8 Minuten
08.13 Uhr
Nein, bitte nicht schon wieder die Frage nach dem „Warum“!
Vielleicht brauche ich einfach einen Neuanfang. Vielleicht habe ich Angst, so wie all die anderen Versager hier zu enden, die es nie aus ihrem „Dorf“ geschafft haben. Langsam bin ich es leid. Und vor allem, seit wann muss ICH mich vor DIR rechtfertigen, nach allem was passiert ist?
Jedes Wort aus meinem Mund löst sich nur schwerfällig von meiner Zunge, mein Geist ist träge geworden wie ein Hamster, der die ganze Nacht lang in einem quietschenden Rad auf der Stelle gelaufen ist. Arrgh, meine Kopfschmerzen bringen mich noch um! Diese andauernden Befragungen führen nirgendwo hin.
Wenn mir nicht so schlecht wäre, würde ich meinen schwarzen Tee austrinken. Vielleicht hilft es schon, einfach daran zu riechen. Aber du lässt mir natürlich keine Zeit dazu, nicht mal dazu, sondern wechselst das Thema. Bohrst ganz ungeniert nach, wie es denn meinem Vater ginge. Womit er sich in seinem Ruhestand die Zeit vertreibe. Ob in seinem Vorgarten immer noch der hässliche Gartenzwerg stehe, von dem schon die Farbe abblättert. Dabei weißt du genau, dass mein Vater jede Veränderung, die über das Notwendigste hinausgeht, als unnötig abtut. Du weißt, dass
08.14 Uhr
ihn der Gartengnom an meine Mutter erinnert, weil sie ihn trotz seines Protestes einem Flohmarktverkäufer abgekauft hat. Auf dem Markt, der jeden Samstagmorgen hier um die Ecke stattfindet. Als sie den genannten Zwerg dann demonstrativ gut sichtbar in den Vorgarten gestellt hat, begann eine Auseinandersetzung ohne Worte. Zuerst verschwand der Gartenzwerg wie von Geisterhand in den Schuppen, kurze Zeit stand er genauso klammheimlich bewegt wieder vor dem Haus. So ging es dann fast genau zehn Wochen weiter, bis entweder mein Vater das längere Durchhaltevermögen zeigte oder, anders betrachtet, meine Mutter das weniger kindische Verhalten. Von da an setzte der Zwerg in einer dunklen Ecke Spinnweben an. Sie haben aber seit dem Tag auf dem Flohmarkt nie wieder darüber geredet.
Interessiert es dich wirklich, ob meine neuen Kollegen nett sind?
08.15 Uhr
Immerzu schaut sie auf die Wanduhr, ihr gegenüber. Ihr regloses Gesicht und die tief eingekerbten, ungesund bläulichen Ringe unter ihren Augen lassen vermuten, dass sie letzte Nacht kein Auge zugetan hat. Ich auch nicht.
„Also, es wäre nett wenn du irgendwann anrufst und mir deine neue Nummer gibst. Möchte dich nicht belästigen, aber du weißt ja, im Falle des Falles…“
Ich versuche, möglichst easy-going und kollegial zu klingen. Als ich mich selbst reden höre, finde ich meinen Tonfall eher lächerlich. Vom Inhalt ganz zu schweigen.
„Ja, mach ich. Am besten schreib ich sie gleich auf, sonst vergesse ich das bestimmt.“
Ich kann nicht ausmachen, ob sie unhöflich oder desinteressiert ist. Aber was habe ich erwartet? Seit drei Monaten haben wir uns nichts mehr zu sagen gehabt, außer der allmorgendlichen Begrüßung und dem allabendlichen Abschiedswinken, ein paar unwichtige Höflichkeitsfloskeln hinzugerechnet. Und sie hat objektiv betrachtet allen Grund, mir aus dem Weg zu gehen. Wieso habe ich mich dann eigentlich entschlossen, ein letztes Mal vorbeizukommen? Ach ja, richtig. Um Abschied zu nehmen, der ganzen Sache wenigstens einen eleganten Schluss zu geben. Einer meiner großen Fehler – ich weiß nicht, wann ich eine Angelegenheit auf sich beruhen lassen sollte. Warum nicht einen Deckel überstülpen und einfrieren? Wahrscheinlich meldet sich da unterbewusst wieder einmal der zwanghaft neurotische Teil meines Gehirns, der findet, dass es nicht der richtige Deckel war. Der Teil,
08.16 Uhr
der Schuldgefühle auf ewig bunkert.
Wie verkrampft sie dasitzt und mit der linken Hand ihren Teebecher hin- und herdreht! Sie vermeidet meinen Blick, schaut immer noch ununterbrochen auf die Wanduhr.
„Wann kommt denn deine Schwester genau?“
Sie legt die Hände in den Schoß, setzt sich übertrieben und unbequem gerade hin. Dann überlegt sie es sich doch anders, steht mit einem Ruck auf und hastet Richtung Fenster.
„Eigentlich sollte sie seit sechs Minuten hier sein. Normalerweise ist sie auch pünktlich.“
Ihre Mimik ist immer noch starr, genauso wie ihre Bewegungen. Man kann förmlich spüren, wie unangenehm ihr meine Anwesenheit ist. Wie ein stakseliger Roboter schiebt sie mit der rechten Hand die Gardine zur Seite und starrt auf die Straße. Weit und breit keine Schwester und kein Auto, das entnehme ich ihrem enttäuscht-ärgerlichen Seufzer. Sie dreht sich um und setzt sich schwerfällig wieder mir gegenüber an den hölzernen Küchentisch. Ich muss mich räuspern, irgendwie sitzt mir ein Frosch im Hals.
„Ich habe noch etwas für dich“.
08.17 Uhr
Ein Geschenk? Ist das dein Ernst? Ich glaube, ich habe deine Konformität ganz gewaltig unterschätzt. Aus Schuldbewusstsein musst du erst unangemeldet hier aufkreuzen und mich verabschieden, und dann das! Dabei habe ich dich schon vor drei Monaten abgeschrieben, als sich dir die Büromatratze an den Hals geworfen hat und du nicht „Nein“ sagen konntest. Hättest du auch nicht gemusst – ein formloses Zur-Tür-Rauswerfen hätte mir persönlich auch genügt. Wegen dir kommt mir mein Leben wie ein Abklatsch eines schlechten Hollywood-Streifens vor. Wegen dir habe ich für eine Zeit lang nicht ruhig schlafen können. Früher konnte ich mit dir bis in die Morgenstunden über Gott und die Welt reden, jetzt bringst du den Zyniker in mir zum Vorschein.
Du durchwühlst deine Aktentasche und holst eine Karte hervor. Alle aus dem Büro hätten unterschrieben, sagst du. Was für eine reizende Karte! Chrysanthemen schmücken die Vorderseite, ein Schriftzug wünscht mir kitschvoll „Alles Gute!“. Bravo, jetzt hast du deine Pflicht mir gegenüber getan. Jetzt kannst du ruhig zu deinem Flittchen zurück gehen und ein sorgenfreies Dasein anfangen. Ohne mich. Ich kann es gar nicht erwarten,
08.18 Uhr
den ganzen Ballast meines alten Lebens loszuwerden. Alles hier erinnert mich an die Vergangenheit. Nur zwei Häuserblöcke weiter wohnt mein alter Vater immer noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Noch eine Ecke weiter befindet sich der Spielplatz, auf dem wir früher jeden Tag zusammen gespielt haben. Vielleicht nicht jeden Tag, aber es kommt mir so vor. Als Studentin bin ich noch täglich an dem hässlichen Gartenzwerg vorbeigeradelt.
Ach, mein Vater! Nach dem Tode meiner Mutter hat er den Zwerg entstaubt und wieder in den Vorgarten gestellt. Als ob ihm im Nachhinein vieles leid täte und er meiner Mutter einen letzten „Sieg“ zugestehen wolle. Nur ich weiß von dem Streit um den Gartenzwerg, vielleicht will er mir wortlos mitteilen, wie sehr er meine Mutter immer noch respektiert. Einerseits kommt es mir schwachsinnig vor, andererseits liebe ich meinen Vater für diese Geste.
Ohne Zweifel - ich muss aus diesem vorbelasteten, verkorksten Umfeld verschwinden, um endlich wieder einen klaren Gedanken fassen zu können! Und Themen zu recherchieren, die die Welt bewegen, ohne immer wieder aus den Augenwinkeln dein Gesicht an meinem Büro vorbeihuschen zu sehen.
08.19 Uhr
Es klingelt an der Tür.
Wie erwartet springt sie sofort auf und geht so schnell, wie man nur gehen kann, ohne zu rennen. Richtung Ausgang. Ich stelle mich auf einen leichten Tinnitus ein, stecke mir gedanklich die Zeigefinger in beide Ohren.
„HAALLOO! Tut mir Leid, dass ich so spät dran bin. Stau wäre jetzt gelogen, ich habe einfach getrödelt. Tut mir Leid. Hast du alles beisammen? Warte mal, was macht DER denn hier?“
Susannes Augen weiten sich ungläubig, sie erstarrt, taxiert mich mit einem Anflug von Ekel und deutet vorwurfsvoll mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich.
„Schon okay, alles in Ordnung. Er wollte mir nur eine Abschiedskarte aus dem Büro vorbeibringen.“
„Ach.“
Susanne würdigt mich demonstrativ keines weiteren Blickes. Es stört mich nicht im Geringsten. Ihr lautes Wesen war für mich schon immer so angenehm wie das Geräusch von langen Fingernägeln, die an einer Tafel entlangkratzen.
„Zwei Koffer, sonst nichts?“
08.20 Uhr
„Alles andere ist verkauft oder wird vom Nachmieter übernommen – oder verkauft. Das ist schon geregelt, mach dir keine Sorgen.“
Sie schüttet den kalten Inhalt ihres Bechers ins Spülbecken und stellt das Geschirr kopfüber hinein. Wie kann man ein Haus nur so unausgeräumt, so fluchtartig hinterlassen? Ganz in Zeitlupe dreht sie sich langsam zu mir um. Schaut mich eingehend an, verschränkt die Arme vor dem Körper, wartet darauf, dass ich die passenden Worte finde.
„Die Nummer…“
„Ach ja, genau, die wollte ich dir noch aufschreiben. Susanne, hättest du mal...?“
Ohne ein Wort zu sagen zückt diese mit einer gekonnten Geste einen DIN A6-Block sowie einen Kugelschreiber aus ihrer Lederjackentasche hervor. Sie nimmt es an sich, lehnt sich auf die Mahagoni-Einbauküche und kritzelt lieblos Zahlen hin, beeilt sich.
Diese Küchenuhr ist wirklich hässlich. Wie können die Nachmieter solch einen Albtraum nur übernehmen?
„Das Flugzeug wartet nicht auf mich, weißt du. Wir müssen los.“
Natürlich habe ich den offensichtlichen Wink mit dem Zaunpfahl schon lange verstanden. Aus irgendeinem Grund erhebe ich mich aber erst jetzt, stehe innerhalb von drei Sekunden auf der Treppe vor der Haustür. Sie reicht mir den Zettel, hält soviel Abstand, wie sie nur kann. Die auf mich herunterblickenden Augen sprechen keine Bände, sind kläglich stumm. Ich nehme den Wisch an mich und verstaue ihn tief in meiner Hosentasche.
„Klingel einfach durch. Irgendwann.“
08.21 Uhr
Vielleicht rufst du an und wir finden heraus, dass wir uns doch noch etwas zu sagen haben.
Warum in aller Welt sollte ich sie eigentlich anrufen?