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6 Minuten Philosophie
Zugfahrten oder auch andersartige Reisemöglichkeiten scheinen immer wieder eine inspirierende Wirkung auf mich zu haben. Denn manchmal lasse ich mich dabei zu den wirklich unwichtigsten, aber unterhaltsamsten Gedankengängen hinreißen.
Wie heute eben. Heute saß ich nämlich in dem Abteil, das sich gleich neben der Türe befindet, von wo aus man natürlich all die Leute, die ein- und aussteigen oder stehend schon vor der Tür warten, im Blick hat. So bemerkte ich auch sofort den Paul, als er einstieg und vor der Tür stehen blieb. Ich glaube, in dieser Region ist Paul so ziemlich jedem bekannt, denn jedermann wird irgendwann einmal den Tag erleben, an dem er im gleichen Abteil wie der Paul sitzt, und dessen lautes, schrilles und absolut falsches Singen zu hören kriegen. Und er wird, nachdem er einen Blick auf den mysteriösen Sänger geworfen und gesehen hat, dass dieser zusätzlich mit ein wenig allzu zackigen Bewegungen seine Gesänge unterstreicht, ziemlich früh feststellen, dass Paul geistig behindert, oder aus der Sicht eines Kindes, irgendwie komisch, nicht normal ist.
Vielleicht wird er ein wenig Belustigung empfinden, vielleicht auch ein wenig Furcht, und meistens, ziemlich sicher sogar, Mitleid.
Ich ging jetzt einmal so weit, dass ich behauptete, dass wir, sozusagen, immer Mitleid verspüren, sollten wir irgendwo einen geistig Behinderten antreffen, gesetzt dem Fall, wir sind erfahren genug, um zu begreifen, dass es sich dabei um einen solchen handelt.
Aber heute eben, als ich wieder einmal dieses Mitleid an meinem so überaus sozialen Herzchen nagen spürte, da schienen meine Gehirnwindungen Langeweile zu verspüren und sich wenigstens mit etwas beschäftigen zu wollen. Denn, überlegte ich mir, warum sollten wir eigentlich Mitleid mit diesen Menschen haben? Schliesslich können wir nicht wissen, ob sie unsere Blicke überhaupt wahrnehmen können. Wir können nicht durch ihren Augen sehen, und vielleicht feststellen, das ihnen, durch ihre- wie soll ich sagen?- kindliche Art und Weise der Weltanschauung, jegliche negative Seite dieses „Lebens“ verborgen bleibt.
Nun, sagen wir einmal, dem wäre so. Dann wären schlussendlich doch wir die Genarrten. Wir, die wir in unserer Arroganz glaubten, Mitleid für diese Menschen empfinden zu müssen, obwohl sie nicht einmal das Gefühl von „Mitleid“ kennen, da es dies in ihrer Welt gar nicht erst benötigt, was dann wieder zur Folge haben würde, dass eigentlich wir diejenigen wären, die jenes Mitleid verdienen würden, da wir dieses völlig für nichts verschenkt hätten. Irgendwie beunruhigt dieser Gedanke schon ein wenig, nicht wahr?
Gerade als ich darauf kommen wollte, dass man in der heutigen Gesellschaft „Mitleid“ unbewusst schnell mit dem Begriff „Überlegenheit“ in Verbindung setzt, kündete die überaus freundliche Computerfrau-Stimme meine Ortschaft an um so meinem unnützen, gedanklichen Treiben ein Ende zu setzen. Wenigstens stieg ich so, wie schon viele Male zuvor und wahrscheinlich auch noch danach, mit einem doch noch eher beruhigenden Gedanken aus.
Im Zug, oder wo auch immer, mag man sich schnell schon einmal als ein Philosoph fühlen, aber sobald einem die erfrischende Bahnhofsluft entgegenschlägt, weiss man, dass es doch nur dem benebelten Studieren eines zugekifften Teenagers gleichkommen kann.