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36,5 Grad
Sie trank den Rest des Tees den er übrig gelassen hatte aus seiner Tasse und stellte sich vor, dieser Schluck wäre einer von unzählbar vielen Küssen, die er ihr versprochen hatte. Würde er doch ewig anhalten, dieser Kuss. Würde sie doch anstelle des kalten Porzellans seine warmen, weichen Lippen spüren. Der letzte Tropfen floss schwerfällig aus der Tasse heraus auf ihre Zunge. Er schmeckte ein wenig bitter. Plötzlich fröstelte sie. Durch den Raum schweifend, berührten ihre Finger die einzelnen Streben des Metallbetts. Ihre kalten Finger schmerzten ein wenig bei jedem kleinen Aufprall. Die Heizung war lauwarm und dies reichte ihr um an dieser Stelle zu verharren. Das waren weniger als 36,5 Grad. Weniger als Liebe. Nur Wärme, geregelt über ein Thermostat, erwärmt in einem Boiler und zu ihr nach oben gekommen durch ein paar Wohnungen voll fremder Menschen, denen sie im Hausflur begegnete und deren Blicke sie mied. Ihr kleiner Finger krallte sich an der Wandhalterung des Heizkörpers fest. Sie sah auf die Straße und spürte das Erzittern des Hauses, als unten auf der Straße eine Straßenbahn entlangfuhr. Einige Momente später hielt diese an, spuckte finstere Gestalten aus, die ihre Regenschirme aufspannten und durch den Herbststurm in ihre Wohnung strömten, dorthin, wo sie zu Hause waren. Zu Hause, was war das eigentlich?
Sie lebte hier auch, betrat die Wohnung jeden Tag, stellte ihre Schuhe auf dem Abtreter neben dem Eingang ab und hängte ihre Jacke an den dafür vorgesehenen Haken der Garderobe auf. Dann schaltete sie meist den Rechner an, machte sich einen Tee, nahm sich für gewöhnlich ihr Notebook mit ins Bett und rief ihre Mails ab. Bevor sie die letzte Spam-Mail gelöscht hatte, ploppte das Chatfenster auf und er schrieb ihr. Die innere Unruhe verlor sich in seinen Worten, die Buchstaben auf dem Bildschirm gaben ihr das Gefühl nicht einsam zu sein und erst als sie allein zu Bett ging in der Nacht und die zweite Decke vor ihrem Körper so formte, dass ihre Arme sie umfassen konnten, erst dann zerbrach die Illusion ein zu Hause zu haben.
Seufzend atmete sie nun im Takt der Musik, auf die sie, im Grau schwelgend, genau horchte. Es war immer wieder dasselbe Lied, immer wieder dieselbe Wendeschleife die die warme Stimme des Sängers von vorn in ihre Gedanken dringen ließ. Du entkommst mir nicht. Aggressiv, leidenschaftlich, nicht liebevoll und doch von ganzem Herzen. Du entkommst mir nicht. Man hört das Schwingen jeder einzelnen Bassseite, während auf der Gitarre eine leichtfertige Melodie gezupft wurde. Du entkommst mir nicht. Leichtfertigkeit die gespielt war. Gespielt wurde. Auf einer Gitarre.
Entkommen bedeutete schmerzliches Vermissen. Du entkommst mir nicht. Entkommen bedeutete Trauern. Du entkommst mir nicht. Entkommen bedeutete diese Trennung auf Zeit. Eine Woche Kälte. Eine Woche Einsamkeit. Eine Woche Unvollkommenheit. Der, der ihr das antat, gab ihr ein zu Hause. Und so betrachtete sie die zerwühlten Laken und hoffte, dass sie der Illusion von wahrer Liebe nie entkommen würde.
Anspieltipp: Westernhagen - Du entkommst mir nicht