- Beitritt
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9½ Minuten
9½ Minuten
„...a kiss is just a kiss..“ Sam bediente sein Arbeitsgerät elegant-schlüpfrig wie immer. Die Bergmann spitzte ihren schwarzweißen Erdbeermund zu einem frivolen Lächeln, auf dessen unverholene Bedeutung meine Fortpflanzungsorgane längst reagiert hatten, als mein Großhirn noch seine Koordinaten berechnete. Das Lächeln war nicht frivol im heutigen Sinne, eher süffisant, doch hier in Casablanca war es die pure Sünde. Doch plötzlich...jäh...Fliegeralarm! Dieses ohrenbetäubende Geräusch! Mööök! Mööök! Das mussten Stukas sein.
Mein Großhirn ignorierte die Bergmann, konstatierte, dass irgendeine verschüttete Datei besagte, deutsche Sturzkampfbomber hätten nie Luftangriffe auf Marokko geflogen, sortierte seine operativen Parameter und stellte mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit fest, die lästige Kakophonie könne nur von meinem Wecker kommen, den ich bei Atzert für 9.90DM preisgünstig erstanden hatte. Mööök! Mööök! Zähflüssig stellte meine kalt gestartete Denkmaschine ein Minimum an Synapsenverbindungen her und ich registrierte, dass heute Mittwoch war. Nicht irgendein Mittwoch, Nein! Heute war der Mittwoch, den ich mir schon vor 3 Wochen im Kalender angestrichen hatte. Der Mittwoch, vor dem mir schon seit 3 Wochen graute. Der Mittwoch, an dem ich um 7 Uhr aufstehen musste. 7 Uhr! Eine knappe Stunde vor dem statistischen Zu-Bett-gehen! Um 9 Uhr hatte ich ein Interview zu führen. Sehr wichtig für die Recherche meines Buches, doch leider am anderen Ende der Stadt.
Aber war es wirklich wichtig genug, um um 7 Uhr aufzustehen? Konnte ich mir die notwendigen Fakten nicht irgendwo im Internet runterladen? Eine beschwichtigende Gehirnwindung – ich nenne sie die Kompromisssynapse – sprach beruhigend auf mich ein und veranlasste meine willenlose Hand, auf die Schlummertaste zu drücken.
Das Lächeln der Bergmann. Nach außen wirkte es distinguiert. Doch den wissenden Betrachter forderte es auf, sie zu nehmen – gleich hier auf dem Leopardenfell. Ich fletschte kurz meine Zähne, um ihr zu demonstrieren, dass ich ein Wissender war, zog mir den Hut noch tiefer in die hohe Stirn und flüsterte: „Mööök! Mööök!“
Ich musste um 9 Uhr da sein. Dazu sollte ich spätestens um 8 Uhr losfahren. 9 ½ Minuten waren seit dem letzten Blöken meines Scheißweckers vergangen. 7.19 Uhr reichte dicke. Noch bevor meine linke Hemisphäre diese Berechnungen angestellt hatte, hatte meine rechte den linken Arm veranlasst, die Schlummertaste erneut zu betätigen.
„You must remember this: A kiss is just a kiss...“ Der Song ging mir auf die Nerven. Ich wollte die Bergmann, welche sich mittlerweile im schwarzledernen Schnürkorsett vor dem Kamin rekelte. Oder war es bordeauxrot? Hab‘ ich nie herausgefunden. Als traditionsbewusster Mensch träumte ich die Szene in schwarzweiß. Ihr Augenaufschlag ließ meinen Humphrey schwellen, der Beginn einer wunderbaren... Mööök! Mööök!
Gut 9 Minuten mal 3? Wer hat sich diese bescheuert krumme Zahl einfallen lassen? 10 Minuten. Ja, 10 Minuten, das wärs! Das könnte sogar Verona im Tiefschlaf addieren. Aber Nein, es müssen ja 9 Minuten sein... oder 8...
Während meine rechte Hemisphäre noch über diesem Umstand schmollt, hat meine linke bereits „‘ne halbe Stunde“ errechnet und meinen rechten Arm auf die Schlummertaste krachen lassen.
Ich werfe den Hut in die Ecke, lockere meine Kravatte und falle vor der dahin Gegossenen in die Knie, um mein stoppeliges Schmunzeln in ihrem atemberaubenden Dekolleté zu versenken. Was für ein Berg, Mann! Ich inhaliere den berauschenden Duft ihrer Kaktusblüte und möchte ihr am liebsten auf der Stelle eine kleine Rosselini machen. Ich bin gespannt wie Hitchcock und mein Billy wird immer Wilder. Mööök! Mööök! Sam grinst sein idiotisches Schuhputzergrinsen: „...as time goes by...“ Diese verdammten Nazis!
Ich gehöre nicht zu diesen fröhlichen Frühaufstehern, die dich Nachts um 7.30 Uhr im fröhlichen Teletubby-Ton belehren, das Frühstück sei die wichtigste Mahlzeit des Tages. Wenn ich um diese Uhrzeit aufstehe, hasse ich die Welt. Ich verfluche den wolkenlosen Himmel, und sollte irgendein beschissener Vogel es wagen, lustig zu zwitschern, dann versuche ich, mich zu erinnern, was eigentlich aus meinem Luftdruckgewehr geworden ist...
Mein Frühstück besteht grundsätzlich aus Zigaretten und schwarzem Kaffee. Sollte mich jedoch mein Schicksal zwingen, diese geballte Vitaminladung vor 14 Uhr einnehmen zu müssen, dann werde ich grantig, denn das verträgt mein Eulenmetabolismus nicht. Für eine nachtaktive Spezies wie mich ist das Tierquälerei.
Dementsprechend froh gelaunt setzte ich mich einer kalten Dusche, einem frisch gereinigten Anzug, der an den Eiern klemmte, und gnadenloser UV-Strahlung eines kleinen gelben Zwergsterns aus, dessen Licht selbst durch 8 Lichtminuten Entfernung und eine dunkle Sonnenbrille mein Zerebrum zu foltern vermochte. Nach kurzem aber zumutendem Fußmarsch fand ich mich in der U-Bahn wieder. In Berlin fahren die Züge um diese gottlose Uhrzeit im 1 ½ Minuten-Takt, wohl wissend, dass eine längere Wartezeit bei den über 3 Millionen gestressten Misantrophen dieser schönen Stadt unweigerlich einen Volksaufstand auslösen würde. Die Toleranzschwelle des Großstädters ist früh morgens sehr gering. Ein Grund, warum die Busker den morgendlichen Berufsverkehr meiden. Schon mal versucht, „How many roads...“ mit dem Gitarrenhals im Arsch zu spielen?
Eigentlich ist die U-Bahn eine Horrorshow. Seelenlose, Plastiktüten tragende Zombies starren stumpf vor sich hin. Dennoch – in dieser ungewohnten Stunde vermag ich eine gewisse geistige Verwandschaft mit den verschlafenen Frustfratzen zu empfinden. Wir sitzen im selben Zug, sind den selben Fliehkräften ausgesetzt und der selben Willkür des ewigen Rades der Reinkarnation. Unser stupider Gesichtsausdruck vereint uns. Ich fühle mich geborgen.
Und schlafe durch bis zur Endstation.
„Sie müssen aussteigen, junger Mann...“ Ich fahre hoch, packe den Beamten am Revers, stiere ihn wild aus blutunterlaufenen Augen an und brülle: „Ingriiiid!“
Ich habe mir dann ein Taxi gegönnt.