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40 Tage
Wladimirs Auto schob sich durch den Schnee. Er war schon mehrere Stunden unterwegs und die eingelegte CD war schon mehrmals gelaufen.
»Franz Kafka: Das Urteil. Gelesen von Oleg Karolow«, sagte eine weibliche Stimme. Es waren vierzig Tage vergangen, seit Oleg auf offener Straße, vor seinem Haus erstochen worden war.
Vor Alekseijs Haus hupte er ein paar Mal, und nach wenigen Sekunden ging das Tor zum Hof auf. Die Begrüßung zwischen den beiden lief fast schon förmlich ab. Zwei Männer, die sich seit dem Kindergarten kennen, brauchen keine Freude zu heucheln, wenn sie sich nach langer Zeit wieder sehen. Ihr Treffen hatte auch keinen fröhlichen Anlass.
Alekseij hatte bereits den Tisch gedeckt. Kutja, Pfannkuchen, um Reis und Rosinen gewickelt, das traditionelle Essen bei Trauerfeiern und natürlich eine Flasche Kognak, dazu etwas geschnittenes Brot und drei Kurze Gläser.
Alekseij füllte die Gläser und stellte das dritte an einen leeren Platz am Tisch, Wladimir legte ein kleines Stück Brot quer über das Glas. Beim Anstoßen beschränkten sie sich auf ein gemeinsames »Auf Oleg«. Wladimir nahm sich einen Pfannkuchen und starrte, während er ihn aß, stumm auf das dritte Glas.
»Wie kommst du zurecht?«, fragte er schließlich, ohne seinen Blick vom Glas abzuwenden.
»Ich denke jeden Tag an ihn, stundenlang. Ich gehe oft an den See, an die Stelle wo wir im Sommer geangelt haben und setzte mich auf die Bank.«
»Auf die Bank? Wie ist das so?«
»Es ist schwer. Im einen Augenblick erinnere ich mich an all die Gespräche und Abende die wir dort waren, im nächsten wird mir klar, dass es nie wieder passieren wird.«
»Ich will auch zu der Bank, können wir später dorthin?«
»Natürlich, meiner Meinung nach müssen wir sogar dorthin.«
»Gut, das ist gut.«
»Es ist nicht das erste mal dass jemand stirbt, der mir wichtig war. Aber ich muss zugeben, dass es mir noch nie so schwer fiel, mich zu verabschieden.«
Wladimirs Augen schienen durch alles durch zu blicken, was sie streiften. Dabei war er immer der aufgeweckteste der drei gewesen. Alekseij, der Schriftsteller, Oleg, der Journalist, Wladimir, der gerissene Geschäftsmann.
»Hast du einen Fernseher hier?«
»Natürlich nicht. Das weißt du doch. Was ist denn der Sinn dabei aufs Land zu ziehen und die ganze Zeit ein überlautes Fenster zur Welt in seinem Wohnzimmer zu haben? Hast du das nicht mal gesagt?«
»Stimmt, hab ich.«
Wladimirs Augen waren auf das dritte Glas fixiert und, als hätte er die Frage überhört, stellte er einfach eine andere in den Raum.
»Dieses Glas, Alekseij. Sollte ich mich eigentlich darüber ärgern?«
»Warum solltest du?«
»Weil es doch eine kirchliche Sache ist, oder? Man stellt es hin, damit die Seele des Verstorbenen an der Gedenkfeier teilnimmt.«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ob ein Glas mit Kognak eine kirchliche Angelegenheit ist, kann ich dir nicht beantworten. Aber ist Tradition. Soll das hier wieder ein Streit über Gott werden?«
»Nein, nein«, winkte Wladimir ab. »Du glaubst dran, ich nicht und Oleg sagt, wir sollten uns über was anderes unterhalten, so war es immer und dabei sollten wir es auch belassen.«
»Na GOTT sei Dank«, lachte Alekseij und goss nach.
»Nein, darum geht es nicht«, Wladimirs Stimmung verfinsterte sich wieder. »Darum geht es nicht.« Er leerte ein weiteres Glas und knallte es auf den Tisch.
»Ich erzähl es dir einfach. Du hast keinen Fernseher, also kannst du es noch nicht wissen. Sie haben ihn, sie haben den Mörder.«
Alekseij riss die Augen auf.
»Was?!«
»Pünktlich zum 40-tägigen haben sie ihn erwischt.«
»Oh, Gott. Hat er gestanden? Was war das Motiv?«
»Ja, was war das Motiv. Die große Frage für uns alle. Wer hätte alles einen Grund gehabt Oleg Karalow, den Fernsehmoderator, den Kulturschaffenden, den Wohltäter mit politischen Kontakten, unseren Oleg zu töten. Das Fernsehen hatte an dem Abend sein Programm abgestellt und die ganze Nacht nur sein Bild gezeigt, vor schwarzem Hintergrund. Ein Nationalheld, verdammte Scheiße!«
Mit hochrotem Kopf griff Wladimir nach der Kognakflasche und goss beide Gläser in einem Schwung voll.
»Jetzt sag schon. Politik? Mafia?«
»Ha! Du weißt ja wohl, dass das auf das selbe hinausläuft!«
»Oh, Gott, jetzt lass deine Scherze!«
»Ist ja gut, es tut mir Leid.«
Wladimir faltete seine Hände vor dem Gesicht und rieb seine Schläfen.
»All die Theorien die es gab, ein Glück das du keinen Fernseher hast. Die haben so tief in Olegs Müll gewühlt, dass sich selbst verhungernde Ratten fremdschämen würden. Die Politik, die Exfrau, Partner, Konkurrenten, selbst seinen Sohn haben die verdächtigt.«
»Artjom! Der ist vierzehn Jahre alt!«
»Da siehst du es! Denen ist nichts heilig! Keinen Fernseher zu haben, ist wohl der größte Segen der einem widerfahren kann. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, wer es getan hat.«
Wladimir legte seine Hände auf den Tisch und schloss die Augen.
»Die haben heute Früh einen Jungen auf frischer Tat ertappt. Raubmord. Hatte noch das Blut einer alten Frau an den Händen. Heute Nachmittag durchsuchen sie seine Wohnung und finden Olegs Brieftasche in einem Haufen anderer. Der Junge war noch keine zwanzig, er kannte Oleg nicht mal.«
Alekseij wurde kreidebleich.
»Zufall!? Nichts weiter als Zufall?«
Nun starrte Alekseij ebenfalls auf das Glas.
»Und da fahre ich zu dir raus, höre im Radio die Nachricht, und aus dem Fenster sehe ich Kirchen, so viele Kirchen, und alle Kuppeln sind golden. Da frag ich mich doch, Alekseij, muss ich mich doch fragen: In einem Land an dem jemand Oleg, den Wohltäter, den Kulturschaffenden, unseren Oleg tötet, für seine Brieftasche tötet, brauchen wir dann all das Gold auf den Kuppeln, so weit über unseren Köpfen?«
Alekseij nickte stumm.
» Das geht mir nicht aus dem Kopf. Es ist stur, ich weiß und ich will nicht mit dir darüber streiten, aber aus meinem Kopf geht es trotzdem nicht. Warum die Kuppeln, Löcha? Warum die Kuppeln ...«
Immer noch abwesend blickend, hob Alekseij einen Zeigefinger.
»Die Kuppeln Russlands streicht man golden, damit der Vater es öfter mal bemerkt.«
Ein schiefes Grinsen legte sich über Wladimirs Gesicht.
»Das ist aber nicht von dir, oder?«, fragte er beim Nachgießen.
»Nein, nein. Von mir ist das nicht.«