30 Minuten
Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Paketschnur. Es unterschied sich in nichts von den Tausenden anderer Pakete, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis – eine ganz Besondere. Zumindest dachte Margret Hauser das, als sie es entgegennahm. Als sie jedoch keinen Absender auf dem Paket finden konnte, war ihr klar, dass es nicht die lang ersehnte Bluse war, die sie bei einem Versandhaus bestellt hatte. Denn das hatte noch nie den Adressaufkleber gegen eine handschriftliche Empfängerangabe ersetzt. Aber was konnte es sonst sein?
Gespannt schnitt sie die Paketschnur entzwei. Doch kaum hatte sie das Paket geöffnet, begann sie zu zittern. Margrets Hände wurden feucht. Aus dem tiefsten Innern ihres Körpers stieg unerträgliche Hitze bis in ihre Hirnwindungen. Sie spürte ihre Beine immer schwächer werden, während sie immer noch nicht glauben konnte, was da vor ihr lag.
Doch die roten Digitalzahlen ließen keinen Zweifel, dass dieses quadratische Ding in spätestens 30 Minuten in die Luft fliegen würde. Der Zähler lief unerbittlich. Und zwar gegen sie. Nur noch 28 Minuten.
Warum um alles in der Welt schickte man ihr eine Briefbombe?
Sie war Hausfrau, ihr Mann Bernd Schlosser, beide waren Anfang 40 hatten keine Geld und keine Wertsachen ...
Doch Margret blieb keine Zeit zum Nachdenken. Sie packte die Bombe, bahnte sich ihren Weg zur Toilette und ließ sie sanft ins Wasser gleiten. Wieder und wieder betätigte Margret die Spülung. Doch das Paket war zu groß, als dass es hätte, heruntergespült werden können. In der Hoffnung das eindringende Wasser könnte vielleicht die Technik des Zählers zerstören und diesen somit anhalten, spülte sie weiter. Doch nichts geschah. Die Zeit lief unerbittlich weiter. Margret holte das durchnässte Paket aus der Schüssel und legte es auf den Küchentisch.
Noch 15 Minuten.
Sie musste sich konzentrieren. Doch das konnte sie gottverdammt noch mal nicht, wenn vor ihren Augen ihre Zeit ablief. Deshalb warf sie ein Kissen auf das Paket.
„Ein Hammer.“ Entfuhr es ihr.
Ja, richtig irgendwo musste Bernd doch einen Hammer haben. Im Werkzeugkasten wurde Margret fündig. Sie eilte zum Küchentisch, holte aus und ... besann sich in letzter Sekunde. Möglicherweise würde das Ding in die Luft fliegen, wenn sie es zertrümmern würde.
„Scheiße!“, Margret ließ schluchzend und zitternd den Hammer sinken. Was sollte sie tun?
Noch 5 Minuten.
Panisch suchte Margret nach ihrem Schlüssel. Würde sie den überhaupt brauchen? Der blöde Schlüssel ließ sich nicht auffinden. Sie brauchte ihn unbedingt, um davon zu fahren. Margret fluchte und immer mehr Tränen verschleierten ihr Blickfeld.
Noch eine Minute.
Margret legte die Bombe in die hinterste Ecke ihrer Küche, schloss die Tür, rannte durch den langen Flur, schloss die Wohnzimmertür und verschanzte sich hinter dem Sofa.
„Bitte lieber Gott. Ich will noch nicht sterben.“ Margret begann die Sekunden zu zählen 60 ... 59 ... 58 ...
Doch auch nach zwei Minuten war noch kein Knall zu hören. Ängstlich sah sie nach dem Rechten. Zaghaft öffnete Margret die Küchentür. Doch! Die Bombe war hochgegangen. Ein quadratischer Karton stand offen in der Ecke, eine Sprungfeder baumelte noch immer hin und her. Ungläubig starrte Margret auf einen Brief, der zu ihren Füßen lag.
War vielleicht darin die Bombe?
Schlussendlich siegte die Neugier. Angespannt öffnete Margret den Umschlag. Ein gelber Zettel kam zu Vorschein – ein ungewöhnlich schwerer, gelber Zettel. Margret las die Zeilen laut vor.
„Hallo Margret,
suchst du das?“, sie hielt inne. Nun wusste sie, warum der Zettel so schwer war. Ihr Schlüssel klebte in etwa der Mitte des Blattes.
„Du hast ihn wohl gestern vergessen. Er steckte im Auto.
Gruß
Bernd“
Erleichtert und sauer zugleich setzte sich Margret auf den nächstbesten Stuhl. Wie konnte ihr Mann sie nur so erschrecken? Und vor allem, wie und wo hatte er eine solch gute Attrappe bauen können?