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Ab nach Milte
Ab nach Milte
"Na, sowas“, staunte der Reinkarnations-Sachbearbeiter für die Buchstaben R bis S und runzelte seine Stirn. „Das ist ja ungewöhnlich.“ Auf seinem Schreibtisch türmte sich ein Berg Endlospapier. Ein Teil des Ausdrucks war über die Tischkante gerutscht und hing in langen Schleifen über den Rand seiner Dienstwolke. Immer noch sichtlich verwundert überflog er Blatt für Blatt und murmelte leise vor sich hin: „Milte, Milte, Milte, Milte“. Dann blickte er seinem Gegenüber ins nicht vorhandene Gesicht.
Herbert Siebenkötter hatte vor einer halben Stunde das Zeitliche gesegnet. Ein Landmaschinenvertreter hatte dem Agrarökonomen die Bedienung eines neuartigen Heuwenders vorführen wollen, und sich zuvor nicht ausreichend mit der japanischen Bedienungsanleitung des Gerätes vertraut gemacht. Ein paar bei der Vorführung konsumierte Gläser Warendorfer Schinkenhäger hatten zudem die Feinmotorik des Vertreters negativ beeinflusst. Und so war geschehen, was hatte geschehen müssen und unten auf der Erde, am Rande des tiefmünsterländischen Bauerndörfchens Milte, steckte nun der Kopf Siebenkötters in den Innereien einer Erntemaschine. Drumherum torkelte lallend ein sichtlich mitgenommener Landmaschinenvertreter und forderte das stoisch wiederkäuende Milchvieh vergeblich auf, dem Unfallopfer Erste Hilfe zu leisten.
Nächstes Mal würde Siebenkötter dem Vertreter keinen Schnaps mehr geben. Das war sicher. Aber jetzt saß er erst einmal seinem Schöpfer gegenüber – beziehungsweise dessen Sachbearbeiter für die Buchstaben R bis S.
Der Sachbearbeiter machte eine betretene Miene und blickte noch einmal auf den Computerausdruck in seinen Händen: „Offensichtlich haben wir es hier mit einer – hüstel, räusper – kleinen Datenverarbeitungspanne zu tun.“
Siebenkötter rutschte auf seinem Stuhl unruhig hin und her. So hatte er sich den Tod nicht vorgestellt. Eigentlich hatte er erwartet, von singenden Engeln direkt ins Elysium geleitet zu werden und fortan auf einer eigenen Wolke alte Bauernweisen zu intonieren oder mit dem Lieben Gott Doppelkopf zu spielen – stattdessen saß er nun schon seit einer halben Stunde auf diesem unbequemen Besucherstuhl und wusste nicht recht, was er von der Situation halten sollte.
„Wissen Sie“, flüsterte der Sachbearbeiter und wies mit Verschwörerblick auf einen jungen vollbärtigen Mann im Nadelstreifenanzug, der im Lotussitz neben dem Himmelstor saß und sich in einen Kaizen-Ratgeber vertieft hatte. „Seit der Sohn vom Boss im Vorstand neue Management-Methoden eingeführt hat, geht hier so einiges schief.“
Siebenkötter war an derlei Firmeninterna wenig interessiert. Er versuchte, demonstrativ gelangweilt dreinzublicken – was ihm allerdings nicht gelang, denn ihm fehlte noch immer der Kopf.
Der Sachbearbeiter fuhr fort: „Mit dem neuen Outfit für das Flugpersonal hätten wir uns sicher noch abfinden können.“ Dabei nickte er freundlich einem vorbeigehenden Engel in schwarzem Designeranzug zu, auf dessen Brust der Spruch „Die in – and find god“ prangte.
Der Engel erwiderte den Gruß, indem er sich lässig an die verspiegelte Sonnenbrille tippte. Der Sachbearbeiter wandte sich wieder Siebenkötter zu: „Aber das Joint-Venture mit Luzifer und das Outsourcing der gesamten IT an ein äußerst irdisches Unternehmen waren bedauerliche Fehler.“
Siebenkötter verstand nur Bahnhof.
„Um es kurz zu machen“, hob der Sachbearbeiter an: „Seit wir dieses Soul Warehouse Management verwenden, verschluckt sich unser Rechner ab und zu und spuckt verrückte Anweisungen aus. Sie zum Beispiel“ – und dabei deutete er dahin, wo einst Siebenkötters Kopf auf dessen Schultern geruht hatte – “müssen noch heute wieder in Milte reinkarnieren ...“
Siebenkötter fiel ein Stein vom Herzen. Vor seinem geistigen Auge hatte er sich schon in einem fremden Land wiedergeboren gesehen, dessen Sprache er nicht beherrschte.
„... und zwar gleich tausend Mal.“
Siebenkötter erschrak und protestierte: „Milte hat nur 127 Einwohner.“
„Und genau das ist Ihr Problem“, ergänzte der Sachbearbeiter und drückte einen kleinen Knopf auf seinem Schreibtisch, worauf sich unter Siebenkötter eine Falltür öffnete und dieser in die Tiefe sauste. „Beehren Sie uns mal wieder“ rief der Sachbearbeiter dem Landwirt noch hinterher. Dann verlor Siebenkötter das Bewusstsein.
Als Siebenkötter tausendfach wieder zu sich kamen, spielten sich seltsame Szenen in seinem Heimatdorf ab: Im örtlichen Wirtshaus saßen sich plötzlich zwei Dutzend Siebenkötters beim Skatspiel gegenüber und blickten sich verwirrt an, während auf dem Rasen vor dem Gemeindehaus zwei Hasen, die ebenfalls erkennbar die Gesichtszüge des Landwirtes trugen, ihre gerade eingeleitete Kopulation überstürzt abbrachen. Hinter der Schafweide, auf der eine riesige Herde Siebenkötters weidete und neben dem Schulgebäude, in dem die erste Klasse der Siebenkötters gerade das Alphabet erlernte, nahm Schlachter Piepenbrück – nun ebenfalls Siebenkötter – sein Bolzenschussgerät in die Hand und beförderte ein halbes Dutzend Siebenkötter-Schweine in den Himmel, wo sich diese erbost und laut quiekend um den Tisch des Sachbearbeiters R bis S versammelten.
Auch an den anderen Bearbeitungsplätzen wich die sonst himmlische Ruhe nun spürbarer Hektik. Die Seelen der von den Siebenkötters aus ihren Körpern vertriebenen Dorfbewohner forderten wütend ihre Rückversetzung auf die Erde. Zwei Hasen mit pelzigen Heiligenscheinchen vollendeten auf einem Seitenaltar ihren Liebesakt und erhöhten so die Zahl der zu verteilenden Seelen um ein weiteres Dutzend.
Derweil spuckte der Computer an Arbeitsplatz R bis S neue Arbeitsanweisungen aus und sandte auch die Siebenkötter-Schweine umgehend vertausendfacht auf die Erde zurück, von wo diese schon bald wieder mit erkennbaren Einschusslöchern in der Kopfgegend erneut vor ihren Schöpfer traten. Der Sachbearbeiter - bereits heftig ins Schwitzen geraten - sandte auch sie wieder tausendfach auf die Erde zurück, nur um sofort wieder von noch mehr Schweinen, Landwirten und Hasen umgeben zu sein.
Kaum drei Stunden später war der gesamte Erdball vollständig mit Siebenkötters bevölkert, während die bisherige Weltbevölkerung sich in langen Schlangen vor den Annahmeschaltern zusammenrottete und wüste Verwünschungen ausstieß. Selbst einige Unterteufel waren versehentlich durch Siebenkötters ersetzt worden, welche nun in den Tiefen der Hölle den Fürsten der Dunkelheit gut gelaunt in die Geheimnisse des westfälischen Hochzeitstanzes einführten und großzügig Pumpernickel an subalterne Seelenofen-Heizer verteilten.
Derweil hieb oben im Himmel ein aus dem Schlaf gerissener und unsanft seiner irdischen Hülle beraubter Papst wütend auf die Klingel des verwaisten Beschwerdeschalters ein und verlangte im Befehlston, sofort Gott zu sprechen.
Der aber blickte von seinem goldenen Thron aus fassungslos auf das unwürdige Schauspiel und warf seinem Sohn nur einen finsteren Blick zu. Dann erhob er sich und knurrte im Weggehen: „Scheiß-Computer. Ab morgen wird wieder mit Steintafeln gearbeitet.“