich die Haustür aufschloss, bemerkte ich, dass die Tür nicht richtig zugeschlossen war.
„Habe ich sie nicht richtig zugesperrt?“, fragte ich mich, doch war ich mir sicher es getan zu haben. Ich trat in den Vorraum ein und zog der Kleinen die Schuhe aus, daraufhin meine. Als ich die Tür zum Korridor öffnete, lag ein Koffer auf dem Boden.
„Lia!“, schoss es mir durch den Kopf. Meine kleine Schwester wollte etwas sagen, da kam ich ihr zuvor:
„Siehst du den Koffer dort?“
Sie nickte.
„Was meinst du wer gekommen ist?“
„Mama und Papa?“, versuchte sie. Sie freute sich, dass jemand gekommen war, obwohl sie nicht wusste, wer.
Ich schüttelte den Kopf.
„Lia!“, sagte ich.
Sie überlegte noch kurz und fragte schließlich:
„Ist Lia gekommen?“
Sie vernahm ein Nicken.
„Komm, gehen wir zu ihr hoch.“
Ich nahm sie an der Hand und wir gingen zu Aurelia. Meine große Schwester lag im Bett.
„Pst.“, sagte ich zur Kleinen. Ich schaute meine Schwester an.
„Wie friedlich sie schläft.“, dachte ich.
Die Kleine grinste über beide Ohren und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. In dem Moment, als ich der kleinen Maus ein Zeichen machte, dass wir wieder gehen, wachte die Große auf.
„Hallo Nivéa.“, sagte sie verschlafen. „Hallo Muck.“
„Hallo Lia.“, begrüßte ich sie mit einer Umarmung und die Kleine kam dazu.
„Wann bist du hier angekommen?“, fragte ich.
„Ich war so viertel nach vier hier, aber ich hatte keinen Schlüssel!“
„Wie üblich.“, sagte ich grinsend, denn es war jedes Mal dasselbe, aber zum Glück, hatte unser Nachbar einen Ersatzschlüssel.
„Und nachdem du bei Ingo warst und dir den Schlüssel geben ließest, hast du dich ins Bett gelegt, was?“
„Stimmt.“, meinte sie. Lia streckte sich und setzte sich an die Bettkante.
„So! Jetzt erzähl noch mal was geschehen ist." , verlangte sie.
Somit erzählte ich ihr die Erscheinung meiner Großmutter und den Ablauf des Tages. Während ich berichtete, kam es mir so vor, als ob ich irgendeine Geschichte erzählen würde, die nichts mit mir zu tun hatte. Als ich geendet hatte, sagte Lia:
„Wahrscheinlich hast du nur geträumt, dass Oma dir erschien.“
Ich schüttelte energisch den Kopf:
„Das dachte ich mir zuerst auch, aber es war KEIN TRAUM! Paar Tage bevor du den Unfall hattest, erschien sie mir auch und es traf tatsächlich ein!“, ich machte eine kleine Pause, „und jetzt war sie in meinem Zimmer, als ich aufgewacht bin! Ich bin mir sicher, dass es nicht irgendeine Einbildung war.“, ich war verzweifelt.
„Ist ja gut!“, versuchte sie mich zu beruhigen, „ es fällt mir einfach zu schwer es zu glauben. Es erscheint so irreal.“
„Ich weiß, das ist ja das Schlimme. Ich kriege Angst, Lia. Ich weiß nicht, wie es passieren wird. Ich weiß nicht, ob es weh tun wird.“
Aurelia wusste nicht, was sie sagen sollten, somit hielt sie mich umarmt und streichelte mein Haar.
„Ich hab dich so lieb.“
„Ich dich auch, meine Kleine!“
„Weißt du, wie spät es ist?“, fragte ich Lia nach einer Weile.
„Du willst es doch gar nicht wissen. Willst du wirklich wissen, wie Minute um Minute vergeht, damit du weißt, wieviele dir noch übrig bleiben?“
Sagen konnte ich dazu nichts, denn sie wusste genau, dass es nicht so war. Somit schüttelte ich einfach nur den Kopf.
„Wo ist eigentlich Muck?“, fragte Lia.
„Sie müsste in der Abstellkammer sein.“, vermutete ich richtig. In der Abstellkammer waren viele Kindersachen, somit auch Spielsachen, von Lia und mir. Wir gingen zu der Kleinen, die gerade ein altes Bilderbuch entdeckt hatte und darin rumblätterte, als das Telefon klingelte. Zum Glück hatte meine große Schwester das Telefon in ihr Zimmer genommen, denn sonst hätte ich vom zweiten Stock zum Erdgeschoss laufen müssen, um dann abheben zu können – was meistens zu spät war.
„Ich geh schon.“, meinte ich. Am Telefon angekommen, schaute ich zunächst auf die Nummer des Anrufers, die angezeigt wurde und stellte fest, dass Chantal anrief. Ich nahm nicht ab. Es klingelte weiter. Ich hockte mich auf den Boden und weinte. Es war das erste Mal, dass ich nicht abnahm, wenn sie anrief.
„Nivéa?“, hörte ich Lia rufen, „ist alles in Ordnung?“
Außer einem Schluchzen brachte ich keinen Ton heraus.
Lia kam zu mir und fragte, wer denn angerufen hatte, aber das brachte mich noch mehr zum Weinen. So tröstete sie mich solange, bis ich ihr sagen konnte, wer angerufen hatte.
„Und warum wolltest du nicht mehr mit ihr reden?“
„Ich weiß nicht, wie ich’s dir erklären kann. Nun, ich hatte Chantal ja schon gesehen und da habe ich ihr schon nicht gesagt, was mit mir los war, denn ich dachte, sie würde mir eh nicht glauben. Und ich kann, na ja beziehungsweise will mich nicht von ihr verabschieden. Ich hab’ es in meinen Gedanken getan, aber ohne ihr Wissen, wenn du verstehst, wie ich’s mein.“
Lia nickte.
„ Was wird sie denn ohne mich machen? Es kennt sie eigentlich niemand so gut, wie ich. Ich weiß alles von ihr.“
„Sie wird schon jemanden finden, mit dem sie sich gut versteht. Aber eines sei dir gewiss, sie wird dich niemals vergessen.“
Meine liebe Schwester verstand mich genau. Sie wusste,was meine Sorgen waren. Ich hatte einfach Angst, dass Chantal mich vergisst.
„Was wird Mama dazu sagen? Ich habe die Frage jetzt blöd gestellt, aber... Ach, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“
„Ich weiß schon, was du meinst. Sie würde es wohl genauso wenig verstehen wie ich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich persönlich glaube nicht, dass du sterben wirst. Wie soll es denn funktionieren? An was?“
„Ach Lia. Ich weiß es selbst doch auch nicht. Aber nehmen wir mal an, dass es so sein wird, Mama wird bestimmt dir die Schuld geben. Ich will nicht, dass du den ganzen Ärger bekommst, obwohl du nichts dafür kannst.“
„Mach dir keine Sorgen meine Liebe. Das dürften deine geringsten Sorgen sein. Du wirst nicht sterben.“
„Ich weiß zwar nicht, wie es ablaufen wird. Ich weiß aber, dass es passieren wird und diese Ungewissheit, wie es passieren wird, macht mich noch wahnsinnig!“
Ich hörte den Magen meiner großen Schwester knurren.
„Oh! Da hat aber jemand Hunger. Ich hab’ eingekauft.“
„Oh ja, ich habe einen Riesen Hunger. Jetzt weiß ich wie es passieren wird. Ich werde dich aufessen.“, scherzte sie. „Jetzt schau nicht so, es war nur ein Witz.“
Als wir an der Kleinen vorbeikamen, fragte ich sie, ob sie auch essen will. Diese bejahte die Frage laut.
„Wie werde ich beerdigt? Werde ich im Sarg vergammeln oder will ich verbrannt werden? Wird vielleicht eine Untersuchung unternommen, an was ich gestorben war?“ , überlegte ich mir. Auf all die Fragen, fand ich keine Antwort. Ich wollte mich auch gar nicht damit auseinandersetzen.
Die Kleine erzählte, dass im Kindergarten ein Mädchen zu ihr gemein war. Wir trösteten sie und ich erinnerte mich, wie gemein Lia früher zu mir gewesen war.
„Weißt du noch, als ich dich in eine Umzugskiste gesperrt hatte?“, auch Lia erinnerte sich an die alten Zeiten.
„Oh ja.“, meinte ich, denn das behielt ich seit Jahren in meinem Gedächtnis. Meine große Schwester lachte.
„Du warst in der Kiste und ich habe irgendwelche Bretter auf die Kiste gelegt, damit du nicht rauskonntest. Daraufhin ging ich hoch.
„Ich fand das total gemein und habe dich gerufen.“
Ich hatte immer noch das Dunkel in der Kiste vor Augen.
„Schließlich fand ich das doch etwas übertrieben und kam zurück, aber rausgelassen hatte ich dich noch nicht. Du sagtest immer wieder, dass du gleich rauskämest.“, Lia verlor sich in einem Lachkrampf.
„Du hast mich nicht gelassen und hast immer gesagt, ich könnte nicht heraus, denn sonst würden die Bretter herunterfallen...“
Meine kleine Schwester schaute etwas irritiert, da sie nicht ganz verstand, um was es ging. Früher hatten Lia und ich uns nur gestritten und da sie die Ältere war, hatte ich gegen sie nie eine Chance. Dafür verstanden wir uns jetzt umso besser. Unsere Unterhaltung blieb bei den Erinnerungen, die wir von unserer Kindheit hatten. Meine kleine Schwester wollte den Platz von der Küche ins Wohnzimmer wechseln, wo wir die Unterhaltung fortführten. Ich verlor gänzlich das Zeitgefühl. Ehe ich mich versah, war es zehn Uhr abends. Die Kleine war auf der Couch eingeschlafen, während sie leise Fernseher geschaut hatte. Ich merkte, wie die Energie aus meinem Körper wich und fragte Lia, ob wir nicht alle in meinem Bett schlafen wollten.
„Ja, das ist eine gute Idee.“, meinte sie.
Ich merkte, dass sie nicht glaubte, dass ich in 12 Stunden sterben sollte, sagte aber nichts. Ich nahm die Kleine in die Arme, was sich zunächst als etwas schwierig erwies, da sie sich in dem Moment streckte, als ich sie heben wollte. Schließlich brachte ich sie in mein Bett, das ein ehemaliges Ehebett war, in dem wir ohne Probleme zu dritt schlafen konnten. Nachdem wir uns bettfertig gemacht haben und uns schließlich ins Bett legten, klärten wir die Frage, ob wir ohne oder mit Musik schlafen wollten.
Ich kramte eine CD von Chopin hervor und legte sie in den Recorder. Da ich nur ein bestimmtes Stück hören wollte, stellte ich noch auf ‚Repeat’, bevor ich es laufen ließ. Nach einiger Zeit vernahm ich die Stimme meiner großen Schwester, die am Rande des Bettes lag. Hauptsächlich aus dem Grund, da sie in der Nacht oft auf Toilette muss.
„Das ist ein schönes Stück.“, meinte sie.
Meinerseits kam eine leise Zustimmung.
Das Stück, so kam es mir vor, erzählte mir die schönen und schlechten Zeiten meines Lebens. Seit ich geboren war bis jetzt, wo ich mit meinen zwei Schwestern, die ich sehr lieb hatte, im Bett lag. Mir konnte kein besseres Glück widerfahren, als diese Schwestern.
„Ich hab dich ganz dolle lieb.“, sagte ich zu Lia.
„Ich dich auch. Gute Nacht.“
„Gute Nacht und träum was Süßes.“, wünschte ich ihr.
„Du auch.“
Lia schlief früher als ich ein. Ich konnte nicht einschlafen, beziehungsweise ich wollte nicht, da ich Angst hatte vor dem folgenden Tag. Ich fühlte mich zufrieden, sodass ich nicht akzeptieren wollte, dass es womöglich meine letzte Nacht war. Schließlich fielen mir die Augen zu. Ich träumte, dass ich fliegen konnte, die Erde umrundete und viele Länder und Kulturen kennenlernte. Mein größter Traum war es schon als Kind eine Weltreise zu machen. Hier war sie. In meinem Traum. Ich flog über wunderschöne Landschaften. Und die Wolken. So weich. Ich flog nach Thailand, nach Bangkok, eine atemberaubende Stadt, nach Chiang Mai, wo Lara wohnte, die in den Ferien nach Frankfurt kommt und bei meinen Nachbarn wohnte. Ich flog nach Peking, wie eng alles dort war. Da es mir dort nicht so gefiel, flog ich weiter nach Neuseeland, ein wunderschönes Land. Hier gefiel es mir gut, aber ich wollte weiter, da ich erst so wenig von der Welt gesehen hatte. Ich flog nach Lateinamerika, nach Afrika, nach Europa...einfach überall wo es mich gerade verlangte. Es war himmlisch. Aber das Schönste war über den Wolken. Von diesem Traum wollte ich nicht mehr aufwachen. Es gab noch so viel zu sehen...
Am nächsten Morgen wachte ich auf und sah uns drei ineinander verschlungen. Beide schliefen noch tief und fest. Auch ich war müde. Sehr müde, aber ich war glücklich. Ich lächelte und schloss die Augen. Mit einem Mal wusste ich, dass es nicht weh tun würde. Ich erinnerte mich der Worte meiner Großmutter, ich würde keine Schmerzen haben. Ein schmerzloser Tod. Tod? Freiheit....