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12.07.2009
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Kapitel 1

„Bitte charakterisieren Sie sich in fünf Sätzen.“ Die Aufgabe irritiert mich. Auch deshalb, weil dem Satz genau fünf freie Linien zur Erfüllung dieser Aufgabe folgen . Fünf Sätze, fünf Linien, mein ganzer Charakter.

Erster Satz: Ich bin ein Mensch. Zweiter Satz: Der sich nicht in fünf Sätzen erklären will. Dritter Satz: Der diese Aufgabe irritierend findet. Vierter Satz: Der gerne kontinuierlich schreibt. Fünfter Satz: Der sich gerne Geschichten erzählt.

Geht doch, denke ich mir und kontrolliere, ob Satzzeichen fehlen, ob Rechtschreibfehler vorliegen, ob es leserlich geschrieben ist. Wäre doch schade, wenn die Beschreibung meines Charakters fehlerhaft wäre... vor allem, da sie ja von mir stammt. Ich gebe natürlich zu, dass meine Angaben in erster Linie meinen Drang zum Kokettieren ausdrücken, aber das gehört wohl auch zu meinem Charakter und passt ausserdem genau in die fünf Linien. Ich habe den Berufsberater aufgesucht, um einen Standpunkt in meinem Leben auszuloten. Um Ideen für meine Zukunft zu sammeln und positives aus meiner Vergangenheit zu recyceln. Ich gebe gerne zu, dass es für mich nicht das erste Mal ist, dass ich mich selber besser zu verstehen hoffe, indem ich mich Persönlichkeitstests unterziehen lasse. Doch auch für diesen hier fällt meine private Prognose eher trüb aus. Auch dieser würde mir nicht mehr oder weniger Erkenntnisse über mich selbst vermitteln als alle anderen vor ihm. Und ein paar Selbsterkenntnisse wären mit fünfundzwanzig ja auch nicht mehr unbedingt ein Luxus... aber aus Gründen, die ich ebenso wenig verstehe wie mich selbst, lasse ich das nicht zu. Ich lege also kurzerhand meinen Schreiber weg, stehe auf und verlasse das Zimmer, das sich für mich leider nicht als Raum der Offenbarung herausstellte. Meine Augen huschen über eine wahnsinnige Masse von beratender Literatur und Broschüren jeglicher Art, mit der Hand greife ich hastig nach der Glastüre und flüchte aus der Halle der Ratschläge hinaus in die Freiheit. Zigarette in den Mund, anzünden, die Augen ans Licht gewöhnen lassen und dann klopfe ich mir väterlich auf die Schultern. „Keine Ahnung wer du bist, aber wir müssen wohl noch eine Weile miteinander auskommen.“ Ohne wirkliche Glücksgefühle mache ich mich auf zum Bahnhof. Die Sonne brennt vom Himmel und ich stelle mir vor, wie ich mich schichtweise durchlässig machen kann, um die Wärme nach innen zu leiten. Stelle mir vor, wie ich dadurch leichter wäre und auf den Sonnenstrahlen gehen könnte... Schritt für Schritt würde ich mich durch die Luft nach sicherem Halt tasten, bekäme aber schnell Routine und Sicherheit, könnte dadurch immer schneller werden und schlussendlich mit dem Licht verschmelzen um mit rasender Geschwindigkeit jeden Punkt auf der Welt zu erreichen, solange es dort gerade Tag ist. Ich könnte die Wärme speichern und direkt in die Herzen trauriger Menschen leiten um ihnen übermenschlichen Trost zu spenden. Instant-Trost durch Lebenslicht und ich wäre den ganzen Tag unterwegs um die Menschen zu trösten und um ihnen Hoffnung zu schenken, ich müsste mich jede Stunde der Zeitzone anpassen und dürfte nur noch am Tag existieren, da mich die Nacht leeren würde. Wenn die Nacht mich kriegt, könnte ich nur noch Kälte und Trauer verbreiten, mein Gesicht bekäme harte Züge und meine Augen einen düsteren Glanz und.... Vorsicht Ampel... der hätte mich beinahe erwischt!! Ich warte, bis die Ampel grün wird und gehe über die Strasse, überlege mir kurz, wohin ich will und ob ich Hunger habe. Nein, doch kein Hunger. Mit schnellerem Schritt folge ich der Strasse um meinen Zug zu erwischen und spüre das Vibrieren in meiner Tasche. Mein Bruder erkundet sich per SMS über meinen Standort und meine Pläne. Er habe die Arbeit beendet, ob ich ihn abholen und auf einen Kaffee einladen könne. Wieso ich ihn einladen soll, schiesst es mir durch den Kopf, freue mich aber auf die Aussicht auf eine Tasse meines begehrten Suchtmittels Nummer 2.
Wir sitzen draussen und der Fluss plätschert an uns vorbei. Menschen gehen an uns vorbei, plappernd, stampfend, eine Melodie summend, telefonierend am Diskutieren, gehetzt und geniessend. Mein Bruder erzählt von einem anarchistischen Freund, wie er dank eines Bekannten in seinem jugendlichen Umfeld einer Rauferei entgehen konnte. Er geht an jede Demo, organisiert Konzerte und Sammelt Unterschriften für politische Ziele. Scheinbar hatte er einen guten Draht zum Alphamännchen der natürlich rechts orientierten rivalisierenden Gruppe vom Vorabend. Er habe jenem jedoch Freundschaft entgegengebracht als er noch kein Alphamännchen war und deshalb habe er den Schutz ein paar Jahre später gratis beziehen können. Spannend vor allem, dass man sich scheinbar einer solchen Diplomatie bedienen muss, um nicht verprügelt zu werden, denke ich. Eine Frau zieht an uns vorbei mit einem Kind an der Hand und in ihren Augen erkenne ich Verzweiflung. Häusliche Gewalt, fehlende Unterstützung, Streit mit den Eltern, Verlust eines geliebten Menschen, Herzschmerz wegen Betrug... ich weiss es nicht. Instant-Trost durch Lebenslicht schiesst es mir durch den Kopf und ich ärgere mich über meine Unfähigkeit. Ich frage meinen Bruder, wie es sein könne, dass man durch Freundlichkeit vor Jahren heute Schutz beziehen könne, wenn die Rivalität doch von ideologischer Natur sei. Er zuckt mit den Schultern und macht mich darauf aufmerksam, dass die Ideologie wohl eher zur Identifikation diene. Trotzdem wollen sie sich für diese Ideologie prügeln, antworte ich kopfschüttelnd und er erkennt, dass er mich in einen Zustand versetzt hat, den er nicht beabsichtigte. „Es ist doch schön, dass es zurückkommt, wenn man nett ist, das ist alles.“ Er wirft mir den Blick zu, den ich schon lange kenne: Denk nicht soviel, achte darauf, was ich sehe! Ich antworte ihm mit meinem Lächeln, das er wohl ebenso lange kennt: tut mir leid, du hast recht... manchmal glaube ich, dass er mich in dieser Welt hält, dafür sorgt, dass ich nicht nur ein Hirngespinst werde sondern die Realität akzeptiere. Ich betrachte meine rechte Hand und wünsche mir, ich könnte sie glühen sehen.
Auf dem Heimweg sitze ich im Zug, schaue aus dem Fenster und achte auf die Details, die ich auf dieser Strecke auswendig kenne. Ich achte darauf, ob sich etwas verändert hat, ob ich etwas Ungewöhnliches zu sehen kriegen könnte. Entgegen meiner Hoffnungen, allerdings absolut kohärent zu meinen Erwartungen, ist da nichts auf der Strecke, dass mich für eine Sekunde aus meinem Dasein riss.

Kapitel 2

Zuhause angekommen lege ich mich zu einer Siesta auf den Liegestuhl auf dem Balkon... nur kurz die Augen schliessen um wieder zu Kräften zu kommen. Ich stelle mir vor ins Koma zu fallen, in ein selbst gewähltes versteht sich. Um mich herum wächst eine Blase aus bläulich, grünem Licht das sich langsam ausweitet, regelmässig in alle Richtungen. Alles was in die Blase kommt, wird erfüllt mit neuem Leben, erhebt den Kopf und alle Krankheiten und jede Angst verfliegen im Nu. Keine Waffe kann jemals in dieser Blase benutzt werden, keine Gewalt kann angewendet werden und keine Verletzung findet sein Ziel. Langsam aber stetig weitet sich die Blase aus, bis sie die Welt umschliesst und die Welt pendelt sich in einen Zustand der Ausgewogenheit, total entspannt und ohne Zwang. Und irgendwo liege ich auf einem Balkon, das ehemalige Zentrum der Blase bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie der Welt übergeben habe. Und die Sonne scheint warm und freundlich auf den Liegestuhl... warm und freundlich glänzt sie mir entgegen... und die Blase gehört der Welt..... und den Menschen.

Aufwachen, Kaffee trinken, wieder in die Gänge kommen, ich rauche eine Zigarette am Fenster. Die Sonne steht tief, der Wind wurde kühl. Die Leute kommen vom Bahnhof und suchen sich ihren Weg um nach Hause zu kommen, möglicherweise dem baldigen Abendessen entgegen. Ich ziehe mich um, mach mich fein, lasse die Wohnungstür hinter mir zuknallen und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Ein kleiner Besuch nur bei einer Kollegin die umgezogen ist und die mit mir doch unbedingt einmal ein Glas Wein auf ihrem Balkon trinken möchte. Ich weiss ganz genau, dass sie mehr vorhat. Ich spüre ihren Plan mich um den Finger zu wickeln, mich zu verführen und mir am nächsten Tag das Leben zur Hölle zu machen, weil ich nun doch nicht mit ihr alt werden möchte. Trotzdem mache ich mich auf den Weg, verfluche aber, mit einem gewissen altväterlichen Unterton, meine Hormone und steige in den Zug. Wie schön wäre es siebzig zu sein und mit der Liebe seines Lebens in der Gartenlaube zu sitzen und den letzten Vögeln des Abends zu zuhören wie sie ihr Gutenachtlied singen. Mit einem kleinen Glas Wein in der einen Hand und die Liebste im Arm, zufrieden mit dem Leben und im Frieden mit sich selbst. Aber um ehrlich zu sein habe ich mir mit sechzehn schon vorgestellt, wie ausgeglichen und unbesorgt ich mit fünfundzwanzig sein werde und da hat’s ja schliesslich auch nicht geklappt. Die Zugreise endet. Immerhin wohnt sie nicht im selben Ort wie ich, somit dürfte es nicht zu schwer werden die künftigen Wege gezielt zu trennen. Mit einem breiten Grinsen entsteige ich dem Zug und gehe in die vorgegebene Richtung. Die Nachricht mit der Wegbeschreibung wurde so verfasst, dass sogar ein Blinder noch ankommen würde, wenn man sie ihm vorlesen würde. Wahrscheinlich steht diese kleine Tatsache im unmittelbaren Zusammenhang mit der Sehnsucht der Verfasserin nach Zuneigung. Und da stehe ich, vor der Tür in eine Zeit in der ich mich schlecht fühlen werde weil ich aus purem Egoismus und unkontrollierter Triebhaftigkeit einer Person körperliche Liebe entgegenbringen werde, die ich auf keinen Fall über den heutigen Abend hinausziehen möchte. Schlimmer noch, in ein paar wenigen Stunden werde ich überhaupt keine Verpflichtung dazu verspüren und in einer Woche werde ich nicht einmal mehr über die jetzige Befürchtung nachdenken, dass ich ihr weh tun werde. Schnell schaue ich auf meine Hand um festzustellen, ob es wirklich mein Finger war, der den penetranten Ton auf der anderen Seite der Türe ausgelöst hatte. Mist, es war meiner... Tief einatmen, konzentriertes horchen auf die Bewegungen in der Wohnung, ein nicht ganz so überzeugtes Stehenbleiben. Und da steht sie in der Tür, hübsch, jung und hinreissend angezogen. Nicht brav, denn meine Vorlieben kennt sie noch, sondern genau die richtige Mischung von Eleganz und Verruchtheit, die ich mag. Für einen Moment überlege ich mir, ob sie seit unserer letzten Affäre den Kleidungsstiel meiner Vorliebe beibehalten hat, oder sich einfach ein Outfit für heute ausgesucht hat, das mir ihres Wissens zusagen würde. Die zwei Küsse auf die Wangen fallen sehr zärtlich aus und ihre Lippen bleiben gleich daraufhin nahe an meinen, keck abwartend. Ich grinse und ziehe meine Jacke aus. Vielleicht will ich mich damit überzeugen, dass der Ausgang des Abends noch offen steht und das unvermeidliche verhindert werden könnte. Beim Eintreten spüre ich allerdings eine Hand auf meinem Allerwertesten, was jegliche Zweifel über die Pläne der jungen Dame verfliegen lässt. Der Wein schmeckt gut, das Gespräch hingegen ist langweilig und sinnlos. Aber der Abend ist lau, angenehm und die Wärme aus dem Glas lässt mich sehr entspannt den Dingen, die da kommen mögen, entgegen treten. Doch sie treten nicht, sie galoppieren. Ohne die letzten Worte richtig beachtet zu haben, jedoch trotzdem eine einigermassen sinnvolle Antwort gebend, spüre ich ihre Hand, nicht auf den Oberschenkeln sondern schon dazwischen und noch bevor ich ausloten kann, ob sie denn vorher auf dem Oberschenkel war, habe ich ihre Zunge im Mund.

Meine Kompetenzen in Sachen Abschied lassen zu wünschen übrig. Vom Wegschleichen halte ich generell wenig. Von hinterlegten Zettelchen noch weniger, da ich glaube, dass eine Flucht an sich genug aussagekräftig ist. Zudem versuchen hinterlegte Nachrichten, dass eigene Gewissen zu beruhigen und dass nervt mich nach einer Nacht der körperlichen Liebe. Und so sitze ich hier, ihre Zunge bereits in meinem Hals und die Hand immer noch in meinem Schritt obwohl Schrittweise tiefer gebohrt durch die stofflichen Schichten meiner Kleidung. Und ich denke darüber nach, wie ich, nach dem Geplänkel, am einfachsten verschwinden könnte. Mit anderen Worten, und das erschreckt mich nun wirklich: Ich bin überhaupt nicht in Stimmung! Wenn man davon ausgeht, dass ich mit 25 eigentlich noch in einem triebhaften Alter sein sollte, so ist es geradezu erschreckend wie sehr ich nicht in Stimmung bin und mit aufkommendem Humor über die Situation blinzle ich der flüssigen Lösung meines Problems zu. Also rücke ich die Ursache sanft ein wenig von mir weg und greife mit der rechten Hand nach dem Wein. Der Wink wurde nicht nur nicht verstanden, sonder fehlinterpretiert und anstatt mir die Zeit zu lassen in Stimmung zu kommen – mit Hilfe des Weins – kniet sie sich vor mich hin und fummelt an meiner Hose. Das reicht! Die sonst schon amüsante Situation wird grotesk und ich mache meinem Unbehagen mit einem lauten Lachen Luft. Und siehe da, keine Fehlinterpretation mehr möglich! Immer noch vor mir kniend schaut sie mir in die Augen mit einem unglaublich verstörtem Blick. Ich nehme ihre Hände, die durch mein Lachen wie gelähmt noch immer auf meinem Schritt ruhen, und ziehe sie hoch, setze sie auf meinen Schoss und umarme sie. Ob instinktiv oder einem tiefen Bedürfnis folgend erwidert sie die Umarmung und intensiviert sie noch, nach dem ich ihr ins Ohr flüstere, dass ich daran zweifle, dass es das ist, was sie im Moment brauche. Ihre Reaktion auf meine Worte macht mir plötzlich klar, in welche Misere ich mich jetzt gebracht habe. Nicht nur, dass ich auf den Sex verzichten muss! Nein, jetzt werde ich mir eine genaue Schilderung ihrer emotionalen Situation anhören müssen und davonschleichen wird erst recht unmöglich. Der angerollte Stein nimmt seinen Lauf, ihr Leiden bekommt eine Form und meine Gedanken schweifen ab, was sie allerdings nicht bemerkt. Es sprudelt ihr unter Tränen heraus und mein Mitleid nimmt zu, allerdings auch die Gewissheit, dass ich damit nichts verändern werde.

Ihr Zustand ist mir bekannt. Von mir und anderen. Dieses Gefühl, dass man ungerecht behandelt wurde, mit der damit verbundenen Lebensunlust und der Traurigkeit darüber, dass man „es“ mit sich machen liess und dass es Menschen gibt, die „es“ einem antun. Man sitzt in der Talsohle und sieht den Himmel nicht mehr und das schlimmste ist, dass auch alle Dinge, die man irgendwo aufgestaut hat, nun auf einen runter prasseln. Der Zustand ist mir bekannt und auch die Gewissheit, dass man darin niemals erkennt, dass es eigentlich immer das Selbe ist. Vergangene, ebenso schlimme Situationen werden ausgeblendet und vergangene glückliche Momente werden ferne Punkte der persönlichen Geschichte, die man sich zurückwünscht, ohne zu begreifen, dass auch diese Punkte auf dem Weg liegen, der zu diesem Zustand führte. Natürlich gibt es Kämpfer, gibt es Melancholiker, depressive, aggressive und passive Menschen. Es gibt die Religion die einen stützen kann und das Pech, das einen unten hält, aber alles in allem sind das eher Faktoren, die die Symptomatik beeinflussen anstatt den Zustand selber. Und das einzig wirklich amüsante an der ganzen Geschichte? Die Tatsache, dass nichts mehr einfach ist und dass man Ratschläge ignoriert, die man schon mehrmals anderen gegeben hat.

Ich habe aufgegeben Ratschläge zu verteilen, die ich selbst nicht befolgen würde. Meiner Erfahrung nach hilft es viel mehr, wenn man die Klappe hält, das Gegenüber erzählen lässt und in jedem Punkt einverstanden ist, solange es nicht darum geht, irgendein Leben zu beenden. Ich glaube nicht, dass man sein Leid dadurch teilen kann, ich glaube vielmehr, dass die Tatsache, dass jemand den Zustand respektiert, die Berechtigung ausstellt, sich schlecht zu fühlen. Und irgendwie fühlen sich die Menschen dabei besser, als ob sie Angst hätten, dass das wirkliche Problem darin bestehe, dass sie verrückt werden oder diesem Zustand aufgrund einer Krankheit verfallen sind. Die Gewissheit, dass sie „normal“ sind, beruhigt sie, auch wenn man ihnen keine Lösung auf dem Silbertablett angeboten hat. Und Alkohol, Alkohol und der darauf folgende Kater, der automatisch die Berechtigung zum noch häufigeren Klagen gibt, helfen ungemein. Drei Stunden und vier Flaschen Wein später ist sie reif fürs Bett. Ich fülle ihr eine Flasche Wasser und stelle sie gut sichtbar neben das Bett, schliesse die Schlafzimmertüre und setze mich auf den Balkon. Ich weiss nicht, was mich in ihrer Wohnung hält... trotz angetrunkenem Zustand kann ich die Hoffnung auf Sex und das Bedürfnis am nächsten Morgen für sie da zu sein, als mögliche Gründe ausschliessen. Ein Blick auf die Uhr erklärt allerdings meine Anwesenheit, denn die Hoffnung auf einen Zug um diese Zeit wäre vergeblich. Also, eine wunderbar bequeme und absolut ereignislose Nacht auf dem Sofa. Mit ein wenig Unlust im Magen begebe ich mich zum Kühlschrank und senke meinen Blick auf eine ganz stolze Menge von Alkoholika die mir die junge Nacht ein wenig versüssen wird. Grosszügig schenke ich mir Rum in ein Glas, gebe ein paar Eiswürfel dazu und fülle das ganz mit ein wenig Cola bis zum Rand. Mit einer kleinen Vorfreude öffne ich die Balkontüre, setzte mich auf den bequemen Sessel, zünde mir eine Zigarette an, schlage die Beine übereinander und nehme einen grossen Schluck aus dem Glas. Das Gespräch mit ihr geht mir durch den Kopf und ich kontrolliere, ob ich etwas übersehen habe, Signale unbeachtet lies oder etwas falsches gesagt habe, dass vielleicht in eine unbequeme Situation führen könnte. Doch ich schätze die Lage weiterhin als Phase ein. Und nach dem nächsten grossen Schluck bin ich mit meinen Gedanken schon ganz woanders. Nach ein paar weiteren Schlücken nehmen meine Gedanken Formen an. Ich erhebe mich und Schreie mit ganzer Kraft in die Nacht und kurz bevor mir die Luft ausgeht und der Schrei beendet würde, steigt mein Körper mit ein und wieder ein bisschen später beginnt die Luft um mich herum zu zittern, von Aussen sieht man mich im Zentrum einer riesigen Explosion aus Licht. Von weitem ist das Zentrum kugelförmig doch schon bald wird daraus eine Ellipse und wenn sich das Licht wieder Schritt für Schritt zurück zieht, habe ich ein Paar riesige weisse Flügel auf dem Rücken und mit einem Satz springe ich Richtung Himmel. Aus Wolken und Mondstrahlen schmiede ich mir ein Schwert, das man nicht sieht und das kein Papier schneiden kann, aber wenn es durch den Körper fährt verbrennt es die darin wohnende Seele und lässt den Körper kalt und ausgelutscht zu Boden sacken. Und ich jage sie alle. Ich jage alle, die andere aus Egoismus leiden lassen und schneide ihnen die Seele heraus. Und jedes Mal, wenn jemandem auf der Welt die Seele schmerzt, spüre ich es, ich fühle die Agonie in jeder Faser und meine Flügel tragen mich zum Täter.

Kapitel 3

Um fünf Uhr nehme ich den Zug nach Hause. Der Bahnhof ist fast leer. Die paar einzelnen Gestalten in der Dämmerung warten reglos auf ihre Züge. Ich harre mit ihnen, jedoch bei weitem nicht so reglos wie sie. Nach wie vor unter dem Einfluss des Alkohols stehend, wanke ich ein bisschen in alle vier Himmelsrichtungen. Ich bin müde. Der Zug fährt ein, laut bremsend und den Boden zum Vibrieren bringend hält er, entlässt die Fahrgäste, nimmt neue auf und fährt weiter. Ohne mich. Statt dessen wechsle ich das Gleis, nehme den eben eingetroffen Zug in die andere Richtung, steige bei der nächsten Haltestelle aus und setze mich in das einzige Café, dass schon geöffnet hat. Da der Kaffee nicht literweise sondern tassenweise ausgeschenkt wird, bitte ich um eine und schaue aus dem Fenster. Der hier etwas grössere Bahnhof wird bereits von einem regen treiben beseelt. Früher waren es solche Momente in meinem Leben, in denen ich mich unproduktiv fühlte, in denen ich ein schlechtes Gewissen hatte und eine Arroganz entwickelte, die es mir ermöglichte, all die fleissigen Bienchen, die arbeiten gehen bevor ich nach Hause komme, zu belächeln. Zum Glück konnte ich mir das abgewöhnen. Ich betrachte die Gesichter, die meist unglaublich müde wirken. Aber sie strahlen auch eine gewisse Wärme aus, die ich früher nie sah, als ob sie die Nestwärme einen Teil des Weges mitnehmen könnten. Und aus der Arroganz entwickelte sich ein gewisser Neid. Wenn ich schlafe, dann nur weil wach bleiben keine Alternative mehr ist und wenn ich aufwache, dann ohne Schlummern. Das System wird kompromisslos hochgefahren und der Ruhezustand unerträglich. Für mich scheint allerdings der Schlaf der Gerechten, den sich die Menschen vor dem Fenster nun aus den Augen Reiben, viel mehr mit Watte zu tun zu haben. Ich glaube, es ist Mittwoch. In meinen Gedanken versunken höre ich die Stimme aus dem Radio wie durch einen Vorhang, den man im Kino durchschreiten muss um in den Saal zu kommen. Dumpf, dunkel und wie von weither. Die Worte scheinen nicht real zu sein und ich kann mich nicht entscheiden, ob sie meiner Fantasie entstammen oder wirklich gesprochen werden. Bevor ich mich allerdings entscheiden kann, schliessen sich die Lautsprecher des Bahnhofs dem surrealen Sprecher des Radios an. Laut und deutlich bitten sie die Menschen, so schnell wie möglich nach Hause zu gehen oder die öffentlichen Schutzräume aufzusuchen. Die Durchsage wiederholt sich ständig, woraus ich schliesse, dass sie auf Band aufgenommen wurde. Ich überlege mir, ob es dafür ein vorbereitetes Notfallband gibt oder ob es für den aktuellen Anlass gemacht wurde. Ersteres würde bedeuten, dass der Sprecher keine Ahnung hatte, in welcher Situation es abgespielt würde. Ich versuche zu erkennen, ob in der Stimme Angst mitschwingt, ob man eine bestimmte Nervosität wahrnimmt, aber die Information wird grausam neutral gesprochen. Durch das Fenster erkenne ich das zunehmend hektische Treiben und auch im Kaffee scheint sich die Starre nach dem ersten Schock gelöst zu haben. Die Kellnerin rennt von der Kasse zur Tür um die davonrennenden Kunden um die Bezahlung zu bitten. Mir kommt der Gedanke, dass die Kasse heute wahrscheinlich sowieso nicht abgerechnet wird und nehme, zum Trotz und mit einem breiten Grinsen, meine Brieftasche hervor, um den offenen Betrag auszugleichen. Doch die Kellnerin beachtet mich nicht, weswegen ich mich wieder dem Fenster zuwende und beobachte, wie sich die Leute in die Unterführungen drängen. Es dauert nur ein paar Minuten, dann sind die Perrons leer und die Lautsprecher verkünden ihre groteske Nachricht den verlassenen Gleisen. Auch das Kaffee ist unterdessen geräumt und sogar die Kellnerin hat sich in Luft aufgelöst. Ohne Hoffnung aus Wechselgeld lass ich mein Geld auf dem Tisch liegen und gehe nach draussen. Ein penetrantes Scheppern einer Sirene, die weit weg zu sein scheint, dringt in meine Ohren. Vereinzelte Menschen rennen umher und ab und zu kann man das Geräusch eines Motors hören, das die Sirene für kurze zeit übertönt. Neben mir, auf dem Dach eines Autos, sitzt eine Katze und leckt sich die Pfoten. Sie sieht mich und unterbricht ihre Selbstreinigung für einen Augenblick. Ich nicke ihr zu und sie putzt sich weiter. Katzen mag ich nicht besonders, auch wenn ich mir Mühe gebe, jedes Leben zu achten. Plötzlich fällt mir ein, wie absurd dieser Gedanke in der jetzigen Situation ist und lache laut, was die Katze dazu bringt, die Körperpflege noch einmal zu unterbrechen. Gegenüber des Kaffees liegt ein grosser Park, den ich früher oft und gerne aufsuchte. Jetzt durchquere ich ihn ohne nach freien Sitzgelegenheiten Ausschau zu halten. Der Park gehört zur Schule, die in seiner Mitte thront und deren Türen schon geöffnet wurden. Ich betrete das Gebäude und die Sirene ist kaum noch zu hören. Ich versuche ein paar Türen zu öffnen, aber die Schulzimmer scheinen noch verschlossen. Ein Blick auf mein Handy bestätigt meine Schätzung, das es nach sieben Uhr in der Früh ist und damit die geschlossenen Türen verständlich sind. Trotzdem suche ich weiter und finde nach ein paar weiteren Fehlversuchen eine Unverschlossene. Im Zimmer finde ich was ich suche, nehme die Fernbedienung, mache es mir auf dem Sessel des Lehrers bequem und gehe die Kanäle durch. Zappen ist jedoch völlig unnötig da alle Sender die selbe Übertragung ausstrahlen. Der Moderator verspricht sich oft. Sichtlich nervös versucht er die von der Seite gereichten Karten vorzulesen. Dann sagt er eine Videokonferenz mit einem hochrangigen Mitglied der Armee an und kurz darauf erscheint ein streng blickender Uniformierter auf dem Schirm, der prägnant und mit militärischer Tonlage, die Fragen des Moderators beantwortet. Irgendwie haben seine Worte, die absolut keine Emotionen verraten, etwas beruhigendes, etwas von einer endgültigen Gewissheit. Nach ein paar Minuten des Zuhörens wechsle ich auf die deutschen Sender. Da hier genau das gleiche Gelaber kommt, versuche ich es mit den französischen, dann mit den italienischen, spanischen, österreichischen und zum Schluss mit den internationalen Kanälen. Überall das selbe. Ein wenig gelangweilt schalte ich den Fernseher aus und verlasse das Schulzimmer. Die Welt ist Stumm, von draussen hört man nicht einmal mehr die Sirenen und das, obwohl die Fenster im Flur des Schulhauses teilweise offen stehen. Ich befinde mich vor der Tür des Lehrerzimmers und mit wenig Hoffnung rüttle ich ein wenig am Türknauf. Die Überraschung ist gross, da ich merke, dass auch diese Tür unverschlossen ist. Schnell schlüpfe ich hinein und nach einer kurzen Prüfung des menschenleeren Raums beginnt mein Herz zu hüpfen. Die Kaffeemaschine, bis oben hin mit heissem Kaffee gefüllt und mit frischen Tassen daneben, lächelt mich verführerisch an. Schnell greife ich mir eine Tasse und schenke mir einen grosszügigen Schluck ein. Dann stelle ich mich an die Fensterfront, die sich über die ganze Ostwand des Lehrerzimmers erstreckt und schaue dem Sonnenaufgang zu. Nun, die Sonne ist schon länger über dem Horizont, die Dämmerung verschwunden und doch gebe ich mir Mühe die Stimmung nochmals aufleben zu lassen. Ich zünde mir eine Zigarette an, denke über den Zufall nach, in diesem Moment hier zu stehen und nirgends anders, belächle mein schlechtes Gewissen wegen dem Rauchen in einem Lehrerzimmer und versuche mich gleichzeitig auf den Moment zu konzentrieren.
Es beginnt leise, der Boden beginnt wellenartig zu beben, kein Zittern sondern einem Atmen gleich. Dazu erklingt ein Durchdringendes Stöhnen. Nicht wütend, wie bei einem Erdbeben sondern unvergleichbar traurig und tief. Der Osten wird heller und heller, bis ich nicht mehr zwischen Sonne und dem Rest des Himmels unterscheiden kann und mich abwenden will, doch da gehorcht mir mein Körper schon nicht mehr.

 

Moikka Visu,

willkommen auf KG.de!

Dein Einstand hat mich ein bißchen zwiespältig zurückgelassen: Bis zur Szene mit dem Bruder im Straßencafe hat sich trotz - oder bis dahin gerade wegen - der wirklich ausufernden Innenschau die Spannung gehalten, dann wurde der Stil recht anstrengend.

Das Intro verweist vage auf etwas wie Scientology, und die Veränderungen, das Ende überhaupt, soll evt. zeigen, daß der Fragebogen doch mehr als ein Blatt Papier war? Das alles wird aber erschlagen von detaillierten Befindlichkeitsanalysen der Figur - teils tragen diese aber gar nicht zur Handlung bei.

Was ich erst charmant fand, wurde mir dann wahnsinnig schnell unsympathisch, weil es in dieser Länge den Eindruck eines selbstverliebten, aber im Grunde oberflächlichen Protagonisten erweckt.

Die Funktion der langen Szene mit der (Ex)Affäre habe ich nicht ganz verstanden. Auch nicht die Beweggründe für sein Verhalten:

Und da stehe ich, vor der Tür in eine Zeit in der ich mich schlecht fühlen werde weil ich aus purem Egoismus und unkontrollierter Triebhaftigkeit einer Person körperliche Liebe entgegenbringen werde, die ich auf keinen Fall über den heutigen Abend hinausziehen möchte.
danach ist er plötzlich abgeturnt ... ist sie ihm zu selbstbewußt, zu fordernd? Und damit sind auch all die langwierigen Gedanken, sein halbwegs schlechtes Gewissen in der geistigen Vorschau des Abends obsolet.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich mit der Szene um den Anarchistenfreund, die rein gar nichts zur Sache tut. Erst schien mir außerdem, der Freund kenne dieses Alphamännchen erst seit gestern, dann seit Jahren, dann geht es wohl links gegen rechts, aber wer ist denn hier auf der Gegenseite? Mir schienen beide links zu sein, das hat sich nicht erschlossen.
Müßte übrigens heißen "auf eine Demo gehen".

Noch ne Kleinigkeit:

das einzige Kaffee, dass schon geöffnet hat. Da der Kaffee nicht Literweise sondern Tassenweise ausgeschenkt wird, bitte ich um eine und schaue aus dem Fenster
Das erste ist das Cafe, literweise, tassenweise.


Alles in allem hast Du einen sehr eigenen, sicheren Stil, aber mE würde der Geschichte eine radikale Straffung guttun, dann könnte man die teils intensiven Beschreibungen auch mehr genießen.

Viele Grüße,
Katla

 

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