- Beitritt
- 10.07.2002
- Beiträge
- 807
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
A star is born
A star is born
Judas betrat die Garderobe und schlug die Tür krachend hinter sich zu.
„Was ist, bist du endlich soweit?“
„Moment, Moment – gleich hab ich’s“, antwortete Jesus. Er saß auf einem nach hinten gekippten Stuhl, die Füße auf dem Tisch und starrte an die Decke.
„Mann, das hast du schon vor einer halben Stunde gesagt. Da draußen tobt der Mob. Fünftausend hungrige Girlies. Die wollen Blut sehen. Entweder du fütterst sie, oder sie fressen dich bei lebendigem Leib.“
„Schick die Vorgruppe raus.“
„Die Holy Trumpets of Jericho?“ Judas lachte freudlos. „Die waren schon auf der Bühne. Nachdem sie mit ihrem Krach fast die Klohäuschen zum Einsturz gebracht hatten, wurden sie von den Ordnern in den See geschmissen.“
„Kann ich mir gut vorstellen. Die Heaven Devils verstehen einfach keinen Spaß“, sagte Jesus, während er mit dem Stuhl hin- und herwackelte.
„Wo liegt dein Problem, Mann?“, fragte Judas. „Willst du warten, bis die Tussis die Garderobe stürmen?“
„Ich hab die verdammten Riffs verloren.“
„Du hast was?“
„Ich kann mich nicht mehr an die Riffs erinnern“, antwortete Jesus. Er zuckte mit den Schultern, schaute Judas lange an, zuckte nochmals mit den Schultern und starrte wieder zur Decke.
„Dann lass den Song einfach weg“, sagte Judas.
„Ich hab alle Riffs vergessen. Alle gottverdammten Riffs von allen gottverdammten Songs“, brüllte Jesus und schlug mit der Faust auf den Tisch. Myriaden von Staubkörnern tanzten im flackernden Licht der Kerzen.
„Beruhige dich. Das ist Lampenfieber, sonst nichts“, sagte Judas mit ruhiger Stimme.
„Lampenfieber? Kenn ich nicht. Hab ich noch nie gehabt“, sagte Jesus.
„Bisher hast du ja auch nur in drittklassigen Bars gespielt. Das hier ist ne Nummer größer.“
„Ich hab mich in drittklassigen Kneipen wohlgefühlt. Aber du, du musstest ja unbedingt einen Superstar aus mir machen. Wie sich das schon anhört: Jesus Christ Superstar. Lächerlich.“ Jesus griff nach seiner Gitarre und schrammelte ein paar Akkorde.
„Aber die Plattenverträge hast du gerne unterschrieben. Und die Kohle fandest du auch nicht lächerlich. Oh, Mann. Hätte ich nur auf den ollen Petrus gehört. Dann wäre ich heute noch Fischer, hätte ein ruhiges Leben und müsste mich nicht mit diesen Halbidioten aus dem Showbiz abgeben.“
„Lass mich bloß mit Petrus in Ruhe. Der ist doch zu doof, um einen Fisch zu frittieren.“
Judas kramte einen Lederbeutel aus seinem Kaftan und fing an, eine Tüte zu drehen.
„Zieh dir das mal rein. Echte Myrrhe aus Äthiopien. Das beruhigt.“
„Ich muss mich nicht beruhigen. Ich bin die Ruhe selbst“, brüllte Jesus, griff aber dennoch nach der Tüte. Er inhalierte, hielt den Rauch lange in der Lunge und ließ ihn stoßweise wieder raus.
„Gut, das Zeug“, sagte er und griff wieder nach der Gitarre.
„Was ist jetzt?“, fragte Judas nach einer Weile.
„Und dann diese Scheiße mit meinen Eltern.“ Jesus hörte auf zu spielen, brüllte wieder.
„Was ist mit deinen Eltern?“, fragte Judas.
„Nix ist mit meinen Eltern. Aber du musstest ja unbedingt das Gerücht streuen, meine Mutter hätte mich jungfräulich auf die Welt gebracht. Was für ein verdammter Bockmist. Ich kann mich zuhause nicht mehr sehen lassen.“
„Die Zeitungen stehen auf so was. Erhöht die Auflage. Hätte ich ihnen die Wahrheit sagen sollen? Dass dein Alter seine Haushaltshilfe genagelt hat und du unehelich auf die Welt gekommen bist. Hätte dir das gefallen?“
„Lass meine Eltern in Ruhe. Es reicht, wenn du mich durch den Dreck ziehst.“
„So funktioniert das Showbusiness. Wie oft muss ich dir das noch erklären?“
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und mehrere Legionäre stürmten die Garderobe. Jesus und Judas sprangen von ihren Stühlen auf.
Ein Hauptmann trat vor und fragte: „Welcher von euch ist Jesus Christus?“
Judas zeigte auf Jesus.
„Mitkommen. Du bist verhaftet.“
Jesus rührte sich nicht.
„Was wirft man ihm vor?“, fragte Judas.
„Er hat gesagt, er sei bekannter als Pontius Pilatus.“
„Was habe ich gesagt?“
„Ruhig, Jesus, ich regele das.“
Judas trat zu dem Hauptmann und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Hauptmann schüttelte seinen behelmten Kopf. Judas gab nicht auf, gestikulierte mit beiden Händen, während er weiter leise auf den Hauptmann einredete. Schließlich sagte der Hauptmann: „Aber nur fünf Minuten.“ Dann gab er seinen Männern ein Zeichen und sie verließen die Garderobe.
Jesus setzte sich. Er zitterte. Judas trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Was soll das?“, fragte Jesus.
„Nun, du hast behauptet, du wärst bekannter als Pontius Pilatus“, sagte Judas. „Pilatus ist der Statthalter Roms in Jerusalem.“
„Ich weiß, wer Pilatus ist“, schrie Jesus.
„Schrei nicht so, um Gottes Willen“, sagte Judas und schaute ängstlich zur Tür.
„Ich weiß, wer Pilatus ist“, flüsterte Jesus
„Aber das habe ich nie behauptet“, fügte er nach einer Weile hinzu.
„So steht es aber in der Gaza Gazette“, sagte Judas, nachdem er sich gesetzt hatte. Er schaute auf seine Fingernägel, als könne er dort das Interview nachlesen.
„Aber ich habe nie mit einem Reporter der Gaza Gazette... Hey, das warst du. Du hast doch letzte Woche ein Interview gegeben. Hast du tatsächlich gesagt, ich sei berühmter als PP?“
„Ja, tatsächlich könnte ich so etwas erwähnt haben“, sagte Judas und betrachtete weiter seine Fingerspitzen.
„Bist du bescheuert? Das ist schlimmer als Gotteslästerung. Der durchgeknallte Pontius hat Leute schon aus geringeren Gründen zum Tode verurteilt.“
„Langsam, langsam. Setz dich wieder. Wir haben nicht viel Zeit. Lass uns überlegen, wie wir das beste aus dieser Situation machen.“
„Wie wir...?“ Jesus stützte sich mit der linken Hand auf dem Tisch ab und fuchtelte mit der rechten vor Judas’ Gesicht. „Du hast uns in diese Scheiße reingeritten, du bringst uns da gefälligst wieder raus.“
„Hey, Mann, das war ein genialer Marketingtrick. Jetzt bist du in aller Munde. Was glaubst du eigentlich, warum da draußen wildgewordene Teenager Plüschlämmer und Dornenkränze auf die Bühne werfen? Du bist berühmt!“
„Was interessieren mich Plüschlämmer und Dornenkränze, wenn ich demnächst den Löwen im Zirkus zum Fraß vorgeworfen werde“, knurrte Jesus und griff nach Judas’ Kaftan. Er zog Judas vom Stuhl hoch und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
„Zack! Und jetzt noch die andere Seite. Und wieder Zack!“
Judas riss sich los, rieb sich das knallrote Gesicht.
“Hör auf. Wenn wir uns prügeln, bringt uns das auch nicht weiter. Ich schlage vor, du gehst jetzt erst mal mit und ich kümmere mich um alles weitere.“
Kaum hatte er ausgesprochen, öffnete sich die Tür. Zwei Legionäre nahmen Jesus in ihre Mitte und führten ihn ab.
„Lass mich nicht hängen!“, schrie Jesus, als sie ihn durch die Tür zerrten. Nach wenigen Sekunden war das Getrappel der Sandalen verstummt, alles war still.
Judas setzte sich und rieb sich seine Wangen.
Dann schaute er sich suchend im Zimmer um. Neben dem Gitarrenständer entdeckte er eine Karaffe Rotwein. Er trank sie in einem Ansatz leer. Anschließend sprach er zu einem imaginären Publikum: „Judas Production proudly presents: The Kreuzigung. Starring Jesus Christ.” Und nach einer kurzen Pause, leiser, nachdenklicher: „Was für ein geiler Abgang. Das wird die Verkaufszahlen noch mehr ankurbeln."