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68er Mär von der Freiheit

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12.04.2007
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68er Mär von der Freiheit

68er Mär von der Freiheit

Für Gabriel, Sarah & Birte

Einst fegte die Freiheit übers Gebirge.

Des beschwerlichen Wegs müde, pochte sie an die Tür einer ärmlichen Hütte und bat um Einlass. ’s wehklagt’ aber eine hohe Stimme hinter der Tür: „Ich bin und habe nichts, außer mei’m Lager. Wie könnt’ ich’s mit ei’m fremden Weibe teilen, dass es mir hernach ein’ Balg anhängen mag“, und ließ die Freiheit nicht ein, dass die sich vor die Hütte legte.

In dieser Nacht überkam den Zwerg in der Hütte ein gar übler Traum: Allegro molto käm’ übers Gebirg’ ein eisiger Wind, der trüge die Hütte als irgendein Spielzeug davon und ließ’ den Schläfer frieren.

Darob erwacht’ der Zwerg und fand, dass es kalt sei. Also ließ er die Freiheit ein, dass beide sich aneinander schmiegten und erwärmten. In dieser Nacht nahm er sich die Freiheit und hätt’ mit ihr viele kleine Freiheiten haben können, hätte sie sich nur binden lassen. Aber es hielt sie nichts.

Anderntags dankt’ die Freiheit artig und zog weiter des Weges und mit ihr die Sonne. Und wie eine neue Nacht gekommen, fror dem Zwerg, dass er die Wärme der Freiheit schmerzlich vermisst’ und jammerte: „Ach, wäre sie doch bei mir geblieben! Ach, hätt’ ich sie nur halten könn’n!“

Der Zwerg beschloss, die Freiheit zu suchen, schnürt’ das Ränzel und folgte dem Weg, den die Freiheit eingeschlagen hatte.

Doch sollt’ er so bald nicht finden, was er gesucht!

Des beschwerlichen Weges müde, klopft’ der Zwerg an die Tür eines güldenen Käfigs und bat darum, eingelassen zu werden. Aber die Tür blieb verschlossen.

Piano antwortet’ ein Sopran hinter der Tür: „Herr, niemand ist daheim“, dass der Zwerg lachte: „Du bist doch da, dass du mir öffnen magst, selbst wenn du Niemand gerufen wirst.“

Pianissimo wurd’ ihm entgegnet: „Ach, Herr, du hast gut lachen. Ich aber bin nur eine Frau und nicht gestattet ist mir, einen andren Mann einzulassen, solang’ Gatte und Sohn nicht zu Haus’ sind.“

Da fragte mit freundlicher Stimme der Zwerg: „Ist denn dein Mann niemand lieb gewesen und hatt’ denn niemand dein’ Mann geliebt, dass niemand ihm ein’ Sohn konnte gebären? Und bist du nicht eins gewesen mit dei’m Manne, dass der Sohn nicht auch aus deinem Stoffe gewebt ist? –

Was erniedrigst du dich also vorm Gatten und Sohne zur Magd, dass du’m Elenden die Gastfreundschaft versagst?“

Nachdem der Zwerg geendet, war eine Weile Stille; dann aber wurde die Türe geöffnet, dass Frau und Zwerg ein Nachtlager fanden.

Anderntags dankt der Zwerg artig und zog weiter des Weges und mit ihm die Frau, denn helfen wollte sie, die Freiheit zu finden. Die wurd’ aber nicht gefunden an diesem Tag, dass beide im Dämmerlicht an die Tür eines Turmes kamen und Einlass begehrten, denn sie waren des gemeinsamen Weges müde.

Der Turm aber war hohl und hoch, dass es in ihm dröhnte und donnerte wie von einem Ungewitter, klopften Menschen an die Türe.

Da weint’ es hinter der Tür zur Antwort auf beider Begehr. Also fragt’ die Frau mit sanfter Stimme, wer denn da weine.

Und hinter der Türe schluchzte’s: „Vater und Mutter sind nicht daheim und ich darf kein’ einlassen.“

„Ja“, sprach da die Frau, „warum tatest du nicht gleich antworten, wie wir gekommen und geklopft hab’n?“

„Ich bin noch jung und unerfahren und soll nur reden, wenn ich gefragt bin“, entgegnet’ das Kind hinter der Türe.

Wer solches angeordnet, fragte der Zwerg unds Kind sprach: „Vater und Mutter haben mich solches gelehrt.“

„Wissen denn dein’ Eltern nicht, dass du schwerlich schweigend sprechen lernst und gar wenig erfährst, wenn du ungefragt nichts zu sagen hast?“, fragte der Zwerg und schloss: „Oder wollen die Eltern reich werden durch dich?“

Nun schwiegs Kind, denn es verstand nicht, was gemeint war. Die Frau aber verstand’s, denn oft hatten Mann und Sohn geredet, reden wär silbern, schweigen aber Gold. Und sie sprach: „Ach, Kindchen, ich war ein niemand und will gerne keiner sein, dass du uns einlassen kannst und doch den Eltern folgst. So werden wir mit dir und deiner Angst sein und vielleicht gelingt uns gar, die Gespenster der Nacht zu vertreiben.“

Jetzt ließ das Kind die beiden ein und es wurd’ ihm erzählt, wie die Freiheit zum Zwerg gekommen und wieder gegangen, wie der Zwerg die Freiheit vermisst und gesucht und zur Frau in den goldenen Käfig gefunden und wie sie nun gemeinsam die Freiheit suchten.

Darüber schliefs Kind ein, denn die Angst verkroch sich zu den Gespenstern in den finstren Keller an die tiefste Stelle des Turms.

Anderntags dankten die Gäste recht artig und zogen weiter des Weges und mit ihnen das Kind. Das fürchtete Zorn und Strafe der Eltern, dass es gerne den Fremden folgte, die Wärme der Freiheit zu suchen. Also zogen die drei mit der Sonne, doch wurd’ die Freiheit nicht gefunden, dass sie gegen Abend an eine hohe Mauer kamen.

Hinter der Mauer verbarg sich ein prächtiger Palast und in dem Palast ein Riese, der saß auf allen Schätzen und Wohltaten der Welt und hütete sie mehr als sein’ Augapfel.

Wie’s dunkel ward, wurde mit dem Pfortenring geklopft. Als der Riese schaute, wer zu ungelegener Zeit so lärmte, hatt’ er niemand sehen können denn die Nacht. Doch die bat mit Kastratenstimme, eingelassen zu werden: „Hoher Herr, wir sind der Suche nach der Freiheit müd’ und freuten uns, könnten wir die Nacht unter euerm Dach verbringen.“

Der Riese lacht’ über die Rede: „Hat man so was schon gehört! Nach der Frei-ei-ei-heit suchen und, wo möglich, auch noch finden!“ Und setzt’ ernster fort: „Höre, schwarzer Wicht, man hat Freiheit oder man hat keine. Und ich kann mir viele Freiheiten leisten, denn mir geht’s gut.

Gut geht’s mir! Zu meinem Glück bedarf’s nur des Unglücks der Vielen. Also werd’ ich mich hüten, euch auch nur ein Häuchlein vom Glück abzutreten. –

Schert euch des Weges!“, rief er barsch: „Ich habe und ich geb’ auch nichts“, und ließ die Nacht mit ihren Stimmen draußen vorm Portal, dass die drei in der Kälte zu liegen kamen. Da schmiegte sich der eine an die andern, dass dreie sich erwärmten aneinander.

In dieser Nacht überkam den Riesen ein gar übler Traum:

Allegro furioso käm’ ein starker Wind übers Gebirge, der ballt’ die Wolken zur Faust und schlüg’ ihm aufs Dach, dass der Palast dröhnt’ und donnerte wie von einem Ungewitter. Und die Vielen rotteten sich zusammen und liefen mit dem Wind an gegen die Mauern. Die brächen, dass der Palast zusammenfiel’ als irgendein Kartenhäuschen. Und der Palast würd’ geplündert und er entmannt …

Anderntags erwachten mit dem ersten Sonnenstrahl die drei und finden die starken Mauern des Palastes geschleift. Auf den Trümmern krümmt’ und wind’t sich ein Würmchen von einem Riesen, den Angst zu verschlingen droht. Da findet der Zwerg aus den Bergen sich nicht mehr so winzig. Da sieht die Frau die goldenen Stäbe zerbrochen. Da schrumpft dem Kindchen der Turm zum Türmchen und das Kind wächst zum Menschen.

Und wenn die drei nicht dumm gewesen sind, dann haben sie sich die Freiheit genommen!

 

Salü Friedrichard,

stimmig, gut zu lesen, gut verpackt und ganz Dein Stil. Die 'Vortragsangaben' aus der Musik geben geschickte Anweisungen zur Lesart.
Da hastu ein feines Märchen geschrieben. Besonders gefällt mir der Satz:

Da schrumpft dem Kindchen der Turm zum Türmchen und das Kind wächst zum Menschen.
's ist ein Märchen und wär' so wünschenswert ...

Herzlich, Gisanne

 

Grüß Dich Gisanne,

danke für Deine Worte! Es ist immer gut, von Dir zu lesen und auch, dass Dir das Märchen gefällt.

Ein guter Abschluss für diesen Tag.

Gute Nacht

friedel

 

Hallo Friedrichard,

eine mythologische Fundgrube ist dein Märchen da ... Vom guten alten Parzival über den irrenden Helden der Antike findet sich da so manches Ein- oder Zweideutiges.

Was ich nicht so ganz verstanden habe, sind die musikalischen Anspielungen. Verbirgt sich darin noch irgendeine Art von Tiefsinn, oder sind es bloße Regieanweisungen?

Tja und wenn man noch erführe, wer den Palast des Riesen geschleift hat ....

Meine Lieblingsstelle:

In dieser Nacht nahm er sich die Freiheit und hätt’ mit ihr viele kleine Freiheiten haben können, hätte sie sich nur binden lassen. Aber es hielt sie nichts.

Ist das "Zu meinem Glück bedarf’s nur des Unglücks der Vielen" eigentlich von dir?

Liebe Grüße,

AE

 

Grüß Dich AE,

danke für die Beteiligung an der Spurensuche. Seit dem Ikarus versammeln sich derart viele „Helden“ und „Antihelden“ in meinem Schädel, dass ich gar nicht weiß, wen zuerst bedienen und in eine eigene Form bringen.

Zu Deinen Bemerkungen im Einzelnen:

Ich bin der Auffassung, dass Literatur auch laut vorgetragen werden sollte, wie’s schon Gisanne angedeutet hat

(„Die 'Vortragsangaben' aus der Musik geben geschickte Anweisungen zur Lesart.“)

und insofern muss hier kein tieferer Sinn gesucht oder gar erwartet werden.

Ob „zu meinem Glück bedarf’s nur des Unglücks der Vielen" ein Eigengewächs ist, da müssten wir den Riesen fragen. Ich zitier gern’ eine Lennon-Zeile falsch mit „nothing you can say/that isn’t said“, und davon bin ich dann auch noch überzeugt.

Tja, vielleicht ist da mit der geschleiften Macht ein Traum wahr geworden. Wär mal wieder an der Zeit …

’s freut mich, dass Dir die Mär gefällt!

Gute Nacht

friedel

 

Hallo Friedel,

es hat mich ein bisschen erstaunt, dass du den Tag „Fantasy“ und nicht Märchen gewählt hast. Für mich klingt das wie ein Märchen, dass auch gerade heute an seiner Aktualität nichts verloren hat.
Mir hat dein Fantasietext sehr gut gefallen. Ich bin froh, dass ich ihn ausgraben durfte.
Etwas irritiert haben mich die vielen Absätze.

Frohe Ostern wünscht von der schwäbischen Alb in den Pott
CoK

 

Da ist Dear,

liebe Conny,

ein schöner Fischzug (ich bin halt Schuppenträger) gelungen und warum ich "Fantasy" gewählt hab, weiß ich heute überhaupt nicht mehr, wiewohl's doch eindeutig ein Märchen ist.

Alles lässt sich halt nicht auf Kurzsichtigkeit und schon gar nicht die Gnade des tauben Ohres zurückführen ...

Hm, der Text ist eigentlich sehr alt (da war noch keines der drei Orgelpfeifen von Kindern eingeschult und der (manchmal nicht ganz dichte) Dichter bereits aus dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt raus und in der Literaturwerkstatt Lingen noch nicht drin, weil er auch im Jupphotel selten einen reinen acht-Stunden-Tag kannte ...

Wie dem auch wird -

ich wünsche Dear + Familie frohe Ostern und schöne Tage und vor allem:
möge der aufgeplusterte Truthennes an uns allen vorbeigehen ...

Friedel

 

Hallo@Friedrichard

Den tieferen Sinn eines Märchens soll sich der Leser selber erschließen, oder?
Ich habe versucht zwischen den Zeilen zu lesen und wage eine allegorische Interpretation Deiner so großartig erzählten Geschichte. Liege ich richtig oder falsch?

Die Zahl "68" steht für die Protestbewegung des Jahres 1968, der Zwerg für das Volk, die Frau für die aufkommende Frauenbewegung, das Kind für die Studenten und der Riese für die Macht der Älteren, die es zu zerstören galt.

You say you wanted a revolution
Well, you know,
We all wanted to change the world
(
nach John Lennon, Revolution)

Guten Abend und liebe Grüße
Eraclito

 
Zuletzt bearbeitet:

Das ist ja eine Überraschung, dass mein „Lenz/Büchner“-Verschnitt dank @CoK so etwas wie eine (kleine) Wiederauferstehung feiert – und natürlich findestu Dich,

lieber @Eraclito,

auf einem richtigen Weg. Den Kommentar aber mit Lennon’s Zeilen zu schmücken ist eine gute Wahl, denn mit der ersten Begegnung mit Dylan war Schluss mit Händchenhalten und Love me do und neben Lennon politisierte sich auch der sonst eher zurückhaltende George Harrison.

Den tieferen Sinn eines Märchens soll sich der Leser selber erschließen, oder?
So ist es und – so finde ich seit einigen Besuchen in Marketing-Seminaren während des Studiums – dass es schon genug Gebrauchsanweisungen gibt, dass ich nicht auch noch welche schaffen muss (oft – zumindest in der Anfangszeit – grübelte der eine oder die andere, ob es überhaupt „Kurzgeschichten“ wären, die ich da einstellte, wie man ja auch an Rezensionen von mir gleich den halben Lebenslauf des besprochenen Autors mitgeliefert kriegt, sofern sich Parallelen zwischen Werk und Leben auftuen.

Dass Du mit der Interpretation „richtig“ liegst, brauch ich eigentlich nicht zu erwähnen und ich schließe hinsichtlich der heutigen Weltlage auch mit einem Lennon-Zitat:

"I read the news today oh boy
About a lucky man who made the grade
And though the news was rather sad
Well I just had to laugh

I saw the photograph
He blew his mind out in a car
He didn′t notice that the lights had changed
A crowd of people stood and stared

Lennon: A Day in the Life"

Dank Dear und einen schönen Tag wünscht ausm Pott der

Friedel

 

Lieber Friedel,


wie schön: da wird aus den Tiefen der Wortkriegersee ein Märchen von der Freiheit angespült - und nach den langen Diskussionen über die Freiheiten, die einem staatlich angeliefert oder entzogen werden, eins über die andere Freiheit, die große Freundin: die Freiheit, die man sich sich nimmt. Eigentlich also ebensogut ein Märchen über Mut.

Dir einen feinen Tag, liebe Grüße aus dem Gebirg
Placidus

 

Ja, das Wunder der Wiederauferstehung aus der Geschichtentiefsee -

liebe Placidus -

Danke aus dem flachen Lande
(was so ganz nicht stimmt, schon die Halde ist hundert Meter Hoch, das Tackengebirge stellenweise schön steil, was ein alter Radfahrer wie ich schon mal in den Beinchen fühlt und im Süden an der Ruhr sich schon die Ausläufer des Rheinischen Schiefergebirges ausbreiten (eigentlich: erhöhen ...)

Dank Dear für die schönen Worte und die Einordnung!

Friedel

 

Lieber Friedel @Friedrichard

Nach der Rückkehr von meinem Kochtopf nun auch in deinen Text eingetaucht! Wie wunder, wunder, wundervoll! Ich liebe ihn!
Deine Sprache in und zwischen den Zeilen für mich wie Balsam! Vielen lieben Dank! ?

 

Deine Sprache in und zwischen den Zeilen für mich wie Balsam!
& der Satz erst mal ...

liebe Akelei ...

so soll es sein!

Dank Dear & bis bald,

Freatle

 

Dann will ich auch endlich den Anstoß zu dieser kleinen Erzählung nach Jahr und Tag "offenbaren":

„Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit.
Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit.“

Karl Marx, Zur Judenfrage (1843)
denn endlich scheint selbst der Neoliberalste zu kapieren, dass Freiheit nicht in km/h bemessen wird.

Friedel

 

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