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Abendsonne
Michael wusste: Die Hölle existiert. Sie existierte für einen geliebten Menschen, in einem kahlen Raum, der nach Altenheim riecht.
Michaels Großmutter hatte vor sechs Monaten einen Schlaganfall. Vor einigen Jahren konnte er sich noch gut mit ihr unterhalten, doch nun war sie kaum noch in der Lage zu sprechen, geschweige denn sich zu bewegen. Durch mehrere epileptische Anfälle baute sie körperlich und geistig noch stärker ab. Dieser Verfall wurde möglicherweise auch dadurch beschleunigt, dass niemand außer Michael sie besuchte. Michael war sich sicher, dass sie das spüren konnte. Niemand sonst konnte oder wollte das Elend sehen. Wer geht schon freiwillig in die Hölle?
Auch Michael hatte früher oft überlegt, ob er seine Oma noch besuchen sollte. Der Anblick, wie sie in ihrem Bett lag, eingefallen und ohne Zähne schmerzte ihn jedes Mal erneut. Was war aus der starken Frau geworden, die gerne Fahrrad fuhr, schwimmen ging, verreiste oder sich mit Freunden zum Tanzen verabredete? Die Frau, die einst so aktiv war und Spaß am Leben hatte? Er hatte das Gefühl, diese Frau starb zusammen mit ihrem Ehemann vor gut zwei Jahren und es befand sich nur noch die leere Hülle in dem kleinen, kahlen Zimmer, von dessen Wand Familienangehörige fröhlich lächelten. Doch er erinnerte sich an die schöne Zeit, die sie als er noch ein Kind war miteinander verbracht hatten.
Wenn Michael seiner Großmutter in die Augen schaute, konnte er ihre Traurigkeit sehen. Blicke sagen doch mehr als tausend Worte es je könnten. Sie wollte nicht mehr in dieser Hölle dahinvegetieren und er wusste es. Als sie noch reden konnte, sagte sie zu ihrem Enkel: ,,Junge, falls ich nicht mehr kann wie ich will, dann will ich gar nicht mehr. Versprichst du mir das?’’ Und er hatte es versprochen, in der Hoffnung, dass es nie dazu kommen würde. Jetzt konnte sie nicht mehr. Es war soweit.
An einem Nachmittag im Frühjahr, die Sonne schien bereits warm, besuchte er seine Großmutter ein letztes Mal. In seiner Jackentasche hatte er das Paradies – einen Beutel mit Schlaftabletten. Mit schwerem Herzen öffnete er die Tür und betrat das Zimmer, in dem seine Oma wie schon so lange im Bett lag. Sie blickte aus dem Fenster, zumindest ruhte ihr Kopf in dieser Richtung, und bemerkte wohl nicht, dass Michael ins Zimmer kam. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: ,,Ich erlöse dich aus dieser Hölle. Ich habe es dir versprochen’’ Nun blickte sie ihn an. Hatte sie verstanden?
Michael nahm den Trinkbecher vom Nachtschrank und schüttete die Tabletten, die er bereits zu Hause zerdrückt hatte in das Glas. Dann füllte er es mit Apfelsaft. Den trank sie am liebsten. In verschieden Büchern und im Internet hatte er sich genau über die Wirkungsweise von trizyklische Antidepressiva informiert. Er hatte sich sogar mit einem alten Schulfreund, der Medizin studierte unterhalten. Alles nur rein informativ, hatte Michael versichert. Eine Träne lief ihm das Gesicht hinab, doch er hatte es versprochen und musste es tun, als er das traurige Geschöpf ansah war er sich sicher: Er wollte es tun. Sie wollte es auch. Langsam beugte er sich zu seiner Großmutter und setzte den Becher an ihre Lippen. Sie trank. Sie trank schnell. Sie trank mit Genuss. Dabei schaute sie ihren Enkel an. Kurze Zeit später war der Becher leer und Michaels Großmutter legte sich zurück. Währendessen lief Michael ins Bad und spülte das Glas gründlich aus. Danach nahm er sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Die Tabletten sollten bald wirken. Hoffentlich würde kein Pfleger in den nächsten Stunden das Zimmer betreten. Hoffentlich würde niemand etwas bemerken. Was sollte er tun, falls es auffällt, dass er sie ,,erlöst’’ hatte. Es war doch aber ihr Wunsch. Würde das Gericht eine solche Begründung akzeptieren? Darüber wollte er sich jetzt keine Gedanken machen. Er nahm die kalte, gealterte Hand seiner Großmutter und streichelte sie. Sie lächelte ihn an. Das war das erste Mal seit Monaten, dass er sie lächeln sah. Dann schloss sie die Augen und schlief mit einem kleinen Lächeln auf den schmalen, spröden Lippen ein. Michael wollte noch ein paar Minuten warten, bevor er ging. Er sah hinaus. Der Himmel war bereits rot gefärbt und die Abendsonne bereit unterzugehen. Einzelne Schleierwolken zogen am Himmel entlang.
Zum Abschied küsste er seine Großmutter ein letztes Mal. Auf dem Weg zum Ausgang traf er einen Pfleger, dem Michael, so schwer es ihm auch fiel, freundlich zu nickte. Traurig, auf eine andere Art aber erleichtert verließ Michael da Heim.
Die Abendsonne war bereits untergegangen