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Man nannte ihn Alex und er radelte ziellos durch die Straßen. Er war durch und durch unglücklich, wer hätte es übersehen können bei seinem grauen Gesicht, den verheulten, zusammengekniffenen Augen, unter denen er in den letzten Tagen einige Gedichte, dunkle und verzweifelte Gedichte in den Notizblock, der sonst stets unbenutzt war und wahrscheinlich allein für Zwecke wie diesen aufbewahrt wurde, mit roter Tinte schrieb. Unter diesen notierte er das Datum und versteckte den kleinen Ringblock dann. Er dachte dabei immer, er würde ihn vor unerwartetem Besuch verstecken, aber eigentlich wusste er selbst sehr wohl, dass er es nicht ertragen konnte, sie immer um sich zu haben, denn die Gedichte waren an eine Frau gerichtet, die er immernoch liebte. Ihm wurde die Ausübung dieser Liebe jedoch verboten von sich selbst. Insgeheim hielt er seine „Poesie“ aber für großartig, denn er war der Überzeugung, dass alles Kunstvolle, das aus Schmerz entstand, wunderschön ist. So holte er einige Abende sein Blöcklein aus dem Versteck und las die Reime im Bett immer und immer wieder durch, auch um ihre Stimmung zu atmen und wieder mit weinenden Augen und zitternden Händen einzuschlafen. Ohne jedoch seine Verse zu verschlingen, wie manch andere alte Bilder aus glücklichen Tagen mit traurigem Nachsinnen Stunde um Stunde in ihre Netzhaut zu brennen versuchten, in der Hoffnung die im Bild eingefrorene Zeit so wieder zum fließen zu bringen und sich darin baden zu können, trat er in einer ungeheuren Dramatik in die Pedalen seines klapprigen Drahtesels, der ihn schon seit Stunden um den riesigen See führte.
Er trug seine neue Baseball-Cap, die er sich kaufte, als er mit dem Vorhaben sich auf „andere Gedanken“ zu bringen in die Innenstadt fuhr und dort doch bloß wieder in all die Läden ging, in die ihn seine Verflossene zwang und sich vorstellte, wie es wäre, wenn sie wie immer in einer der Umkleidekabinen stünde und sich in zu kleine oder zu große Klamotten zwänge oder schmisse, um ihm das Gesamtwerk dann mehr oder weniger überzeugend zu präsentieren. Dort stand er also, obwohl er doch etwas für und nicht gegen sich tun wollte. Kurzum entschloss er sich das erstbeste Teil, das ihm gefiel, zu kaufen (was dann die Baseball-Cap war) und von dort zu verschwinden.
Vom See konnte er sich jedoch nicht so leicht verabschieden. Hier war Alex nie mit ihr gewesen, spazieren gegangen oder Tretboot gefahren; hier war er frei von Erinnerungen an sie, jedenfalls von Erinnerungen, die an materialistischen Dingen hafteten. Doch anstatt diese Umgebung, die frei von ihr war, in sich aufzunehmen und sich dadurch selbst wenigstens für kurze Zeit von ihrem Gespenst in seinem Kopf zu befreien, setzte er sie an jeden Meter des Ufers, wie sie mit ihm auf einer Picknickdecke die Wasseroberfläche beobachtet und seine Hand hält, oder er setzte sie auf seinen Gepäckträger und ließ sie lachen und „Schneller! Schneller!“ rufen. Überall trug er sie hin, wie der frisch gebackene Ehemann seine Frau über die Schwelle der Haustür trägt, so vorsichtig und sanft wie möglich, aber nicht so feierlich. Eigentlich erinnerte es eher an einen Witwer, der die Urne seiner Frau zu Grabe trägt.
Stets achtete er auch darauf, ob ihr die Situationen, in die er sie brachte, auch gefallen würden und wenn dies nicht der Fall war, kniff er seine Augen zusammen, um das Bild verschwinden zu lassen, und verließ den Ort, an dem er grade war, aprubt.
Hier am See, dachte er, gefiel es ihr aber. Sie saß hinter ihm mit ihren Armen um seinen Bauch, ließ sich den kühlen Wind duch die Haare wehen und sprang manchmal ab, um dann lachend neben ihm her zu rennen. Genau wie sich das alles nur hinter seiner Stirn abspielte, sah man seinem Gesicht die eigentlich mit solchen Szenen verbundene Glückseligkeit nicht an, denn es war nicht real, bloß ein verformtes und abgenutztes Stück Vergangenheit.
Schließlich entwand er sich doch dieser Szenerie und schlug den Heimweg ein. Alex radelte also seinen verzweifelt schönen Gedanken in trister Stimmung hinterher in Richtung Stadt, an dessen Rand er wohnte. Nah am See standen noch kaum Gebäude, nur vereinzelt neue Einfamilienhäuser oder Restaurants. Mit der Zeit aber kamen immer mehr Bauten hinzu, Hochhäuser gesellten sich in die gemütliche Reihe der zugepflasterten Wege und ließen Alex, den grauen und einsamen Alex, durch ihre Mitte fahren, wie auch viele andere, die zu der Stunde unterwegs waren, ob zu Fahrrad, Fuß oder in ihren Autos.
Ein Passant rannte fast in Alex, konnte aber noch frühzeitig ausweichen und ungehindert seinen Weg fortsetzen. Dieser führte zu einem Bordell der Stadt. Den Passanten nannte man Harry, obwohl er Herbert hieß und er hatte einen hochroten Kopf, denn seit einigen Tagen bot eine neue Hure ihre Dienste an. Es war Frischfleisch, total unerfahren und so jung wie seine Tochter. Harry ging den gewohnten Weg zur Tür, an den Zuhältern vorbei, wobei er mit einem gleich das Geschäft machte und dann weiter den weiß gefließten und kalten Flur entlang, in dem die Huren rauchend auf Klappstühlen vor den Türen saßen. In den Räumen dahinter wurden die Kunden bedient. Manche Türen waren geschlossen und leise hörte man Klänge der Befriedigung. Schließlich machte Harry halt, denn er kam bei dem Raum seiner neuen Lieblingsspielgefährtin an. Sie saß nicht draußen, aber er hatte sich die Zimmernummer gemerkt. Sie war 69, die Nummer war also Programm. Er wartete geduldig und fing das ein oder andere verlockende Lächeln ein, doch er ließ sich nicht beirren. Dieses junge Ding hatte sein Ding einfach am besten im Griff. Er stand drauf, wenn sie noch nicht richtig wusste, was sie damit anfangen sollte und so unschuldig dabei war.
Die Tür wurde von einem alten, bebrillten Mann geöffnet, dem der Schweiß auf der Stirn stand und der gesenktem Hauptes davon eilte. Das Puppengesicht saß noch weiter hinten im Zimmer auf dem Bett. Als sie Harry sah, der ihr zugrinste, sagte sie, sie würde gleich wieder da sein und er solle sich schonmal auf das Bett setzen. Sie verschwand für fünf Minuten in einem Abstellraum, der zu einem Bad umfunktioniert wurde, um sich frisch zu machen. Währenddessen entkleidete sich Harry schonmal. Er wollte die teure Zeit, die er beim Zuhälter schon bezahlt hatte, nicht mit solchen Lapalien wie Ausziehen verschwenden. Sie kam wieder, sah, dass er schon nackt war, und zog sich auch gleich aus. Nach kurzer Besprechung ging es dann auch schon los. Harry konnte seinen Mund nicht voll genug bekommen und ihren nicht voll genug sehen. Er überzog und sie nahm ihm für die nicht abgemachte Zeit das doppelte ab, damit sie keinen Ärger von ihrem Zuhälter bekam. Am Ende ging sie sofort ins Bad, um sich zu waschen. Harry ruhte sich noch etwas auf ihrem Bett von seiner Himmelsfahrt aus und schaute sich im Zimmer um. Neben ihrem Bett stand ein kleiner Nachttisch mit einer schwachen Lampe darauf. In den Schubladen fand er Sexspielzeuge, Taschentücher, Lippenstift, Parfum, Mundspray und einen Brief. Neugierig, wie er war, nahm er den Brief in die Hand, faltete ihn vor sich auf und las:
Ich gehe am Strand lang
Wie jeden Abend
Und bleibe dort bist in die kalte Nacht
Bis die fernen Sterne mich blenden
Und das Rauschen des Meeres in den Ohren schmerzt
Jeden Abend denke ich mir eine Brücke zu den Sternen
Doch sie schmerzen
Mit blutenden Augen kehre ich um
Der kalte Wind nimmt mir den Atem
Das Meer beginnt vom Himmel zu fallen
Schwarze Flecken verdecken die Sterne
Nur der hellste bleibt, blendet, schmerzt
Ich liebe diesen Stern, sein Licht soll allein in meinem Herzen strahlen
Meine Hände bluten
Jeden Abend
Wie jeden Abend
Und bleibe dort bist in die kalte Nacht
Bis die fernen Sterne mich blenden
Und das Rauschen des Meeres in den Ohren schmerzt
Jeden Abend denke ich mir eine Brücke zu den Sternen
Doch sie schmerzen
Mit blutenden Augen kehre ich um
Der kalte Wind nimmt mir den Atem
Das Meer beginnt vom Himmel zu fallen
Schwarze Flecken verdecken die Sterne
Nur der hellste bleibt, blendet, schmerzt
Ich liebe diesen Stern, sein Licht soll allein in meinem Herzen strahlen
Meine Hände bluten
Jeden Abend
gez.: Alexander
Harry belächelte den sentimentalen Mist und als seine neue Hure, man nannte sie Suse, ihn mit dem Brief in der Hand entdeckte, fuhr sie ihn außer sich vor Zorn an, riss ihm das Blatt Papier aus der Hand, drückte es an ihre nackte Brust und befahl im das Zimmer augenblicklich zu verlassen, du Schwein.