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Abendspaziergang

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13.07.2004
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Abendspaziergang

Schneeflocken fielen von Himmel, wirbelten herum, tanzten im Licht der Strassenlampen und glitten sanft zu Boden. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, dass jemand kleine Glitzerstücke über meinem Kopf ausgeschüttet hätte.
Es war schon ziemlich spät und ich lief immer noch draussen herum. Ich wollte nicht nach Hause, weil ich noch ein wenig die kühle Luft einatmen wollte und weil ich es liebte, den Schnee unter meinen Füssen zu spüren. So lief ich einfach weiter ohne ein Ziel zu haben.
Meine Gedanken glitten mir davon. Viele Erinnerungen und Gefühle kamen herauf, schlichen sich heran, glitten vorbei und verebbten irgendwo in der Dunkelheit. Ich fühlte mich ohne Identität. Kein Druck lastete auf mir, keine Ansprüche wurden an mich gestellt. Ich hätte irgend jemand sein können. Wen kümmerte das denn jetzt schon? Kümmerte es mich? Ich fühlte mich frei.
Ich sah sein Gesicht in jedem Mann, der an mir vorbei lief. Ich sah es in den Sternen und ich sah es im Wasser, welches ich erreichte, als ich die Strasse überquert hatte.
Ich nahm etwas Schnee auf und kostete davon. Kalt schmolz er auf meinen Lippen, bis er anfing flüssig zu werden und meine Kehle entlang glitt. Ich blieb stehen und stellte mir vor, er hätte mich geküsst.

 
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Hallo akasha!

Ich glaube, deine Protagonistin hat ihren Mann oder Freund verloren. Durch Trennung, Scheidung, Tod? Deine Geschichte verrät es nicht, was auch ihr gutes Recht ist.

Nach solch einem Verlust muss man Trauerarbeit leisten, die lange dauern kann und meistens schmerzlich ist. Ist sie abgeleistet, hat sich das Ich mit seinen Gefühlen von dem verlorenen Menschen gelöst, ist frei und kann eine neue Beziehung eingehen.

Deine Prot aber hat diese Trauerbarbeit nicht geleistet und sich nicht von dem Mann gelöst.

Sie will nicht in ihre Wohnung zurückkehren. Weil sie die kalte Luft liebt und gerne den Schnee unter ihren Füßen spürt? Oder macht sie sich da etwas vor? Zögert sie die Heimkehr zu sich heraus, weil die leere Wohnung sie wieder daran erinnern wird, dass er sie verlassen hat?

Sie nimmt ihn überall in ihrer Umgebung wahr. Er umgibt sie gleichsam liebend. Das erinnert an die Geborgenheit, die ja auch zu jeder Liebesbeziehung gehört.

In deiner Geschichte ist etwas, das mir Angst macht:

"Ich sah sein Gesicht ... im Wasser, welches ich erreichte, als ich die Strasse überquert hatte."

In poetischen Texten, Märchen oder Träumen ist etwas, das man überquert oder überqueren soll, meistens ein Fluss, Symbol für eine Grenze, die man überschreitet. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt oder man hat sich auf gefährliches Terrain, in eine Gefahr begeben.

Sie hat wohl solch eine Grenze überschritten, steht an einem Gewässer, in dessen Spiegel sie sein Gesicht sieht. Das Gesicht könnte sie ins Wasser locken, es erinnert mich an Goethes Gedicht "Der Fischer":

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
ein Fischer saß daran,
sah nach der Angel ruhevoll,
kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
teilt sich die Flut empor;
aus dem bewegten Wasser rauscht
ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
"Was lockst du meine Brut
mit Menschenwitz und Menschenlist
hinauf in Todesglut?
Ach, wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
du stiegst herunter, wie du bist,
und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,
der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Tau?"

Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll,
netzt ihm den nackten Fuß;
sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll
wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm,
da war's um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.

Hoffentlich leistet deine Prot doch noch ihre Trauerarbeit!
Atmosphärisch dicht erzählt!

Grüße gerthans

 

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