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40 Sekunden im Mai

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15.10.2009
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40 Sekunden im Mai

Derselbe Stau wie jeden Morgen gegen acht. Auf einer Länge von mehreren Kilometern stehen sämtliche Pendler Stoßstange an Stoßstange. Jeden Tag. Auf demselben Stück Autobahn. Aber heute ist etwas anders. In 40 Sekunden wird sich alles ändern.

Anna Römer, 55, ist Frührentnerin, Witwe und eine Passagierin des Busses 392 Richtung Stadtzentrum, der an diesem Morgen ein Glied des Staus war. Anna Römer ist seit zwei Jahren in Rente, steht aber jeden Früh um sieben auf, um in denselben Bus zu steigen, mit dem sie auch früher jeden Tag zur Arbeit gefahren war. Sie amüsiert sich so sehr über diesen Stau, und die naiven Leute, die glauben um diese Zeit einfach so in die Stadt kommen zu können, dass sie dieses Opfer auf sich nimmt. Wahrscheinlich, so glaubt sie, ist das aber nur eine Ausrede – wahrscheinlicher ist, dass sie ihre Gewohnheiten nicht aufgeben möchte.
Sie sitzt am linken Fenster des Busses, der auf der rechten der drei Fahrspuren steht und schaut gelassen auf die Autos. Anna ist eine Zeit lang selbst mit dem Auto gefahren, gab aber nach kurzer Zeit auf, weil man jeden Tag neben etwa denselben Leuten steht. Da hinten steht dann der rote BMW mit dem griesgrämigen Fahrer, der gestern zwei Reihen vor einem stand und neben einem steht heute der alte Mazda, der gestern hinter dem LKW fest hing. Es ödete sie an. Anna sieht lächelnd auf das hupende, schimpfende Meer von Autofahrern herab, die sich etwa 50 Zentimeter unter ihr befinden und beobachtet. Sie beobachtet gern. Dadurch versucht sie ihre Autoaggressionen abzubauen, die sich nach Jahren gebildet hatten, weil sie früher oft von ihrem Vater, einem Nazi und Perversen vergewaltigt worden war. Das liegt schon Jahrzehnte zurück, aber sie hat es natürlich nie vergessen.
Sie ist einen typische nette, alte Dame mit krausem, grauen Haar, einer schmalen Brille und einem hellgrauen Faltenrock. Sie hat immer ein sanftes Lächeln auf den Lippen und ihre gütigen Augen schauen vergnügt auf den still stehenden Verkehr. Sie liebt dieses Chaos. Sie liebt es auch Theorien über die Leute anzustellen, die sie grade beobachtet. Sie ist dann wie ein Schiff auf der Autobahn. Umgeben von Hektik segelt sie gelassen mit dem Wind in Richtung Stadt.
In diesem Moment beobachtet Anna eine junge Frau, die auf der linken Spur in einem pinken Seat Marbella sitzt und aufgeregt in ihrer ebenfalls pinken Handtasche kramt. „Vielleicht hat sie ihre Brieftasche vergessen.“, denkt sie, aber denn entscheidet Anna, dass jemand mit rosafarbenem Nagellack in einem pinken Auto nicht nach einer Brieftasche sucht.
Sie lächelt etwas mehr, blickt zum Himmel und genießt den Augenblick. Und plötzlich ist da nichts mehr.

Direkt neben dem Fenster von Anna Römer steht ein roter VW New Beetle, in dem Benjamin Ross, 23, sitzt. Ein homosexueller Kunststudent auf dem Weg zur Uni. Er will auf keinen Fall die Vorlesung über frühgotische Kunst in Kirchengebäuden verpassen. Dieses Thema interessiert ihn nicht, aber er findet den Lehrer, Herrn Paulis so anziehend. Benjamin weiß, Herr Paulis ist verheiratet, aber er gibt die Hoffnung nie auf, jemanden zu finden, der mehr ist, als ein One Night Stand, jemand, der seine Vorliebe für Kinder und Tiere teilt, jemand für die romantischen Abende am Kamin. Ben pfeift leise vor sich hin, er ist ausgeschlafen und bereit für einen neuen Tag. Er hat sich vorgenommen, heute nach der Vorlesung zum Pult von Herrn Paulis zu gehen, ihm zu sagen, wie toll er seine Vorlesungen findet und ihn vielleicht zu einem Kaffee einzuladen.
Als aus dem Radio sein Lieblingssong tönt –"Ginny come lately" von Brian Hyland-, dreht er die Lautstärke auf, und beginnt laut mitzusingen. „Unter der Dusche und im Auto sind wir alle Weltstars.“, pflegt er zu sagen. Er verstummt, als plötzlich ein alter Mann neben seinem Fenster auftaucht. Aber dann ist der Mann auf einmal hinter dem rosa Auto verschwunden und Benjamins Beetle setzt sich von selbst in Bewegung.

Direkt vor ihm, auf der mittleren Spur, thront Michael McAndrews. Der Sohn eines Iren und einer Amerikanerin ist das, was man als „Pseudo-Elvis“ bezeichnet. Er trägt Schlangenlederstiefel mit Sporen und einen Texas-Hut nebst Goldkettchen, dass kalt auf seiner behaarten Brust liegt. Sein geschmackloses Hemd ist bis auf die untersten vier Knöpfe geöffnet. Sein Irish Pub, war vor ein paar Wochen pleite gegangen. Daraufhin hat er sein Mercedes Cabrio in dem er grade sitzt, bei E-Bay versteigert, sich von dem Geld ein Flugticket nach Irland gekauft und ist jetzt auf dem Weg zum Flughafen. Seinen Wagen, den der Käufer natürlich nie erhalten hat, will Michael einfach am Flughafen abstellen. Irgendjemand würde ihn schon klauen und dann konnte er die Versicherungssumme einstreichen, solange niemand was von der offenen Lieferung bei ebay mitbekommt. Das alles funktioniert aber nur, wenn er seinen Flug um 8.33 Uhr erwischt. Seine Sonnenbrille, die er immer, auch nachts trägt, verbirgt seine halb zusammen gekniffenen Augen und der Zahnstocher, den er im Mundwinkel hängen hat, erinnert an die alten Western-Schauspieler der Siebziger. Aber das alles ist eigentlich Zufall – alles, was ihm wirklich wichtig ist, verbirgt er unter seinem Hut: eine Rock´n´Roll Tolle, die er jeden früh in Kleinstarbeit zurechtrückt. Selbst Elvis persönlich hätte sie nicht besser tragen können. Sein rechter Arm ist um die Kopfstütze des Beifahrersitzes geschlungen und sein linker Arm hängt an der Fahrertür herunter. Johnny Cash plärrt irgendeinen Song aus dem Radio. Michael rutscht etwas tiefer in den Sitz, sitzt so breitbeinig da, wie es ihm möglich ist und beginnt auf dem Zahnstocher zu kauen. Seine absurd große Gürtelschnalle schimmert schwach im faden Licht des Morgens. Als das Arschloch hinter ihm einen Schmalzsong aus den dunklen Zeiten der leuchtenden 50er aufdreht, tritt er die Kupplung und beginnt verschwenderisch mit dem Gaspedal zu spielen. Plötzlich hört er ein lautes Geräusch.

Links von Benjamin und Michael, auf der linken Spur, sitzt Patrizia Becker. Sie ist die junge Frau in dem pinken Seat, die Anna gleich beobachtet. Sie ist ein angehendes Model von 19 Jahren. Patrizia spielt mit ihren wasserstoffblonden Löckchen, kaut Kaugummi, macht Blasen und wippt im Takt der Musik mit dem Kopf. Bei ihr läuft „It´s my Party“ von Lesley Gore. Ihr linker Fuß, der ebenfalls im Takt der Musik wippt, hat rosa lackierte Zehnägel, genauso wie ihre Fingernägel. Patrizias unangenehm hohe Stimme verschlimmert die Tatsache, dass sie nicht sehr intelligent ist. Aber sie ist charmant, hilfsbereit und liebenswert. Ihr „Tanz“ erstarrt jäh, als ihr auffällt, dass am rechten Ringfinger etwas Nagellack abgeplatzt ist. Sie starrt schockiert auf den Finger und flüstert ein verzweifeltes „Oh nein!“ in den Raum ihres kleinen Wagens. Sie beugt sich rüber zum Beifahrersitz, greift sich die Handtasche und beginnt hektisch nach einem Fläschchen Nagellack zu suchen. Aber alles was sie findet, ist eine Schatulle mit Puder und Lidschatten und ein Kondom. Patrizia ist frustriert. Der Tag ist gelaufen. Sie stellt das Radio aus, knallt ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und beginnt genervt zu hupen.

Hinter ihr schwitzt Richard Braun, 49. Sein dunkelbrauner Volvo, älter als die Steinkohle und reif zur Verschrottung, stottert gelassen vor sich hin. Richard ist ein übergewichtiger, nervöser Werbemanager. Er muss in 16 Minuten bei einem Meeting sein, von dem er sich eine Beförderung erhofft. Auf seinem Beifahrersitz liegen diverse Pläne und grosse Papierrollen, die die Grundlage seiner Präsentation sind. Von Computern und "Power Point" hält er nicht viel. Hauptsächlich weil er damit nicht umgehen kann. Richard hupt schon die ganze Zeit energisch. Er zottelt ein Taschentuch aus seiner Bluejeans und tupft sich den Schweiß von der Stirn. Seit er vor 45 Minuten losgefahren war, hat er nur an die Präsentation gedacht. Sie könnte ein Wendepunkt in seinem Leben werden. Und zwar dieses Mal zum Guten. Er kurbelt das Fenster herunter, wirft das Taschentuch zwischen die Leitplanken und schließt die Augen. Ein kühler Wind weht über sein Gesicht. Es ist Mai, aber der Wind scheint noch von April oder März zu sein. Ein angenehmer Schauer läuft ihm über den Rücken. Aber selbst dieser Windhauch ärgert ihn. Er hat vor einiger Zeit einen teuren Wagen bei ebay ersteigert und der Verkäufer hat sich seit Ende der Auktion nicht mehr gemeldet. Er hätte einfach das Verdeck heruntergeklappt und die kühle Brise am ganzen Körper gespürt. Es muss so ähnlich aussehen, wie das vor ihm auf der Mittelspur, vor dem VW. Er hupt weiter.

Rechts neben ihm, hinter Benjamin, hockt Hans-Erich Mittenberg und frohlockt. Er hat keinen Grund, sich aufzuregen. Die geile Blonde in dem rosa Kleinwagen beugt sich so fantastisch Richtung Beifahrertür, dass Erich ihr Dekoltee in ihrem Rückspiegel sehen kann. Was für ein Anblick. Der 82-jährige spürt die Erregung in seiner braunen Corthose. Er ist auf dem Weg zu seinem Sohn, Albert Paulis. Er will ihm ein letztes Angebot machen, die Familienehre zu retten. Sein Sohn war damals mit so einer jüdischen Schlampe durchgebrannt, hatte ihren Namen angenommen und unterrichtet jetzt nach seinem Wissen an der Universität in der Stadt vor ihm. Er hat vergessen, wie sie heißt (sowohl die Uni, als auch die Stadt), aber es spielt auch keine Rolle. Wenn Albert sich von seiner Frau scheiden lässt und zurückkommt, wird Erich ihm sein ganzes Vermögen vermachen. Wenn nicht, wird er es der Wohlfahrt geben. Seine Tochter, die einmal eine verblüffende Ähnlichkeit mit der geilen Hure vor ihm hatte, war als sie 18 wurde ausgezogen und hatte gedroht ihn anzuzeigen, wenn er jemals wieder in ihre Nähe käme. Erich hatte sich oft an ihr vergangen, aber im Alter, so glaubt er, spielen die Sünden der Vergangenheit keine Rolle mehr und werden vergeben und vergessen. „Vergeben und vergessen“ ist einer seiner Lieblingsausdrücke. Er starrt die Blonde weiter an. Vor Erregung ergießt sich ein wenig Urin in seine Hose. Soviel sexuelles Verlangen hat er nicht mehr gespürt seit die Sache mit seiner Frau vorbei war. Sie stand nicht auf seine Sadomaso-Spiele, aber er wollte nicht darauf verzichten und so hatte er sie vor über 15 Jahren im Keller des Hauses erwürgt. Er hatte einfach eine Saite aus ihrem heiligen Flügel im Wohnzimmer gerissen und es getan. Dabei war in ihm eine solche Lust aufgestiegen, dass er die Leiche seiner Frau mit Wachs konservierte und ihre Haare, die ihr mit der Zeit ausfielen, durch Klaviersaiten ersetzte. Er liebte es sie an einem riesigen Holzkreuz, dass er sich im Krieg gebaut hatte, aufzuhängen und sich mit Spiritus anzuzünden. Das liebt er noch immer, aber im Laufe der Zeit wurde er immer unbeweglicher und dann hatte er sich eine schwere Verbrennung am Unterleib zugezogen. Und der Kanister wurde auch immer schwerer. Seine Frau verbrannte er in einer gewaltigen Zeremonie, als der Geruch zu widerlich wurde. Seine Tochter war kurz vorher ausgezogen, daher musste er seine ganzen Triebe an seiner Frau auslassen. Jetzt wird ihm so warm, dass aus seinem grauen 1944er Mercedes, der angeblich mal Eichmann gehört haben soll, aussteigt. Er macht sich auf den Weg zu der Blondine. Der arischen Hure wird er zeigen, wo der Hammer hängt. Es ist Zeit für etwas Disziplin! Plötzlich liegt er mit gebrochenen Beinen auf der Gegenfahrbahn.

Als Anna Römer ihren Kopf zur Seite reisst, weil sie glaubt, im Augenwinkel ihren Vater zu erkennen, als Patrizia Becker erschrocken in den Rückspiegel blickt, weil sie eine schnelle Bewegung im dem Wagen hinter sich gesehen hat, als Richard Braun sich an die Brust greift, weil er einen Herzinfarkt erleidet, als Michael McAndrews sich einen Splitter seines Zahnstochers in die Zunge jagt und sich sein Mund mit Blut füllt, als Benjamin Ross den alten Mann auf der Mittelspur anstarrt, reissen plötzlich die Fensterscheiben des Busses 392 und schleudern Glasbröckchen und eine enorme Hitzewelle über die wartenden Menschen.

Der junge Iraner, der an diesem Morgen hinter Anna Platz genommen hatte, ist frisch geduscht und riecht nach einem intensiven Deo. Er hatte seine Fingernägel geschnitten, seine Sporttasche genommen und nachdem er sein Ticket bezahlt hatte, setzte er sich auf einen freien Platz. Jetzt steht er im Stau und beginnt zu schwitzen. Er will nicht schwitzen. Er muss gut riechen. Schließlich warten 70 Jungfrauen auf ihn! „Es ist Zeit.“, denkt der Iraner, drückt eine Taste auf einem alten Mobiltelefon und verwandelt sich in eine Blüte aus Feuer.


S.K.

 

Hallo Loui,

ein ziemlich interessantes Thema hast du dir da ausgesucht. Ich bin ein großer Fan von Episodenerzählungen (ob es "Right Now" in der Musik oder "Pulp Fiction" im filmischen Metier ist), sofern sie gut präsentiert werden. Hier liegt in deinem Text aber ein großes Problem. Der Anfang ist dir gut gelungen:

Derselbe Stau wie jeden Morgen gegen acht. Auf einer Länge von mehreren Kilometern stehen sämtliche Pendler Stoßstange an Stoßstange. Jeden Tag. Auf demselben Stück Autobahn. Aber heute ist etwas anders. In 40 Sekunden wird sich alles ändern.
Damit hast du jeden Leser erstmal im Bann, weil da einfach die Neugier greift. Ich wollte zumindest gern wissen, was in 40 Sekunden passiert. Leider streckst du diese 40 Sekunden übermäßig lang mit überzogenen Figuren und ihrer Darstellung.
Zuerst einmal sind es zuviele Figuren (vor allem, weil jede Figur so speziell ist, dass du ihnen in einem kurzen Absatz nicht gerecht werden kannst), dann sind sie arg überzeichnet. Die stereotype Blondine, der Altnazi mit Hang zur Vergewaltigung und Mord, die vergewaltigte Frau als Gegenpart, der Elvis usw.
Die Schilderung von Hans-Erisch Mittenberg war meiner Meinung nach völlig fehl am Platz.
Er hatte einfach eine Saite aus ihrem heiligen Flügel im Wohnzimmer gerissen und es getan. Dabei war in ihm eine solche Lust aufgestiegen, dass er die Leiche seiner Frau mit Wachs konservierte und ihre Haare, die ihr mit der Zeit ausfielen, durch Klaviersaiten ersetzte. Er liebte es sie an einem riesigen Holzkreuz, dass er sich im Krieg gebaut hatte, aufzuhängen und sich mit Spiritus anzuzünden.
Das ist absolut trashiger Horror und raubt der Geschichte den Alltagsflair, der zumindest über die Situation vermittelt wird.
Alles wirkt durch die Darstellungen nur übermäßig gestreckt. Anfang und Ende wirken ganz nett, obwohl ich den Selbstmordattentäter am Ende auch nicht so treffend fand.
Er will nicht schwitzen. Er muss gut riechen. Schließlich warten 70 Jungfrauen auf ihn!
Schweiß ist weltlich, deshalb dürfte es ihm wohl wurscht sein. Wenn es nach der weltlichen Übertragung ins Paradies ginge, dann würde die Jungfrauen wohl eher die zersprengte Fleischmaße stören, als der Schweiß.
Davon abgesehen solltest du den Text nochmal gründlich nach Fehlern durchforsten. Allein im ersten Teil hat sich so einiges eingeschlichen:
Anna Römer ist seit zwei Jahren in Rente, steht aber jeden Früh um sieben auf, um in denselben Bus zu steigen, mit dem sie auch früher jeden Tag zur Arbeit gefahren war.
...steht aber jeden Morgen früh um sieben auf...
Sie ist einen typische nette, alte Dame mit krausem, grauen Haar, einer schmalen Brille und einem hellgrauen Faltenrock.
Sie ist eine typische nette, alte Dame mit krausem, grauem Haar...
Tut mir Leid, ich würde gern etwas mehr positives sagen, aber ich finde, dass du dich in diesem Text zu sehr in kleinen Details, in einzelnen Geschichten verloren hast. Hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen.

Liebe Grüße,
Seelenschmied

PS: Ich finde übrigens trotzdem, dass du mehr als nur einen Kommentar verdient hast. :)

 
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Moikka Loui,

im dritten Anlauf hab ich's jetzt geschafft, die Geschichte durchzulesen.

Das ist ja im Grunde ein klassisch tagesjounalistischer Ansatz: Gib den Opfern ein Gesicht, etwas Persönliches, dann verkaufen sich die Katastrophen gleich doppelt so gut.
Normalität und Langeweile im Bus schreien nach Drama. Den Attentäter hatte ich sofort verworfen, weil es das Naheliegende ist (zusammen mit einem Unfall); und ich bei solch langem Text was Besonderes erwarte.

Für mich hätte das Konzept funktioniert, wenn es kurz & knackig gewesen wäre - vllt mit einem Zehntel der Textlänge.

Zum ersten Mal bin ich bei der alten Dame ausgestiegen, das zweite Mal bei dem Elvis-Style-Typen. Die Beobachtungen sind an sich schon sehr genau und detailliert, verraten ein gutes Auge - aber für mich als Leserin ist es viel zu viel. Ich weiß nicht, warum mir das alles erzählt wird, und warum ich diese Person nun so gut kennenlernen soll. Lieber finde ich selbst etwas über Figuren heraus, es wird mir viel zu viel serviert. (Klar, daß dies nicht Dein Ansatz ist).

Den NaziSMler fand ich unnachvollziehbar - wenn er sich gut selbst quälen kann, warum muß die Frau dran glauben, also ist er sado, aber warum stellt er all den Kram mit ihrer Leiche an? Eigentlich mag ich so verrücktes Zeug, aber hier erscheint es mir wie eine sehr gewollte reim-dich-oder-ich-schlag-dich Anhäufung von eigenartigen Grausamkeiten einfach mal so. Das zieht mich nicht genug rein.

Der Stoff ist übrigens Cord.

Sori, daß ich nicht mehr Gutes dazu sagen kann, aber vllt hilft Dir der Eindruck ja ein bißchen.
Es gibt hier eine Geschichte, an deren Titel ich mich leider nicht erinnere. Dort passierte etwas Schreckliches auf der Welt gleichzeitig, und die Hauptfigur war so angelegt, daß sie verschiedene Personen, und doch die gleiche war. Dadurch, daß schon in den einzelnen Episoden - die man da noch für unzusammenhängend hält - etwas interessant-grausames geschieht, bleibt man bis zum Schluß aufmerksam dabei. Sowas würde mich hier überzeugen - vom Konzept her, Aufbau. In dieser Form ist es mir viel zu bieder.

Moi moi,
Katla

 

Hi Loui.
Ich finde deine Geschicht sehr gut.
Das hupende, schimpfende Meer von Autofahrern, der Student, der schon längst seinen Schwarm hätte ansprechen können, die erhoffte Beförderung von Hr. Braun und der abgeplatzte Nagellack von Patrizia.
Herrlich rübergebracht, mit welchen Kleinigkeiten wir uns beschäftigen, über welche Nichtigkeiten wir uns aufregen obschon das Leben in 40 Sekunden vorbei sein kann.Ob nun durch einen Selbstmordattentäter, oder einen Unfall.

Bei Herrn Mittenberg hast du für meine Begriffe ein bißchen zu dick aufgetragen.
Soll heißen, kranker Triebtäter ok, aber die Horrorszene würde ich in "abgespeckter" Version besser finden.

lieben Gruß
Blues

 

Bis hierhin schon einmal vielen, vielen Dank für die Kommentare.

Zur Klärung einiger Fragen:
Der Text lebt vom Wiedererkennungseffekt, deswegen sind die Figuren auch so stereotyp angelegt. Jeder kennt so eine pinke Blondine, oder die unauffällige Rentnerin im Bus. Die Klischees werden mit ein paar Details angereichert, damit man sie lieb gewinnt und dann wortwörtlich in die Luft gesprengt. Insofern ist es, wie Katla schon angemerkt hat, ein reisserischer Ansatz, der den Opfern ein Gesicht gibt. Aber der Clou sind ja nicht die Opfer, sondern ihre Beziehung zueinander, von denen sie nichts wissen (die Vater-Tochter-Beziehung mal aussen vor gelassen). Diese Zusammenhänge lassen sich meiner Meinung nach nicht in einem kurzen, knackigen Text darstellen, außer ich streiche ganze Figuren. Aber selbst, wenn ich Patrizia Becker (die im Text ja keinerlei Funktion hat) streiche, wird der Text nur wenige Zeilen kürzer. Von den beiden Hauptbeziehungen (Mittenberg, sein Sohn Albert und seine Tochter Anna, bzw. Michael McAndrews und Richard Braun), könnte ich natürlich die kleinere, also die Ebay-Geschichte streichen. Dann würden wieder zwei Figuren wegfallen, Braun und McAndrews. Aber dann habe ich nur noch eine einzige Beziehungsgruppe in der Geschichte; eben die um Mittenberg. Und das erscheint mir zu wenig. Zumal ich als verbindende Figur der Geschichte ungern den Anti-Christen Mittenberg sehen würde.

Die Darstellung von Mittenberg soll natürlich übertrieben sein. An ihm zeigt sich, dass jeder um uns rum Leichen im Keller hat (hier sprichwörtlich - mir ist keine bessere Metapher eingefallen) und wir von menschlichen Abgründen umgeben sind. Allerdings muss ich zugeben, dass die zu extreme Überzeichnung von Mittenberg den Alltagsflair tatsächlich vertreibt, wie Seelenschmied angemerkt hat.

Wenn jemand Ideen hat, welche Teile der Geschichte ich kürzen könnte, ohne dass die Figuren dran glauben müssen - ich bin sehr dankbar für jeden Kommentar.

Grüße
Loui

 
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Moi Loui,

ich muß ganz ehrlich sagen, daß ich die Beziehungen nicht erkannt hatte - das will ich aber wirklich nicht Deinem Text anlasten, sondern meiner Abneigung gegen ellenlange Beschreibungen, so daß ich sicher unaufmerksam war.

Was mir sehr gut gefallen hat, war der letzte Abschnitt: Sicher Absicht, hier erfährt man was ganz individuelles über eine Person, eine (innen)Sicht, mit der man nicht gerechnet hat und die ich so noch nicht gelesen habe.

Wie Du mit Kürzungen verfährst, hängt wohl von einer anderen, grundsätzlichen Entscheidung ab. Hier gibt es oft von Autoren den Ansatz "es ist so klischeemäßig, weil jeder Leser das sofort erkennt". Ich - rein persönlich, als Leserin - habe damit meine Probleme.

Ohne Deinen Text hiermit vergleichen zu wollen: Auch das TV-Programm der Privatsender, die Yellow Press, das gesamte mainstream Hollywoodkino läuft über diese Schiene. Aber das ist eine andere Art der Unterhaltung, als KGs, Literatur. Leute, die das mögen, können sich da irgendwie berieseln lassen, ohne groß nachzudenken, abschalten. Die Frage wäre an Dich: Mit all Deinen Klischeeverweisen und - beschreibungen erreichst Du sicher so einen Wiedererkennungseffekt, aber eignet er sich für einen literarischen Text? Oder das, was Du mit ihm für eine Stimmung, Aussage erzielen willst?

Ich als Konsumentin von Literatur verlange etwas anderes, (und da mag ich nicht zur Mehrheit gehören, aber das weiß ich nicht):
Ich wünsche mir, in kurzer Form in einem für die Aussage/Inhalt/plot passenden Stil etwas zu lesen, was mir neu ist. Alles andere interessiert mich nicht. Mag etwas, was mich überrascht - etwas wie Dein letzter Absatz.
Ich möchte mich nicht einlullen lassen von Altbekanntem, nicht ständig was lesen, wovon es sowieso schon zuviel gibt, was mich ja schon in der Realität nervt. (Denn Deine Klischees sind ja durchaus realexistierende).

Für mich wäre es interessanter, von jeder Figur auf ähnliche prägnante, interessante und kurze Weise wie im letzten Absatz ein kleines Psychogramm zu bekommen. Besondere Dinge in den Klischees, den Alltäglichkeiten, die für mich auch das Lesen bis zur Pointe lesenswert machen. Ein Erkennungseffekt braucht nicht so viele Worte - je mehr Klischee, desto weniger mußt Du darüber sagen. Die Frau: hey - lange, falsche bunte Fingernägel, Lippenstiftsuchen und ein Song im Radio reichen mir dicke aus, um zu sehen, wer das sein soll. Die Frührenterin brauchte auch nur 5 Sätze.

Aber die andere Frage wäre, ob Du als Autor eine solche Form überhaupt selbst interessant findest; oder an welche Leser Du Dich hierbei wenden möchtest. Denn es ist klar, daß Du immer einige nicht erreichen wirst, egal wie professionell Du bist oder wirst.

Moi moi,
Katla

 

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