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30 Gramm Schwein (geändert)
Tobias öffnete die Augen und atmete tief durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus.
Das ist das letzte Mal, dachte er mit einem beklommenen Gefühl. Das letzte Mal atme ich Luft durch diese Nase.
„So ... wir wären dann soweit“, sagte Doktor Schneider, und ging um den Operationstisch herum.
Er hatte das „wir“ gebraucht, jedoch nur sich selbst gemeint.
Schwester Meinhold war diejenige, die dem Pofessor die Instrumente reichen konnte. Der Künstler war er.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Herr Kowalsky. Das Anästhetikum müsste vor etwa zehn Minuten angefangen haben, zu wirken. Spüren Sie etwas, und wenn ja, wie empfinden Sie es ...?“
„... ist kalt, und ... ein Kribbeln.“
Schwester Meinhold griff nach einem der Instrumente, die auf einer metallenen Ablage in Steriliumtüchern eingewickelt waren.
Es handelte sich dabei um eine sich konisch zuspitzende Hochpräzisionsnadel. 0,7 – 0,1 Millimeter breit und 4 Zentimeter lang.
Über Tobias hinweg hielt sie Doktor Schneider die Nadel hin.
Mühelos drang sie in das Fleisch, als der Chirurg die Spitze tief in Tobias´ rechten Nasenflügel bohrte. Keine Reaktion.
„In Ordnung. Also ... Herr Kowalsky ... Sie haben beschlossen, die Rhinoplastik bei örtlicher Betäubung durchführen zu lassen, bei vollem Bewusstsein, und ....“
„... ich bin nicht davon abzubringen!“
Der Arzt seufzte.
„Dieser Wunsch ist durchaus nicht ungewöhnlich, aber normalerweise handelt es sich um Eingriffe wie eine herausgesprungene Kniescheibe oder dergleichen."
Seine Stimme war ein Murmeln, das Tobias halb betäubt, kaum verstand.
„Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen? Eine Nasenkorrektur, inklusive dem Abtragen der Nasekrümmung und dem Richten und Formen der Nasenspitze, ist kein Zuckerschlecken, ich finde, Sie sollten es nicht tun, ich ... .“
„... hab doch nicht ewig Zeit, und ...“
Laut hörbar schmatzte er hinter dem Atemschutz mit den Lippen. Für Tobias klang es wie eine Kusshand. „... es ist auch nicht einhundertprozentig gewährleistet, dass die Betäubung der Gesichtsnerven bei so einer ... komplexen Angelegenheit, wie dieser hier, für die Dauer der Operation stabil bleibt. Es ist ein bisschen so, wie ein russisches Roulette. Mal geht es gut, und mal ... eben nicht.“ Das Schmatzen ertönte wieder, hallte durch den sterilen Raum. „Würden Sie der Vollnarkose zustimmen, dann würde sich dieses Problem gar nicht erst stellen, doch...“.
... Tobias war nicht umzustimmen, er war felsenfest entschlossen!
Das war seine Chance! Schon nach seiner Blinddarmoperation, der er als Kind unterzogen wurde, war Tobias enttäuscht nach Hause gekommen, denn er hatte ja den Hauptteil verpasst, verschlafen ist sterilen Träumen.
Diesen Moment, wenn sie einen aufschnitten, wollte er sich nicht noch einmal entgehen lassen.
Die Herztransplantation, die ihm 1987 das Leben gerettet hatte, war gegen seinen Willen unter Vollnarkose duchgeführt worden, was ihn ziemlich angekotzt hatte und er sich dazu genötigt sah, dem Arzt mit einem sauberen Schlag den Kiefer zu brechen.
Dass es ein Schweineherz war, dass in seiner Brust schlug, war ihm egal. Seine Frau hatte sogar einmal gesagt, dass es ja schon ganz gut passte.
Es war schon erstaunlich, was man heutzutage alles transplantieren konnte, wenn man wollte. Ganz besonders natürlich Schweineteile, da sie der menschlichen Anatomie fast aufs Molekül glichen.
Der Arzt zuckte mit den Schultern, gab seine Überredungsversuche auf, zog seinen Mundschutz zurecht, spannte seine OP-Handschuhe und nickte Schwester Meinhold zu. Mit ruhiger Hand nahm sie das Skalpell von der Ablage und gab es dem Arzt.
Den ersten Schnitt machte er direkt unter der Nase, ließ die Klinge des Skalpells sanft in das Fleisch gleiten, bis sie auf den Knochen traf. Das hervorquellende Blut lief über Tobias´ untere Gesichtshälfte und färbte sein OP-Hemd kirschfarben.
Es kribbelte stärker.
Und dann wurde aus dem Kribbeln ein Pochen, das stetig an Intensität zunahm.
„Bleiben Sie ganz ruhig liegen“, sagte der Arzt mit professioneller, beruhigender Stimme.
Wie mit einem Lineal, schnitt er rechts und links die Nasenrückenseiten auf, sodass die Haut sich vom Fleisch löste und nur noch ein Fetzen Gewebe die Nase am Knochen hielt.
„Das könnte jetzt ein wenig ... ziehen.“ Er nahm eine kleine Zange von der Ablage und packte damit die ausgeschnittene Nase an der Unterseite.
„Sie machen das ganz prima!“ Er zog das Wort „ganz“ in die Länge, wie einen Kaugummi.
Tobias vergaß, auf das Schlachtfeld in seinem Gesicht zu blicken, und versuchte ohnmächtig zu werden, denn das dumpf pochende Gefühl überzeugte ihn mit Grauen davon, dass die Narkose schon bald aufhören würde zu wirken.
Mit einem schmatzenden, reißenden Geräusch lösten sich die Gewebeverbindungen zwischen Haut und Fleisch, und ein erneuter Blutfluss drohte Tobias in den Mund zu laufen.
Der Arzt fing das Blut routiniert mit mehreren Mullbinden auf.
„Das wäre geschafft! Jetzt kommen wir zu dem schweren Teil.“
Dr. Schneider blinzelte Tobias aufmunternd zu, doch der Mann auf dem Operationstisch konnte nicht einmal mehr nicken. Er war zu schwach.
Das Pochen war nun zu einer aufdringlichen Vibration geworden.
Sein Gesicht schien innerlich zu beben, wie zwei kollidierende Kontinentalplatten.
Der Arzt reichte die blutigen Mullbinden Schwester Meinhold, die sie in einen dafür vorgesehenen Behälter warf.
"Der Knochen ... wir kommen jetzt zum Knochen!"
Schwester Meinhold verstand. Sie nahm zwei Instrumente von der metallenen Ablage und reichte sie dem Arzt. Dieser beugte sich tief über seinen Patienten.
„Ich setze nun den Meißel an, Herr Kowalsky.“
Schwester Meinhold tupfte Doktor Schneider den Schweiß von der Stirn und beförderte das Tuch mit dem Eilpost zu den blutigen Mullbinden.
„Es wird sehr ... irritierend für Sie sein, wenn ich den Hammer benutze, um die nach dem Bruch falsch zusammengewachsenen Knochenstücke abzuschlagen.“
Tobias blickt den Chirurgen an. Die Decke schien uninteressant geworden zu sein. Mit einem Blinzeln bekundete er seine Zustimmung und schloss dann die Augen.
Wuchtig schlug Dr. Schneider auf den Meißelkopf und der Edelstahl drang in die deformiert verwachsene Stelle des Nasenknochens ein.
Das war zuviel für Tobias.
Er wurde ohnmächtig.
Als er wieder zu sich kam, war sein Schädel ein Mienenfeld, in dem Frösche lebten.
Warum liege ich immer noch auf diesem Tisch? ,dachte er verwirrt, mit den gleißend klaren Gedanken einer heulenden Alarmsirene. Sollte ich nicht in meinem Bett liegen?Sein Körper erschien ihm doppelt so schwer, als er vom Tisch rutschte und versuchte, aufrecht zu stehen.
Er wusste nicht, dass das an seinen Muskeln lag, die noch steif waren von dem Schlafmittel, dass Dr. Schneider in das Anästhetikum gemischt hatte. Und er wusste auch nicht, dass Doktor Schneider aus einer einer Familie stammte, in der mindestens einer von drei Männern von einer Sekunde auf die andere wahnsinnig wurden und Menschen abschlachteten.
Tobias humpelte unbeholfen durch den Raum.
Er lief gegen ein weiches, sackähnliches Ding, das ihm den Weg versperrte und auf den Boden blutete . Es war Schwester Meinhold, die am Boden lag. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.
Hätte er mit einen Geruch wahrnehmen können, dann wäre ihm der süßliche, faulige Geruche aufgefallen, der dem Tod eigen ist, doch seine Nase war verkustet und auf eine unangenehme rt und Weise taub. In seinem Mund klebte ein blutiger Schleim, der ihm zusammen mit seinem Speichel aus dem Mund troff. Als er zuckend vorwärts stolperte, hatte er das Gefühl, dass die Proportionen des Raums vor ihm zurückwichen, sich strecken und vervielfachen würden.
Mit zusammengekniffenen Augen und vor Schmerz verzogenem Mund ging er weiter, als er etwas in der Frene erblickte, das er nicht verstand.
Ein Gesicht schien vor ihm auf Schulterhöhe in der Luft zu schweben und langsam näherzukommen, erst verschwommen, dann deutlicher. Als es sich bis auf wenige Zentimeter angeschlichen hatte, erkannte er sich selbst.
Er stand vor einem Spiegel.
Es war schon erstaunlich, was man heutzutage alles transplantieren konnte, wenn man wollte. Ganz besonders natürlich Schweineteile, da sie der menschlichen Anatomie fast aufs Molekül glichen.
Nur das Aussehen ... daran würde er sich noch gewöhnen müssen.