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Abgelaufen
Das Glöckchen an der Tür bimmelte. Endlich der erste Kunde. Frau Heinsle stellte die Dose Bohneneintopf ordentlich ins Regal, streifte ihre staubigen Finger an ihrem hellblauen Kittel ab und lief zur Kasse. Als sie um die Ecke des Backwarenregals bog, stand sie vor Herrn Beck, einem ihrer Stammkunden und langjährigen Nachbarn.
„Grüß Sie, Herr Beck! Heute schon wieder so zeitig unterwegs?“
Herr Beck blickte sie stumm an und atmete tief ein. Das ausgeblichene karierte Hemd spannte sich über seinen dicken Bauch. Die Ärmel hatte er schlampig hochgekrempelt. Seine verfilzte braune Hose hätte schon längst mal wieder gewaschen werden müssen. Heute hatte Herr Beck sich auch nicht wie üblich rasiert. Dadurch wirkte sein Gesicht in dem fahlen Neonlicht des kleinen Krämerladens noch grauer und ausgemergelter als sonst. Frau Heinsle lächelte ihn etwas mitleidig an und fragte dann freundlich:
„Soll ich Ihnen den leckeren Bohneneintopf schon an die Kasse stellen?“
Herr Beck brummte kurz und quetschte sich an Frau Heinsles fülliger Brust vorbei. Schlürfend ging er zum Regal und holte den Bohneneintopf selber heraus.
Inzwischen war Frau Heinsle hinter ihrer Kasse verschwunden und füllte das Zigarettenregal mit einigen Packungen auf. Dabei beobachtete sie Herrn Beck ständig kritisch aus den Augenwinkeln. Manchmal hatte er schon heimlich ein Päckchen Schnupftabak mitgehen lassen.
Diesmal schlich Herr Beck nur mit dem Eintopf zur Kasse und stellte sie energisch auf das schwarze Förderband. Viertel vor zwölf war es. Frau Heinsle konnte die Kirchturmuhr gegenüber von ihrem Laden immer gut sehen und wusste daher auch stets genau die Zeit. Nervös blickte sie auf die goldenen Zeiger. Bald würde sie den Laden schließen und das Mittagessen für ihren Mann kochen. Meistens schloss sie schon vor zwölf ab, denn wenn Eddi, so nannten alle im Dorf ihren Mann, sein Mittagessen nicht rechtzeitig serviert bekam, konnte er sehr wütend und ausfällig werden. Er scheute auch nicht davor zurück, seine Frau ab und an eine ordentliche Watschen zu verpassen.
Frau Heinsle wollte gerade den Eintopf in die Hand nehmen, um den Preis in die Kasse zu tippen, als Herrn Becks gichtgeplagten Finger die Konserve festhielten. Frau Heinsle schaute etwas erstaunt und fragte höflich:
„Herr Beck. Darf ich? Ich möchte den Preis ablesen und eintippen.“
Herr Beck räusperte sich laut. Sein übel riechender Mundgeruch breitete sich aus und Frau Heinsle rückte einen Schritt zurück. Sie vermied es ihr Gesicht zu verziehen. Herr Beck brüllte plötzlich los:
„Frau Heinsle!“, rief er. Seine Stimme zitterte ein wenig und ein paar Speicheltropfen flogen durch die Luft.
„Sie! Sie verkaufen abgelaufene Ware! Seit Jahren kaufe ich diesen Bohneneintopf!“ Bei dem Wort Bohneneintopf entwich Herrn Beck ein gewaltiger Rülpser.
„Gestern!“, schrie er weiter und seine Faust donnerte auf die Dose, „seit gestern weiß ich, dass Sie, Frau Heinsle, eine Betrügerin höchsten Grades sind!“
Frau Heinsle schluckte schwer. Tatsächlich hatte sie vor ein paar Jahren über einen freundlichen Großhändler den Sonderposten günstigen Bohneneintopf gekauft. Sie hatte damals auch von Herrn Becks kulinarischer Leidenschaft gewusst. Und sie hatte erfahren, dass Herr Beck alleine wohnte. Eine Ehefrau hätte den Betrug schon längst aufgedeckt.
„Aber Herr Beck ....“, stammelte sie.
„Kein aber mehr! Es hat sich aus-ge-a-bert! Sie! Sie wollten mich mit ihrer schlechten Ware umbringen!“
Er packte Frau Heinsle am Arm und zerrte sie hinter der Theke heraus. Schreiend versuchte sich Frau Heinsle zu wehren. Trotz seines fortgeschrittenen Alters, hatte der abgelaufene Bohneneintopf Herrn Becks Kräfte nicht schwinden lassen. Mit Schaum vor dem Mund brüllte er weiter:
„Jahrelang haben sie mich betrogen, hinters Licht geführt, mein Vertrauen missbraucht. Das sollen sie jetzt büßen!“
Er ließ Frau Heinsle los, war mit drei Schritten bei den Dosen und wischte mit einem Schlag alle Blechbüchsen vom Regal hinunter. Es schepperte fürchterlich. Frau Heinsle stand wie angewurzelt da. Mit einem zweiten kräftigeren Schlag arbeitete sich Herr Beck zu den Gläsern mit den eingelegten Kirschen und Pfirsichen vor. Glas für Glas zerplatzte auf dem Boden. Dabei rief Herr Beck ständig: „Abgelaufen! Abgelaufen! Abgelaufen!“
Als er die Marmeladengläser erreicht hatte, löste sich Frau Heinsle endgültig aus ihrer Starre. Ihre wulstigen Finger griffen nach der Bohneneintopfdose auf dem Förderband. Die erste Erdbeermarmelade knallte hinunter und ergoss sich blutrot auf dem grauen PVC-Boden. Frau Heinsle sah, wie sich der Hemdrücken von Herrn Beck vor lauter Schweiß langsam dunkel färbte.
Wie in Trance näherte sie sich Herrn Beck von hinten. Der Schweißgeruch drang in ihre empfindliche Nase. Sie musste unweigerlich an eine der abgelaufenen Bohneneintöpfe denken. Einmal hatte sie das Zeug auch probieren wollen. Einmal und nie wieder. Sie holte aus und schlug die Dose mit aller Kraft auf Herrn Becks Hinterkopf. Es knackte unappetitlich. Ohnmächtig sank er zu Boden. Stille breitete sich aus.
Ein merkwürdiger Geruch waberte durch den kleinen Dorfladen, eine Mischung aus Schweiß und eingelegten Kirschen. Die letzte abgelaufene Bohnenbüchse in der Hand, blickte Frau Heinsle erschöpft auf das Durcheinander. In diesem Moment wurde die Tür des Ladens aufgerissen. Das Glöckchen an der Tür klingelte aufdringlich. Eddi stürmte herein und brüllte:
„Wo ist mein Mittagessen? Schnitzel mit Erbsen und ...“ Weiter kam er nicht, da entdeckte er das Chaos vor den Regalen und die leblose Gestalt von Herrn Beck. Mit offenem Mund und einem dummen Ausdruck im Gesicht glotzte er seine Frau verständnislos an.
Frau Heinsle lief zum Kühlregal, schnappte sich ein Fertiggericht, fränkische Rouladen mit Kartoffelbrei und Rotkohl, drückte den feuchten Karton in Eddis Hand und verließ den Laden ohne ein weiteres Wort. Herr Beck drehte sich, während das Türglöckchen ein letztes Mal bimmelte, mühsam auf den Rücken und stöhnte mit verschmiertem Gesicht: „Abgelaufen.“